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Frosthauch über dem Brüsseler Gipfel

Ganze zweieinhalb Stunden nehmen sich die Spitzen der EU und Russlands füreinander Zeit

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Das 32. reguläre Gipfeltreffen der EU-Spitzen und Russlands, das am heutigen Dienstag in Brüssel stattfindet, wird mit Abstand das bisher kürzeste sein.

Das Essen am Vorabend der eigentlichen Konsultationen strichen die Gastgeber in Brüssel ganz, was die protokollbewussten Russen besonders kränkte. Und für die Verhandlungen selbst sind ganze zweieinhalb Stunden vorgesehen. Die indes können unendlich lang werden, wenn man sich nichts zu sagen hat oder es um Themen geht, von denen der jeweils andere weiß, dass er den Partner nicht einmal in Ansätzen für seine Haltung begeistern kann.

Genau das droht, wenn Kommissionschef José Manuel Barroso und Ratspräsident Herman van Rompuy am heutigen Dienstag Wladimir Putin gegenübersitzen.

Zwar nannte der außenpolitische Berater des russischen Präsidenten, Juri Uschakow, die EU unmittelbar vor dem Gipfel einen »strategischen und sehr wichtigen Partner«, der in Russland bisher immerhin Investitionen im Wert von 210 Milliarden Euro getätigt hat. Und Russland wickelt mit EU-ropa rund die Hälfte seines gesamten Außenhandelsumsatzes ab. Dessen Volumen wuchs in den letzten elf Monaten des Vorjahres erneut um 1,7 Prozent und belief sich Ende November auf stolze 276 Milliarden Euro. Moskaus Überschuss erreichte in diesem Zeitraum ein Plus von knapp 90 Milliarden Euro. Das hat vor allem mit den EU-Rohstoffimporten zu tun. Bei Gas deckt die Union ihren Bedarf inzwischen zu 44 Prozent in Russland, bei Öl zu 20 Prozent.

Nun geht es daher in Brüssel vor allem und zum wiederholten Male um Energie. Russland, sagt zumindest Präsidentenberater Uschakow, sei bereit zur »vertieften Zusammenarbeit« bis hin zur Schaffung eines »gemeinsamen energetischen Komplexes«. Im Gegenzug verlange Moskau aber die Liberalisierung des europäischen Energiemarktes. Mit den derzeitigen Regelungen bleiben russische Unternehmen vom lukrativen Geschäft mit Endkunden in Westeuropa ausgeschlossen.

Streit gibt es in diesem Zusammenhang auch um die geplante Gaspipeline »Southstream«, die von Russland durch das Schwarze Meer in die EU führen soll. Russland hat darüber bereits Verträge mit Bulgarien, Griechenland, Kroatien, Serbien, Slowenien, Ungarn und Österreich unterzeichnet, die jedoch nach Ansicht der Brüsseler Kommission mit dem EU-Recht unvereinbar sind, unter anderem deshalb, weil der Konzern Gasprom sowohl für die Leitung als auch für das durchströmende Gas verantwortlich zeichnet. Die EU verlangt die Trennung von Leitungsbetrieb und dem Gaslieferanten.

Für einen Durchbruch wäre bei diesem und anderen Dauerbrennern der politische Wille erforderlich – an dem es derzeit jedoch mehr denn je mangelt. Schuld daran sind vor allem Differenzen zu großen Problemen der internationalen Politik. Größter Stolperstein sind derzeit die Entwicklungen in der Ukraine. Brüssel wirft Moskau vor, die Unterzeichnung eines bereits paraphierten Assoziierungs- und Freihandelsabkommens beim Gipfel der »Östlichen Partnerschaft« Ende November in Vilnius hintertrieben und Kiew zur Mitarbeit an russischen Projekten zur Integration ehemaliger Sowjetrepubliken gedrängt zu haben. In Russland wiederum beklagt man, die seit Wochen andauernden Unruhen in Kiew würden vom Westen angeheizt und alimentiert.

Um die Wahl zwischen »Europa« und Russland, so glauben russische Experten, gehe es dabei nur zweitrangig. Bei den Krawallen entlade sich vielmehr der alte Gegensatz zwischen dem Westteil der Ukraine, der erst durch den Hitler-Stalin-Pakt 1939 sowjetisch wurde, und den Regionen im Osten und Süden mit großem russischen Bevölkerungsanteil. Der Konflikt drohe zum Bürgerkrieg zu eskalieren und alle staatlichen Strukturen unter sich zu begraben. Zwar ist angesichts der Schwäche der Gegner Putins wenig wahrscheinlich, dass der Konflikt auf Russland übergreift. Wohl aber fürchtet Moskau Instabilität und Chaos an seiner hochsensiblen Südflanke.

Russlands Ständiger Vertreter bei der EU, Wladimir Tschischow, riet führenden europäischen Politikern daher Ende letzter Woche, der Ukraine zu helfen, statt der Regierung in Kiew mit Sanktionen zu drohen. Dafür plädierte auch Putins Beauftragter für Menschenrechte, Wladimir Lukin. Russland und der Europarat könnten gemeinsam als Vermittler tätig werden, um die Krise in der Ukraine beizulegen, glaubt er. Dabei dürfe es jedoch nur um Konfliktmanagement gehen, nicht um Einmischung. Die USA dagegen wären als Mediator nicht geeignet. Wegen der großen Entfernung mache man sich dort ein falsches Bild von den Realitäten in der Ukraine.

Die Lage in Syrien und das weitere Vorgehen in den Verhandlungen über das iranische Atomprogramm stehen im außenpolitischen Teil ebenfalls auf der Tagesordnung des Gipfels in Brüssel. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton und Russlands Außenminister Sergej Lawrow werden mit am Verhandlungstisch sitzen.

Außerdem wollen beide Seiten die Suche nach Kompromissen für einen neuen Rahmenvertrag der EU und Russlands fortsetzen – das alte Grundlagenabkommen war bereits im Dezember 2007 abgelaufen und wird jeweils automatisch um ein weiteres Jahr verlängert. Auch über Visa-Erleichterungen für bestimmte Kategorien von Bürgern wird gesprochen werden. Die von Russland gewünschte generelle Visafreiheit will die EU nicht gewähren. Schließlich will Russland, das derzeit die Präsidentschaft in der G8-Gruppe innehat, mit den Brüsseler Spitzen auch über den nächsten Gipfel der weltweit führenden Industrienationen reden. Er findet Anfang Juni in Sotschi statt.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 28. Januar 2014


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