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Putin fest im Sattel

Blick auf Russland von innen: Sanktionen scharen Bevölkerung um den Präsidenten und werden zu keinem Politikwechsel führen. "Stratfor"-Chef George Friedman über seine in Moskau gewonnenen Eindrücke *


In der ersten Dezemberhälfte war der Chef des privaten US-amerikanischen Nachrichtendienstes »Stratfor«, George Friedman, zu Gesprächen in Moskau. Er traf sich mit US-, Westeuropa- und NATO-Experten russischer Thinktanks und des Außenministeriums sowie mit international operierenden russischen Geschäftsleuten und Studenten, um sich ein Bild von den wirtschaftlichen und politischen Erwartungen des Landes zu machen. »Stratfor« verdient mit politischen, ökonomischen und militärischen Risikoeinschätzungen sein Geld. Was die Berichte von westlichen Medien und Regierungsstellen unterscheidet, ist, dass sie die Lage weitaus weniger ideologisch verzerrt und manipuliert wiedergeben, denn die Kunden sind hauptsächlich die Abteilungen in den Großkonzernen, die strategische Investitionsentscheidungen zu fällen haben und deshalb eine realistische Grundlage für ihre Planung brauchen und keine nach politischem Gutdünken gefärbte. junge Welt dokumentiert eine gekürzte Fassung des Friedman-Berichtes in einer Übersetzung von Rainer Rupp.

Als ich ankam, dachte ich, die wirtschaftlichen Probleme Russlands würden in den Köpfen der Menschen alles andere verdrängen. Der Absturz des Rubels, der Rückgang der Ölpreise, eine allgemeine Abschwächung der Konjunktur und die Auswirkungen der westlichen Sanktionen scheinen aus westlicher Perspektive die russische Wirtschaft niederzuhämmern. Doch darum drehten sich meine Gespräche nicht.

Für die relative Ruhe trotz der finanziellen Situation gab es einen anderen Grund, und der sollte sehr ernst genommen werden. In den 1990er Jahren haben die Russen schrecklich unter Boris Jelzin gelitten. Allerdings auch unter früheren Regierungen. Trotzdem, und das haben etliche Gesprächspartner unterstrichen, haben sie alle Kriege gewonnen, die sie gewinnen mussten, und zugleich haben sie es geschafft, ein lebenswertes Leben zu führen. Jetzt herrscht in Russland die Meinung, dass das Goldene Zeitalter der vergangenen zehn Jahre zu Ende geht. Das sei zu erwarten gewesen und auch da würde man durchkommen. Die Regierungsbeamten sagten das als Warnung, und ich glaube nicht, dass es ein Bluff war.

Dreh- und Angelpunkt unserer Gespräche waren die Sanktionen, und die Absicht meiner Gesprächspartner war es, zu zeigen, dass Russland dadurch nicht zu einem Politikwechsel gegenüber der Ukraine genötigt werden wird. Die Stärke der Russen liegt darin, dass sie Dinge ertragen, die andere Nationen brechen würden. Und wenn die Russen sich bedroht fühlen, neigen sie dazu, ihre Regierung vorbehaltlos zu unterstützen, egal wie kompetent sie ist. Daher sollte niemand erwarten, dass Sanktionen, egal wie hart sie auch sind, zu einer Kapitulation Moskaus führen werden. Wenn dem so ist, dann geben sich Amerikaner und Europäer über die Auswirkungen ihrer Sanktionen Illusionen hin.

Mein Gefühl sagt mir, dass die Russen es ernst meinen. Das erklärt, warum die verschärften Sanktionen, der Absturz des Ölpreises, die Rezession und vieles mehr nicht zu der vom Westen erwarteten Erosion des Vertrauens in die russische Regierung geführt hat. Zuverlässigen Umfragewerten zufolge ist Präsident Wladimir Putin immer noch enorm populär. Ob er populär bleibt, wenn der wirtschaftliche Niedergang stärker zu spüren ist und ob dann Eliten gleichermaßen zuversichtlich bleiben werden, ist eine andere Sache. Aber für mich war die wichtigste Lektion, die ich in Russland vielleicht gelernt habe, dass die Russen auf wirtschaftlichen Druck nicht in gleicher Weise reagieren, wie das die Leute im Westen tun.

Präzedenzfall Kosovo

Bei der Ukraine-Frage stieß ich auf viel mehr Härte. Man gestand ein, dass die Entwicklungen dort einen Rückschlag für Russland darstellten und man nahm der Obama-Regierung übel, dass sie in ihrer Propagandakampagne Russland als den Aggressor darstellt. Zwei Punkte wurden regelmäßig unterstrichen. Erstens, dass die Krim ein historischer Teil von Russland und bereits vor der Krise vertraglich von russischem Militär dominiert war und dass es somit keine Invasion gab, sondern lediglich die Durchsetzung der Wirklichkeit. Zweitens gab es ein erhitztes Beharren darauf, dass die Ostukraine von Russen besiedelt ist und dass dort – ebenso wie in anderen Ländern – die Russen ein hohes Maß an Autonomie erhalten. Dabei wurde auch auf das kanadische Modell von Quebec verwiesen, das zeige, dass der Westen in der Regel keine Probleme mit regionaler Autonomie für ethnisch verschiedene Regionen hat, aber sich schockiert zeigt, wenn die Russen eine solche Form des Regionalismus ausüben wollen.

Der Fall des Kosovo ist für die Russen aus zwei Gründen extrem wichtig: Erstens, weil sie glauben, dass ihre Interessen dort missachtet wurden. Und zweitens, weil damit ein Präzedenzfall geschaffen wurde. Jahre nach dem Sturz der serbischen Regierung, die die Albaner dort bedroht hatte, hat der Westen dem Kosovo die Unabhängigkeit verliehen. Damit – so unterstrichen die Russen – wurden die Grenzen neu gezogen, obwohl es keine Gefahr mehr für das Kosovo gab. Russland wollte das verhindern, aber der Westen hat es trotzdem getan, weil er stark genug war, es zu tun. Nachdem der Westen in Serbien die Landkarte neu gezeichnet hat, hat er aus russischer Sicht nun nicht das Recht, einer Neuzeichnung der ukrainischen Karte zu widersprechen.

Strategischer Puffer

Aus russischer Sicht ist die Ukraine ein notwendiger strategischer Puffer. Ohne die Ukraine fühlt sich Russland mit einer erheblichen Bedrohung konfrontiert, wenn nicht jetzt, dann später. Als Beispiel wurde auf Napoleon und Hitler verwiesen. Denn beide Feinde wurden mit (strategischer, jW) Tiefe besiegt.

Ich versuchte, die strategische Perspektive der Vereinigten Staaten zu erklären, die das vergangene Jahrhundert mit der Verfolgung eines einzigen Ziels verbracht haben: In Europa den Aufstieg eines Hegemons zu verhindern, der in der Lage gewesen wäre, westeuropäische Technologie und Kapital mit russischen Ressourcen und Arbeitskräften zu paaren. Um eine entsprechende deutsche Hegemonie zu blockieren, intervenierten die USA 1917 im Ersten Weltkrieg und später wieder im Zweiten Weltkrieg. Im Kalten Krieg war es das Ziel, eine russische Hegemonie in Europa zu verhindern.

Daher habe das wiedererstarkte Russland in Washington die Erinnerung an den Kalten Krieg geweckt, und im aktuellen Fall ist die Angst vor Russland in der Ukraine nicht ganz unberechtigt. Wenn es Russland gelingt, seine Macht in der Ukraine zu festigen, was kommt dann als nächstes? Russland hat militärische und politische Macht, die beginnen könnte, nach Europa auszustrahlen und sich auszuwirken. Daher ist es für die USA und für einige europäische Länder nicht unvernünftig, ihrerseits in der Ukraine ihre Macht durchsetzen zu wollen.

Die Russen werden sich mit einem bestimmten Grad an Autonomie in Teilen der Ostukraine zufrieden geben. Wie viel Autonomie, weiß ich nicht. Sie brauchen eine deutliche Geste, um ihre Interessen zu schützen und ihre Bedeutung zu unterstreichen. Ihr Argument, dass regionale Autonomie in vielen Ländern existiert, ist überzeugend. Aber in der Geschichte geht es um Macht, und der Westen nutzt seine Macht, Russland in die Enge zu drängen. Doch jeder weiß, dass es nichts Gefährlicheres gibt, als einen Bären zu verwunden. Ihn zu töten, ist besser, aber Russland zu töten, hat sich in der Geschichte nicht als einfach erwiesen.

Ich kam mit zwei Erkenntnissen zurück. Eine war, dass Putin in seinem Amt sicherer ist, als ich dachte. Das hat nicht viel zu bedeuten. Präsidenten kommen und gehen. Aber es ist eine Erinnerung daran, dass Entwicklungen, die einen westlichen Führer zu Fall bringen würden, einen russischen möglicherweise unberührt lassen. Zweitens, die Russen planen keine Aggression.

Gleichzeitig hat sich meine allgemeine Analyse bestätigt. Was auch immer Russland an anderen Orten der Welt tun mag, für Russland ist die Ukraine von grundlegender strategischer Bedeutung. Selbst wenn der Osten einen Grad an Autonomie erhielte, würde Russland weiterhin zutiefst besorgt bleiben über die Beziehung der übrigen Ukraine zum Westen. So schwierig dies für Westler zu ergründen ist, die russische Geschichte ist eine Geschichte von »Puffern«. Pufferstaaten bewahren Russland vor westlichen Eindringlingen. Russland will ein Arrangement, in dem die Ukraine zumindest neutral ist.

* Aus: junge Welt, Montag, 29. Dezember 2014

Hintergrund: Moskaus neue Militärdoktrin

Präsident Wladimir Putin hat am 26. Dezember eine aktualisierte Version der russischen Militärdoktrin unterzeichnet, welche »die Entstehung von neuen Bedrohungen der nationalen Sicherheit reflektiert«. Darin werden zum ersten Mal seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder die NATO und die USA als größte äußere Bedrohungen der Sicherheit Russlands beim Namen genannt – sowohl wegen der militärischen Aufrüstung der Westallianz an den Grenzen Russlands als auch wegen der Destabilisierung einiger Regionen durch Washington. Zugleich wird kritisiert, dass die NATO und die USA für sich »globale Aufgaben« beanspruchen, die sie unter »Missachtung des Völkerrechts« verwirklichen.

Vor knapp zwei Wochen haben beide Häuser des US-Kongresses so gut wie einstimmig das »Gesetz zur Unterstützung der Freiheit der Ukraine« (Ukraine Freedom Support Act 2014) verabschiedet, welches die Lieferung von »tödlicher Hilfe«, also von Waffen aller Art, an die von Faschisten durchsetzte Regierung in Kiew legalisiert und Russland wegen seiner »Aggression« in schärfsten Tönen verurteilt. Anschließend hat Präsident Obama diesem kriegstreiberischen US-Gesetz mit seiner Unterschrift unverzüglich zur Gültigkeit verholfen. Angesichts dieser Provokation konnte eine russische Reaktion nicht lange ausbleiben. Mit der Aktualisierung der russischen Verteidigungsdoktrin hat Putin nicht – wie von den arroganten Abenteurern der US-Politelite erwartet – klein beigegeben, sondern diesmal NATO und USA explizit gewarnt, dass auf jede Aktion den Westens, in der Ukraine oder anderswo, eine proportionale russische Antwort folgen werde.

Zu den zentralen Punkten der neuen Doktrin gehört neben der namentlichen Nennung von USA und NATO als Hauptbedrohungen auch, dass erstmalig der Schutz der nationalen Interessen in der Arktis (Öl- und Gaslagerstätten und die sich durch Klimawandel neu öffnenden Transportwege) in die Prioritätenliste der russischen Streitkräfte aufgenommen wird. Die westlichen Destabilisierungsversuche in Russland selbst, die Destabilisierung von Anrainerstaaten entlang der Grenzen Russlands und der Einsatz von NATO-Truppen in diesen Ländern werden als ernste Bedrohung gesehen, ebenso wie der US-Raketenschutzschild und das US-»Global Strike«-Konzept, das vorsieht, für den sofortigen, weltweiten Einsatz Waffen permanent im Weltraum zu stationieren. Allerdings vermerkt die Doktrin auch, dass die Wahrscheinlichkeit eines großangelegten Kriegs gegen Russland zurückgegangen sei, dafür aber andere Sicherheitsrisiken weiter wachsen. (rwr)




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