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CSUler für den Frieden

Wilfried Scharnagl mahnt einen anderen Umgang mit Russland an *

Russlands Präsident Wladimir Putin ist schuld an der Eskalation im Ukraine-Konflikt, lautet einhellig das Diktum in der EU und in den USA. Schmarrn, hält nun das CSU-Urgestein Wilfried Scharnagl dagegen. »Mit der politischen Wirklichkeit hat diese Sicht der Dinge wenig zu tun«, schreibt der langjährige Chefredakteur des Bayernkurier (1977–2001) in seinem neuen Buch »Am Abgrund. Streitschrift für einen anderen Umgang mit Russland«, das in dieser Woche erscheint. »Das politische und militärische Geschehen um die Ukraine kann nur verstanden und in seiner Gefährlichkeit überwunden werden, wenn sich der Westen bemüht, auch die andere, die russische Seite zu begreifen«, mahnt der 76jährige. Es gehe ihm nicht darum, der »Anti-Putin-Einseitigkeit« eine »Pro-Putin-Einseitigkeit« entgegenzustellen, so Scharnagl. Er plädiere statt dessen für eine »Politik der Chancen« und Möglichkeiten zur Verständigung und fordert: »Weg von der antirussischen Einseitigkeit«.

Scharnagl macht einen »Urfehler« aus, den Europa und die USA begangen hätten, als das »sowjetische Imperium« – soviel CSU muss sein – zusammengebrochen sei. Der Westen hätte Verständnis dafür aufbringen müssen, dass die NATO-Osterweiterung »von Russland zwangsläufig als gefährliche Einkreisung gewertet werden musste«. Moskau habe über Jahre geduldig hingenommen, »dass Staaten des mittlerweile längst aufgelösten Warschauer Pakts – auch solche wie im Baltikum mit großen russischen Minderheiten – in die NATO wechselten. Zuviel wurde es Moskau, und zuviel musste es ihm werden, als sich auch die große Ukraine zum Marsch in die atlantische Allianz aufmachte.«

Notwendig sei eine Änderung der westlichen Politik im Ukraine-Konflikt. Scharnagl: »Bei der Ursachenforschung nach Krise und Krieg in der und um die Ukraine misst die vorherrschende und verbreitete öffentliche – besser vielleicht: veröffentlichte – Meinung Russland und seinem Präsidenten in der Regel die Alleinschuld zu.« Doch die Dinge seien »zu kompliziert, um nach einem einfachen Schwarzweißmuster bewertet zu werden«, so der Bayer, der für seinen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß jahrelang Schwarzweißpropaganda betrieben hatte. »Putin freizusprechen wäre verfehlt«, so Scharnagl. »Aber: In der dramatischen politischen Lage zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in dem von dem seit 1945 in Europa Undenkbaren wieder die Rede ist, von Kriegsgefahr und Krieg, deutet vielerlei darauf hin, dass Washington wieder strikt auf seine missionarische und weltpolizeiliche Linie zurückzufallen droht.« Und er warnt: Europa zu Waffenlieferungen in die Ukraine zu drängen, »das bedeutet, die Tür zu einem in seinen Folgen und in seinem Ausmaß unübersehbaren Krieg aufzustoßen«. (rg)

Wilfried Scharnagl: Am Abgrund. Streitschrift für einen anderen Umgang mit Russland. Berlin 2015, 186 Seiten, 19,90 Euro

* Aus: junge Welt, Montag, 18. Mai 2015


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