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Soziale Grausamkeiten

Felix Jaitner hat ein Buch über die Einführung der Marktwirtschaft in Russland verfasst

Von Gerd Bedszent *

Wenn man dem Getöse der bürgerlichen Medien in den letzten Monaten glauben dürfte, hätte man es bei dem russischen Präsidenten Wladimir Putin mit einem Wiedergänger von Stalin zu tun, und die Rote Armee wäre im Vormarsch auf Westeuropa. Die in den 1990er Jahren durchgesetzte kapitalistische Umgestaltung der russischen Wirtschaft wird im Zuge dieser Medienkampagne komplett ausgeblendet. Ebenso, dass weder Putin noch ein anderer russischer Staatsmann ernsthaft an den damals geschaffenen kapitalistischen Verhältnissen gerüttelt hat.

Im kürzlich vom VSA-Verlag herausgegebenen Buch »Einführung des Kapitalismus in Russland. Von Gorbatschow zu Putin« des Politikwissenschaftlers Felix Jaitner werden weder der derzeit tobende Wirtschaftskrieg des Westens noch die bewaffneten Auseinandersetzungen in der Ukraine thematisiert. Dem Autor geht es eher darum, die Geschichte der Zerschlagung der Sowjetunion und der sogenannten Reformpolitik Boris Jelzins wieder ins öffentliche Bewusstsein zurückzuholen.

Wie Jaitner schreibt, war das sowjetische Entwicklungsmodell anfangs durchaus eine Erfolgsgeschichte: Bis in die 1970er Jahre hinein wuchs die Wirtschaft kontinuierlich, die Versorgungslage verbesserte sich, die Sterblichkeitsrate sank. Eine schlüssige Begründung für die dann unter Breschnew einsetzende Stagnation liefert der Autor nicht, er weist nur darauf hin, dass die Sowjetunion infolge des eigenen Anspruchs, eine Alternative zum Kapitalismus darzustellen, im Zentrum geopolitischer Auseinandersetzungen stand.

Ausführlich belegt der Autor, dass in den sowjetischen Eliten zunehmend neoliberale Denkansätze auf fruchtbaren Boden fielen. Als krasses Beispiel zitiert er den sowjetischen Ökonomen Witali Naisul, welcher sich positiv auf den Diktator Augusto Pinochet bezog und sich für eine Umgestaltung der sowjetischen Wirtschaft nach chilenischem Vorbild aussprach. Eine hier eigentlich fällige theoretische Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus bleibt Jaitner allerdings schuldig – auch fehlt die Information, dass das angebliche neoliberale Wirtschaftswunder in Chile letztlich auf einer Mogelpackung beruhte.

Als zweite oppositionelle Strömung in der späten Sowjetunion nennt Jaitner den großrussischen Nationalismus. Deren Vertreter kritisierten volkswirtschaftliche Umverteilungen zwischen den einzelnen Unionsrepubliken und die finanzielle Stützung ärmerer Regionen durch die Moskauer Zentrale. Russland sollte allein den Gewinn seiner Rohstoffexporte in Richtung Westen einfahren, alle anderen Unionsrepubliken sollten ihren Verbrauch auf der Basis von Weltmarktpreisen bezahlen. Damit fanden die Nationalisten eine gemeinsame Sprache mit den Neoliberalen, denen jede Form von Staatsinterventionismus und volkswirtschaftlicher Umverteilung ein Greuel ist.

Jaitner schreibt weiter, dass Gorbatschow soziale Unruhen befürchtete, daher vor einer vollständigen Umsetzung neoliberaler Reformvorschläge zurückschreckte. Jelzin, der als Folge des August-Putsches von 1991 die Macht an sich riss, kannte solche Ängste nicht. Die Schocktherapie von 1992 bis 1994 brachte dann allerdings nicht den prognostizierten wirtschaftlichen Aufschwung, sondern eine massive Verelendung großer Teile der russischen Bevölkerung, während eine Minderheit sich mit mehr oder weniger kriminellen Methoden schamlos bereicherte. Die ökonomischen Brüche nach der Auflösung der Sowjetunion riefen auch eine massive Verarmung der meisten gerade unabhängig gewordenen Republiken hervor.

Einen Großteil des Buches nehmen Schilderungen des volkswirtschaftlichen Desasters ein, zu dem die mittels militärischer Gewalt erzwungene Fortführung des neoliberalen Reformprogramms führte. Im August 1998 war der russische Staat zahlungsunfähig. Erst zu diesem Zeitpunkt, schreibt Jaitner, reifte bei den russischen Eliten die Erkenntnis, dass nur eine funktionsfähige staatliche Ordnung wirtschaftliches Wachstum garantieren kann. Der neue Staatsinterventionismus, als Kompromiss zwischen Regierung und Oligarchen, beendete die Dauerkrise, sorgte dafür, dass die russische Wirtschaft sich wieder erholte und auch das Lebensniveau der Bevölkerung etwas anstieg.

Das Fazit des Buches fällt widersprüchlich aus. Der Autor hat anhand des von ihm zusammengetragenen Faktenmaterials den Neoliberalismus als Leitfaden für Privatisierungsorgien und soziale Grausamkeiten der russischen Eliten ausgemacht und dessen ideologisches Scheitern eindeutig konstatiert. In diesem Zusammenhang wird auch das Einhergehen von Wirtschaftskrise und hochkochendem Nationalismus beschrieben. Der ab 1994 tobende Krieg in Tschetschenien sei beispielsweise eine unmittelbare Folge der neoliberalen Schocktherapie gewesen.

Zutreffend verweist der Autor auf die Heuchelei westlicher Politiker, welche Kriegsverbrechen von Jelzins Militärs tolerierten, um den oppositionellen russischen Kommunisten nicht in die Hände zu spielen. Eine detaillierte Analyse der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und dem Westen liefert Jaitner dabei aber nicht. Er kritisiert heftig die autoritäre Politik der letzten russischen Regierungen und meint, als Ergebnis der unter Gorbatschow begonnenen Perestroika sei eine reformierte Sowjetunion als wirtschaftliche Alternative sowohl zum westlichen Liberalismus als auch zu kapitalistischen Entwicklungsdiktaturen möglich gewesen. Sein Buch steuert allerdings kaum Material bei, welches diese These belegt.

Felix Jaitner: Einführung des Kapitalismus in Russland. Von Gorbatschow zu Putin, VSA-Verlag, Hamburg 2014, 174 Seiten, 16,80 Euro

* Aus: junge Welt, Montag, 29. Dezember 2014


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