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Das Jahr der Eskalation

Jahresrückblick 2014. Heute: Russland und der Westen 2014. Ukraine-Krise gefährdet die Interessen Moskaus

Von Reinhard Lauterbach *

Es gibt eine Aussage über das Verhältnis zwischen Russland und dem sogenannten Westen, die unabhängig vom eingenommenen politischen Standpunkt unstrittig sein dürfte: 2014 war ein Jahr, in dem sich die Beziehungen zwischen Russland und den imperialistischen Zentren in Washington und Westeuropa dramatisch verschlechtert haben. Die im Westen gepflegte Darstellung besagt, Moskau sei an dieser Verschlechterung schuld, weil es mit der Übernahme der vormals ukrainischen Krim die »Nachkriegsordnung in Europa« umgestoßen und die territoriale Integrität der Ukraine verletzt habe. Moskau verfolge, so fasste es im November auf dem G20-Gipfel in Brisbane die Bundeskanzlerin zusammen, »eine Politik der Einflusssphären im Stil des 20. Jahrhunderts« und verweigere seinen Nachbarn das Recht der »freien Bündniswahl«. Was ist von diesen Vorwürfen zu halten?

Die Übernahme der Krim als Verletzung der »Nachkriegsordnung« zu brandmarken, wie es im März die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite tat, ist aus mehreren Gründen Unsinn. Erstens deshalb, weil die Krim 1945 eindeutig zur Russischen Sowjetrepublik gehörte. Ihre Übertragung an die Ukraine geschah 1954 und unterfällt schon deshalb nicht der »Nachkriegsordnung«.

Zweitens säße Madame Grybauskaite heute noch in der Litauischen Sowjetrepublik, wenn nicht der Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 jene Nachkriegsordnung umgestoßen hätte. Gelegentlich wird auch argumentiert, Putin habe nicht die NachKRIEGSordnung von 1945 umgestoßen, aber doch die Nach-KALTE-KRIEGS-Ordnung von 1991. Mit anderen Worten: Er habe versucht, dem Westen die Früchte seines geopolitischen Sieges im ersten Kalten Krieg streitig zu machen.

Daran mag etwas mehr sein als an der These der litauischen Amateurhistorikerin, aber als Vorwurf ist es ziemlich matt. Das machen nämlich alle Staaten im Rahmen ihrer Möglichkeiten: Die Folgen früherer Schlappen in der Staatenkonkurrenz wieder auszuwetzen. Insbesondere der Bundesrepublik Deutschland als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches sollte dieses Muster nicht völlig unbekannt sein.

Es bleibt der Vorwurf des Denkens in Einflusssphären. Aber auch er gilt, wenn man ihn schon erhebt, gegenüber beiden Seiten. Die EU-Politik der »östlichen Nachbarschaft« entstand ausdrücklich als ein Instrument der »Integrationskonkurrenz«, wie die Politikwissenschaft den Kampf um Einflusssphären in Osteuropa vornehm zu nennen beliebt.

Nach den beiden Erweiterungsrunden von 2004 und 2007 herrschte in der EU-Spitze Konsens darüber, dass die Aufnahme weiterer Mitgliedsstaaten schon wegen der damit verbundenen hohen Kosten nicht wünschenswert sei und auch in den eigenen Reihen politisch nicht durchsetzbar gewesen wäre: vor allem deshalb, weil eine solche Erweiterungsrunde III die Zuflüsse in diejenigen Staaten, die es mit den Erweiterungsrunden I und II an die Brüsseler Fleischtöpfe geschafft hatten, dramatisch geschmälert, wenn nicht sogar umgekehrt hätten.

Es musste also etwas her, was die Länder des – aus russischer Perspektive – »nahen Auslandes« normativ an die EU band, und das war die »östliche Nachbarschaft« mit der Perspektive einer EU-Assoziierung. Das Verfahren bedeutet, dass die Assoziierungskandidaten ihre gesamte Gesetzgebung – bis hin zu den Handelsklassen für Gemüse – auf EU-Konformität umstellen und sich – ohne Stimmrecht bei der Entscheidung – auch mit Hilfstruppen an sogenannten EU-Friedensmissionen beteiligen müssen. Es ist ein Status, wie er im Römischen Reich für die »socii« (Bundesgenossen) galt: zur Loyalität verpflichtet, aber außerhalb der Rechtsgarantien des römischen Bürgers. Wenn also jemand Russland neokoloniale Gelüste gegenüber der Ukraine vorwirft, weisen auch hier drei Finger auf den Kritiker zurück.

Es stimmt, dass Russland in den Jahren vor 2013 seinen wirtschaftlichen und politischen Einfluss in der Ukraine hatte ausbauen können. Ein Großteil davon waren Übernahmen ukrainischer Betriebe durch russische Unternehmen, oft als Ausgleich für uneinbringliche Schulden. Politisch zahlte Moskau mit Vorzugspreisen für Rohstoffe, insbesondere Öl und Gas, mit Krediten, die mal zurückgezahlt wurden und mal nicht, dafür, dass die Ukraine, wenn sie sich schon von der Integration mit Russland fernhielt, auch von einer solchen mit EU und NATO Abstand nahm.

Im Sommer hat Russland eine Jahresbilanz aufgemacht, die auf von ihm an die Ukraine gewährte geldwerte Vorteile im Umfang von etwa 40 Milliarden US-Dollar im langjährigen Durchschnitt hinausläuft. Die Zahl liegt in der Nähe dessen, was jetzt, nach dem Machtwechsel in Kiew, die westlichen Geldgeber als jährlichen Zuschussbedarf der Ukraine auf kurze und mittlere Sicht abschätzen. Mit anderen Worten: die Ukraine als unabhängiger Staat war ein wirtschaftlich nicht nachhaltiges Projekt und bleibt es bis auf weiteres.

Für beide Konfliktparteien – den Westen wie Russland – ist die Ukraine weniger wirtschaftlich von Bedeutung als strategisch. Sollte der südwestliche Nachbar der NATO beitreten, hieße dies, dass der geopolitische Gegner aus russischer Sicht ungefähr auf den Positionen steht wie 1943 die deutsche Wehrmacht.

Russland ist ein Land ohne leicht zu schützende natürliche Grenzen und hat sich in seiner Geschichte immer nur darüber verteidigen können, dass es potentielle Gegner über ein möglichst tiefes Vorfeld von sich fernhielt. Der US-amerikanische Analysedienst Stratfor hat vor diesem Hintergrund im November sehr nüchtern festgestellt, dass der mit westlicher Hilfe ins Werk gesetzte Machtwechsel in Kiew für Russland eine »fundamentale Bedrohung seines nationalen Sicherheitsinteresses« darstelle.[1] Darüber hinaus intensiviert die NATO ihren Manöverbetrieb in Osteuropa und den angrenzenden Meeren bis knapp unter die Grenze, die die EU-Russland-Konvention von 1997 zulässt. Russland antwortete mit verstärkten Überflügen und maritimen Machtdemonstrationen.

Das Hauptfeld der Auseinandersetzung aber liegt einstweilen auf wirtschaftlichem Gebiet. Seit dem Frühjahr haben die USA und in ihrem Gefolge die EU mehrere Runden von Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängt. Die schwerwiegendste dürfte der Ausschluss vom westlich dominierten Kapitalmarkt sein, der internationale Investoren, aber auch die russische Bourgeoisie veranlasst hat, eine massive Kapitalflucht aus Russland ins Werk zu setzen. Sie wird für 2014 auf 90 Milliarden US-Dollar geschätzt.[2]

Mit Sicherheit wird auch aktiv gegen Russland spekuliert. Wenn George Soros sich rühmt, 1992 die Bank of England in die Knie gezwungen zu haben, dann ist ihm, der sich als »politischer Investor« sieht und die »financial community« erst im Oktober in einem großen Artikel aufgerufen hat, die Ukraine nicht als Bankrottstaat zu behandeln – der sie ohne Zweifel ist – sondern ihr eine politische Schonfrist zu gewähren, erst recht zuzutrauen, seine finanztechnischen Instrumente gegen Russland einzusetzen.[3] US-Präsident Barack Obama hat schon im Frühjahr amerikanische Investoren aufgerufen, gegen den Rubel zu wetten und russische Aktien zu verkaufen.

Die Sanktionen werden nach der Erwartung westlicher Experten eher nicht dazu führen, dass Russland seine Politik in der Ukraine-Frage grundsätzlich ändert und das Land in Ruhe in Richtung NATO ziehen lässt. Sie werden aber mit Sicherheit bewirken, dass – abgesehen von politischen Bedenken, sich nochmals in eine so tiefe wirtschaftliche Abhängigkeit vom Westen zu begeben – schon allein die russische Kaufkraft für Importe aus dem Westen, vor allem aus Europa und hier besonders Deutschland, fehlen wird.[4] Exportorientierte Länder wie Deutschland werden dies 2015 in ihren Bilanzen zu spüren bekommen.

Anmerkungen
  1. "The uprising in Ukraine and the subsequent pro-Western government it has produced in Kiev is a fundamental threat to Russia's national security interests.". An anderer Stelle im selben Text ist vom "Western-backed uprising in Kiev" die Rede. Russian Interests Reshape Ukraine’s Borders, stratfor.com, 14.11.2014, http://www.stratfor.com/analysis/russian-interests-reshape-ukraines-borders#axzz3LaFSRLAl , hier nur für Abonnenten. Der Text ist frei zugänglich auf: http://warrior.scout.com/story/1480704-russian-interests-reshape-ukraine-s-borders
  2. http://www.manager-magazin.de/politik/konjunktur/russland-rechnet-anfang-2015-mit-rezession-kapitalflucht-nimmt-zu-a-1006169.html; Für 2015 werden nochmals höhere Kapitalabflüsse erwartet.
  3. George Soros: Aufgewacht, Europa. In FAZ 23.10.2014, online unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/ukraine-krise-aufgewacht-europa-13223706.html
  4. Eine Stimme von vielen: Götz, Roland, die Russlandsanktionen. Ihre Konzeption, ihre Wirkung und ihre Funktion innerhalb der Russlandpolitik. In: russland-analysen, Nr. 285, 7.11.2014, S. 2-4. http://www.laender-analysen.de/russland/pdf/RusslandAnalysen285.pdf. Der Autor ist ehemaliger leitender Ökonom des »Bundesinstituts für ostwissenschaftliche Studien«.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 6. Januar 2015


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