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Russland soll Weltmacht auf neuer Grundlage werden

Probleme und Visionen in Dmitri Medwedjews Jahresbotschaft

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Russland soll nach dem Willen von Präsident Medwedjew wieder eine starke Weltmacht werden. Dafür müsse das Land seine »chronische Rückständigkeit« überwinden und »grundlegend modernisiert« werden, sagte Medwedjew am Donnerstag (12. Nov.) im Kreml bei seiner Rede an die Nation.

Es war Dmitri Medwedjews zweite und mit über 140 Minuten auch die bisher längste Jahresbotschaft, mit der ein russischer Präsident sich an beide Häuser des Parlaments und dank Fernsehübertragung aus dem Georgs-Saal des Kremls an die Nation wandte. Auch das Thema der Botschaft hatte er im Bruch mit der bisherigen Tradition im vorab bekannt gegeben: die Modernisierung Russlands. Erstmals waren die Bürger auch aufgefordert, eigene Vorschläge dazu einzubringen. Reformen, so Medwedjew bereits in der fulminanten Einleitung, seien nur mit selbstbewussten, aktiven Bürgern möglich.

Er sei der festen Überzeugung, dass Russland eine Weltmacht auf neuer Grundlage werden müsse. Es sei unmöglich, stets von den Errungenschaften der Vergangenheit, wie Energieressourcen und Atomwaffen zu zehren. Sie seien Markenzeichen der Sowjetunion, die den Konkurrenzkampf mit der postindustriellen Gesellschaft nicht bestanden habe. Das neue Russland müsse daher auf wirtschaftliche Modernisierung, demokratische Institutionen und eine pragmatische Außenpolitik setzen, die dem Land einen würdigen Platz bei der internationalen Arbeitsteilung verschafft. Daher wende er sich nicht nur an jene, die seine Pläne unterstützen, sondern auch an alle, die andere Lösungen vorschlagen. Deshalb habe er sich in den letzten Wochen mit den Führern aller politisch relevanten Gruppen getroffen, auch wenn sie nicht im Parlament vertreten sind.

Für die wirtschaftliche Modernisierung, mit der Medwedjew sich über 45 Minuten auseinandersetzte, benannte er fünf Prioritäten. An erster Stelle stehen dabei Strukturreformen, die den Übergang vom Rohstoffexporteur zu einer intelligenzintensiven Wirtschaft ermöglichen, und die Reform von Staatskonzernen. Die weltweite Krise, die Russland mehr als andere gebeutelt und gezwungen habe, den Großteil seiner Reserven für die Erfüllung sozialer Verpflichtungen einzusetzen, habe wieder einmal die Ineffizienz derartiger Giganten gezeigt. Sie, so Medwedjew, gehörten privatisiert und in Aktiengesellschaften umgewandelt. Auch in der Privatwirtschaft, sagte Medwedjew weiter, könnten künftig nur noch effiziente Unternehmen, die gute und billige Massenbedarfsgüter herstellen, auf staatliche Unterstützung rechnen.

Kritisch setzte sich Medwedew auch mit Projekten zur Verbesserung der maroden Infrastruktur auseinander. Haushaltsmittel würden noch immer in dunklen Kanälen versickern. Straßen und Brücken kämen den russischen Steuerzahler daher erheblich teurer als in Westeuropa. Auch müsse der Anteil energiesparender Technologien an der Gesamtwirtschaftsleistung deutlich gesteigert werden. Vorrang hätten zudem Telekommunikation und kosmische Technologien. 2014 sollen neue exportfähige Kernreaktoren auf den Markt kommen.

Dazu brauche Russland auch eine neue Schule, die in der Lage ist, die neue Generation auf diese Aufgaben vorzubereiten, und eine starke Zivilgesellschaft. Staatliche Förderung und Steuernachlässe sollen jedoch nur jene nichtstaatlichen Organisationen bekommen, die sich für soziale und karitative Projekte engagieren.

Sehr kurz -- knapp drei Minuten -- fiel der außenpolitische Teil aus. Die Beziehungen zu anderen Ländern müssten vor allem der Modernisierung dienen. Russland favorisiere nach wie vor eine Welt mit mehreren Schwerkraftzentren und werde sich in die Reform des internatonalen Finanzsystems ebenso aktiv einbringen wie in die Regelung globaler Probleme: Afghanistan, Iran, Nordkorea. Auch warb Medwedjew ein weiteres Mal für einen Europäischen Sicherheitsvertrag. Dieser sei keine Konkurrenz zum transatlantischen Sicherheitssystem, sondern versuche, dessen Lücken zu schließen.

* Aus: Neues Deutschland, 13. November 2009

Die Analyse der Russischen Nachrichtenagentru RIA Novosti

Medwedew will mit Russland neue Zivilisationsstufe erreichen

Von Nikolai Troizki **

Die zweite Jahresbotschaft von Präsident Dmitri Medwedew an die Föderalversammlung (Parlament) erinnerte an eine Rede in einer Beratung über Wirtschaftsfragen.

Ohne sich in Rhetorik zu üben, hat der russische Staatschef ausführlich und konkret die wichtigsten Probleme nahezu in allen Lebens- und Wirtschaftsbereichen aufgezählt und auch die Wege zu deren Lösung vorgeschlagen.

Das Leitmotiv der Botschaft könnte aus dem berühmten Song des russischen Liedermachers Viktor Zoi "Auf Wandlungen warten wir" stammen. Allerdings findet Medwedew, dass keine Zeit verlieren werden sollte und sie verwirklicht werden müssen. Ganz am Anfang seiner Ansprache betonte er, dass die Zeit gekommen ist, Russland zu einer "Weltmacht auf einer grundsätzlich neuer Basis" zu entwickeln und das Land "auf eine höhere Zivilisationsstufe" zu führen.

Notwendig ist eine "allseitige Modernisierung, basierend auf den Werten der Demokratie". Im 21. Jahrhundert kann das Land sich nicht mehr entwickeln, wenn es sich auf die Vorarbeit der früheren Generationen in der Öl- und Gaswirtschaft, der Atombewaffnung und der industriellen Infrastruktur stützt. Alles, was die sowjetischen Fachkräfte geschaffen haben, "erlaubt es dem Land bis jetzt, sich an der Oberfläche zu halten, ist jedoch sowohl moralisch als auch physisch veraltet".

Folglich tun Wandlungen sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik not. Allerdings erfordern nicht alle Bereiche eine radikale Umgestaltung und Reformen.

Nach Medwedews Ansicht ist in Russland ein Mehrparteiensystem mehr oder weniger zustande gekommen, die Parteien selbst "haben die Prüfung der Zeit bestanden". Doch gibt es einzelne Mängel, die Kritik hervorrufen, besonders während der Wahlen.

In diesem Zusammenhang schlug der Präsident vor, "die gemeinsame Arbeit fortzusetzen, um die Qualität der Volksvertretung zu verbessern und zusätzliche Bedingungen für einen freien, gerechten und zivilisierten Wettbewerb der Parteien zu schaffen".

In letzter Zeit wurden die Regional- und Kommunalwahlen am meisten getadelt, deshalb hat Medwedew nach Konsultationen mit Vertretern der Gesellschaftsorganisationen und politischen Parteien beschlossen, die Reform des Wahlgesetzes auf lokale Ebene zu überführen.

Vor allem gilt es, "ein einheitliches Kriterium für die Feststellung der Zahl der Abgeordneten in den Legislativorganen einzuführen". Der Präsident empfindet es nicht als normal, wenn Moskau mit seinen vielen Millionen Einwohnern in der Stadtduma nur 35 Volksvertreter hat, während der Volks-Chural (Parlament) der Republik Tuwa, deren Bevölkerung nur ein Dreißigstel davon ausmacht, 162 Abgeordnete zählt. Offenbar muss zwischen diesen beiden Extremen jetzt die goldene Mitte gefunden werden.

Medwedew sorgt auch um die Verliererparteien des Wahlkampfes. Seiner Ansicht nach "wäre es nützlich, wenn die Legislativorgane aller Ebenen zumindest eine Sitzung im Jahr durchführen würden, um die Mitteilungen und Vorschläge der in den Parlamenten nicht vertretenen Parteien zu hören und zu erörtern". Aber auch das sind noch nicht alle Vorschläge.

Vor einem Jahr, in seiner ersten Botschaft, hatte der Präsident vorgeschlagen, "den Wählern, die für so genannte kleine Parteien gestimmt haben, Garantien für eine Vertretung zu gewähren".

In Weiterentwicklung seines Gedanken sagte er: "Parteien, die fünf bis sieben Prozent der Stimmen erhalten haben, könnten garantiert mit einem bis zwei Abgeordnetenmandaten rechnen. Ein solches Modell wird die Möglichkeit geben, ... den kleinen Parteien, die die Interessen einer recht bedeutenden Zahl der Menschen vertreten, die parlamentarische Tribüne zu überlassen."

Darauf nahmen die Parlamentarier entsprechende Änderungen am Wahlgesetz vor. Medwedew beschloss, diese Initiative weiterzuführen, diese Änderungen auch in die lokalen Wahlgesetze festzuschreiben und so faktisch die Wahlhürde von den heutigen sieben auf die früheren fünf Prozent zu senken. Einiges berechtigt zur Annahme, dass all diese Änderungen zum nächsten gesamtrussischen Abstimmungstag überall angenommen sein werden.

Außerdem hält es der Staatschef für notwendig, die Unterschriftensammlung als unerlässliche Bedingung für die Teilnahme an den Wahlen aufzugeben. Das allerdings ist eine Zukunftsaufgabe, ebenso wie die Umstellung aller Regional- und Kommunalwahlen ausschließlich auf das Proporzsystem, das heißt Wahlen nach Parteilisten.

Andere Vorschläge Medwedews in Bezug auf die Wahlen sind ebenfalls die Fortsetzung seiner Initiativen von vor einem Jahr. Der Präsident forderte dazu auf, bei vorgezogenen Abstimmungen bei den Lokalwahlen Ordnung zu schaffen; auf föderaler Ebene ist diese Ordnung seiner Meinung nach bereits geschaffen worden.

Ausdrücklich forderte er auf, allen Parteien gleiche Möglichkeiten zu geben, was die Nutzung von Kommunalgebäuden für PR-Arbeit während des Wahlkampfes betrifft. Zudem empfahl er allen Subjekten der Föderation, Gesetze zu verabschieden, die den in den Regionalparlamenten vertretenen Parteien in den Medien gleiche Aufmerksamkeit garantieren würden.

Schließlich schlug er vor, in die regionalen Satzungen und die Verfassungen der Teilrepubliken Artikel aufzunehmen, die postulieren, dass der Leiter der Exekutive alljährlich vor dem lokalen Parlament Rechenschaft ablegt.

Medwedew hat auch den föderalen Gesetzgeber nicht übergangen. So riet er der Staatsduma (Unterhaus), alle offenen Plenarsitzungen live zu übertragen. Dem fügte er hinzu, ein solches Experiment könnte für den Föderationsrat (Oberhaus) und das Verfassungsgericht von Interesse sein. Übrigens sprach der Präsident auch früher wiederholt davon, dass es gilt, unter Einsatz aller Kräfte eine maximale Offenheit aller Machtorgane zu fördern.

Selbstverständlich konnte der Medwedew sein Lieblingsthema, die Korruption, nicht wortlos überspringen. Dieses Mal hielt es sich kurz und beinahe aphoristisch: "Gefängnisstrafen allein reichen nicht, doch Gefängnis muss sein." Für die zahlreichen Skeptiker berichtete Medwedew darüber, dass in den ersten sechs Monaten dieses Jahres etwa 4500 Korruptionsdelikte untersucht sowie 532 Beamte und mehr als 700 Rechtsschutzmitarbeiter verurteilt worden sind.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

** Aus: RIA Novosti, 12. November 2009; http://de.rian.ru





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