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Partnerschaft mit "geschwächtem Zar"

Der Westen zwischen Fälschungsvorwürfen gegen Putin und Hoffnung auf einen neuen Dialog

Von Olaf Standke *

Die internationalen Reaktionen auf den Wahltag in Russland reichten am Montag von harscher Kritik an Unregelmäßigkeiten bis zur Ankündigung, die »strategische Partnerschaft« mit Moskau fortzusetzen.

»Diese Wahl ist nicht fair verlaufen, trotz Verbesserungen wie der Einführung von Webcams in Wahllokalen und transparenten Urnen«, sagte die Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa am Montag in Moskau. In einem Drittel der Wahllokale sei die Auszählung »schlecht« gewesen, behauptet die OSZE. Was die zentrale Moskauer Wahlkommission natürlich umgehend zurückwies. Und in Machtzentralen des Westens wurde gestern demonstrativ die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem neuen alten Staatschef betont - während die Presse oft deutlich negativer reagierte. »Moskau wird wieder zu einem komplizierten und oft paranoiden Partner«, schreibt etwa der »Guardian«. Mit Putins Comeback »in der internationalen Arena landet der Reset von Dmitri Medwedjew und Barack Obama im Mülleimer«, prognostiziert das Londoner Blatt.

Auch die linksliberale römische Tageszeitung »La Repubblica« sieht Probleme angesichts eines »geschwächten Zaren im Kreml«. Der konservative Pariser »Figaro« dagegen macht durchaus Chancen aus: »Um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen, wird der neue Putin die Modernisierung zum Erfolg führen müssen. Und Russland zu reformieren, bedeutet auch eine Öffnung zur Welt und eine Abkehr von den dunklen Brillen des Kalten Krieges, die die Außenpolitik des Kreml erneut beherrschen.« Das »Luxemburger Wort« meint sogar, dass viele Spitzenpolitiker in EU-Staaten mit Putins Wiederwahl gut leben könnten, denn bei ihm wüssten sie genau, was sie haben.

Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton verkündete am Montag in Brüssel denn auch ihre Zuversicht, dass Putin Reformen vorantreiben werde. Deutschland jedenfalls wolle die »strategische Partnerschaft« mit Russland fortsetzen, so Angela Merkel, die Putin in einem Telefongespräch zum Wahlsieg gratulierte. Wie Syriens Präsident Baschar al-Assad, der auf weitere Unterstützung durch Russlands hofft. Bundesaußenminister Guido Westerwelle betonte, dass es neben den Wirtschaftsbeziehungen - der bilaterale Handel lag 2011 bei 51,6 Milliarden Euro und damit auf Rekordniveau - starke gemeinsame Sicherheitsinteressen gebe. Man erwarte aber, dass die russische Seite alle Vorwürfe von Unregelmäßigkeiten bei der Präsidentenwahl ausräumt.

Putin will zugleich die Partnerschaft mit den USA fortsetzen, Russland strebe kein atomares Wettrüsten an. Allerdings werde man »Gegenmaßnahmen« ergreifen, sollte Washington im Alleingang das Projekt eines Raketenabwehrsystems in Europa realisieren. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen machte gestern in Brüssel seine Hoffnung auf einen »positiven Dialog« nicht nur in dieser Angelegenheit deutlich. Putin hatte noch als Regierungschef jüngst ein umgerechnet 600 Milliarden Euro schweres Rüstungsprogramm angekündigt. Wie er jetzt unmittelbar nach seinem Wahlsieg gegenüber Journalisten erklärte, blieben aber auch die Beziehungen zu den benachbarten GUS-Staaten für ihn selbstverständlich eine »absolute außenpolitische Priorität«.

Der Russland-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Alexander Rahr,plädiert für eine »Realpolitik« des Westens. Die europäische Außenpolitik befasse sich zu wenig mit Russland und sei bei aller Notwendigkeit von Kritik zu »moralisch«, wobei sie sich »auf die Reizfigur Putin« konzentriere und die Vorteile eines Bündnisses mit Moskau nicht sehe. Stattdessen versuche man, Russland die eigenen Werte »überzupflanzen«. Solche Belehrungen funktionierten aber dort so wenig wie in China.

Der Westen solle vielmehr auf eine »pragmatische Interessenpolitik« setzen. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit Russlands werde unter Putin weiter wachsen. Er sei schließlich der einzige gewesen, der sich für den Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation stark gemacht habe, wie Rahr hervorhebt.

* Aus: neues deutschland, 6. März 2012

Lexikon

Seit der Zeit der Zaren ist der Moskauer Kreml das Zentrum der Macht, hier schlägt das Herz Russlands. »Über der Stadt ist der Kreml, über dem Kreml ist nur Gott«, sagt ein russisches Sprichwort. Doch diese Schaltzentrale der Macht schätzte nicht jeder Herrscher Russlands. Weil hinter den Kremlmauern ein Komplott gegen ihn geschmiedet wurde, verlegte Zar Peter der Große Anfang des 18. Jahrhunderts seinen Hof kurzerhand nach St. Petersburg und machte die Stadt an der Newa zur russischen Hauptstadt. Mit der Absicht, die im Mittelalter entstandene Festung in Moskau niederreißen zu lassen, ging Zarin Katharina II. in ihrer Abneigung sogar noch weiter. Selbst Wladimir Putin empfing während seiner ersten Amtszeiten von 2000 bis 2008 seine Gäste lieber in seiner Residenz im Moskauer Vorort Nowo-Oragewo, statt sie in den weltberühmten Kreml einzuladen.
(nd, 06.03.2012)




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