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"An den grundlegenden Machtverhältnissen hat sich nichts geändert"

Zu den Präsidentenwahlen in Russland. Eine Analyse von Willi Gerns *

Am Montag hat die Zentrale Wahlkommission der Russischen Föderation nach Auswertung von 99,3 Prozent der Wahlprotokolle Wladimir Putin zum Sieger der Präsidentenwahlen vom vergangenen Sonntag erklärt. Bei einer Wahlbeteiligung von 65,3 Prozent entfielen auf ihn 63,6 Prozent der abgegebenen Stimmen. Auf den zweiten Platz kommt der KPRF-Vorsitzende Gennadi Sjuganow mit 17,18 Prozent, gefolgt von dem Oligarchen Michail Prochorow (7,98 %), dem Vorsitzenden der nationalistischen LDPD, Wladimir Schirinowski (6,22 %), und Sergej Mironow von der Partei Gerechtes Russland (3,85 %).

In einer ersten Reaktion erklärte der KPRF-Vorsitzende: "Wir erkennen die Wahlen nicht an und halten sie für illegitim, unehrlich und nicht transparent." In die gleiche Richtung gehen die Anschuldigungen der prowestlichen Opposition, die für Montagabend zu Protesten aufgerufen hat. Angeheizt wird sie durch die westlichen Medien, vor allem die Deutschen. So trommelten z.B. der Chefredakteur des ZDF und die Nachrichtensprecherin des Senders bereits in der Sonntagabendsendung vom Roten Platz mitten in Moskau aus mit Hasstiraden im Stil des kalten Krieges auf ihre Zuschauer ein und suggerieren ihnen mittels entsprechender Gesprächspartner den Sturz Putins noch in der nun folgenden Amtsperiode. Offenbar wünscht man sich eine "orangene Revolution" mit den aus der Ukraine bekannten katastrophalen Folgen.

Ob und wie weit es in der Regie dieses oder jenes Provinzfürsten Wahlfälschungen zugunsten Putins gegeben hat, kann aus der Ferne noch nicht eingeschätzt werden. Nach den Erfahrungen der Vergangenheit ist dies durchaus denkbar. Fälschungen größeren Umfangs wie bei den Duma-Wahlen scheinen dagegen angesichts zehntausender Wahlbeobachter aus dem In- und Ausland, 90 000 Webkameras in den Wahllokalen und deren Übertragung auf Videowände in der Zentralen Wahlkommission unter Anwesenheit von Wahlbeobachtern nur schwer vorstellbar zu sein.

Eindeutig festgestellt werden kann allerdings, dass Putin durch seine Dominanz in den staatlichen Medien, die Unterstützung der Verwaltungen und anderer administrativer Ressourcen gegenüber seinen Konkurrenten begünstigt war. Ungleiche Bedingungen für die Kandidaten sind aber keine russische Besonderheit.

Für den Wahlsieg Putins dürften vor allem drei Gründe ausschlaggebend sein: Erstens - in den 12 Jahren, in denen er die Geschicke des Landes prägte, hat es im Vergleich zur vorangegangenen Zeit unter Jelzin beachtliche wirtschaftliche und soziale Fortschritte gegeben. (Siehe: "Präsidentenwahlen in Russland", UZ v. 27. 1. 2012) Wenn diese Fortschritte auch auf einem unsicheren Fundament stehen, so schauen die Menschen doch in erster Linie auf das, was sie heute im Geldbeutel haben und sich leisten können. Und da geht es den meisten trotz der Rückschläge in der Krise besser als vor einem Jahrzehnt. Das wird mit Putin verbunden und das möchte man nicht gefährden. In dieser Hinsicht gibt es gewisse Ähnlichkeiten mit der Situation in der Bundesrepublik während des sogenannten Wirtschaftswunders. Damals führten Adenauer und seine CDU ihren Wahlkampf erfolgreich mit der Losung "Keine Experimente". Putin und seine Mannschaft kopierten dies mit dem Schlagwort "Stabilität".

Zweitens hat Putin erneut den Patriotismus mobilisieren können. Der unter schwersten Opfern errungene Sieg über Nazi-Deutschland und der damit verbundene Aufstieg der UdSSR zu einer auf Augenhöhe mit den USA agierenden Supermacht haben sich tief im Nationalbewusstsein des Volkes verankert. Umso mehr hat die Menschen der Abstieg im Ergebnis der Konterrevolution getroffen. Sie sehnen sich zurück nach einem starken Russland. Diesen Nerv trifft Putin. Wenn seine entsprechenden Aussagen deshalb als Wahltaktik abgetan würden, schiene mir das nicht zutreffend zu sein. Der russische Patriotismus entspricht durchaus seinen Überzeugungen. Schließlich ist dieser gerade auch in den bewaffneten Organen, aus denen er kommt und die ihn tragen, stark verankert. Bei alledem darf jedoch nicht aus dem Auge verloren werden, dass es Putin nicht um irgendein Russland geht, sondern um ein starkes und stabiles kapitalistisches Russland.

Drittens kommt noch sein persönliches Image hinzu. Er ist mit Unterstützung der von seinem Regime beherrschten Medien nach wie vor der beliebteste Politiker in Russland. Wie Umfragen belegen, verbinden viele mit ihm solche Attribute wie ehrlich, tatkräftig und stark. Wenn vielleicht andernorts sein Machogehabe negativ zu Buche schlagen würde, so wirkt sich dies in Russland offenbar positiv aus. Sicher haben die Proteste gegen die Wahlfälschungen bei den Duma-Wahlen seinem Renommee gewisse Kratzer zugefügt. Das hält sich aber in Grenzen und betrifft vor allem sein Ansehen bei einem Teil der städtischen Mittelschichten.

Die Ergebnisse für Sjuganow und Prochorow

Der Hauptkonkurrent Putins war auch diesmal der kommunistische Kandidat Sjuganow, der erneut den zweiten Platz belegt. Sein Ergebnis liegt knapp unter dem von 2008 und bleibt hinter dem Resultat der der KPRF bei den jüngsten Duma-Wahlen zurück. Zu den aktuellen Gründen dafür könnte gehören, dass möglicherweise auch manche Wähler am Rande des KPRF-Spektrums bei den Duma-Wahlen vor allem gegen "Einiges Russland" und weniger gegen Putin gestimmt haben.

Zugleich deutet das bereits längerfristige Verharren der KPRF bei Präsidenten-Wahlen auf einem Niveau, das sich in etwa bei dem jetzigen Ergebnis bewegt, auf derzeitige Grenzen des Wählerpotentials der Partei und ihrer Verbündeten hin. Die Gründe dafür scheinen wesentlich damit zusammen zu hängen, dass es Putin und seinem Regime gelungen ist, zwei der drei wichtigsten Politikfelder der KPRF weitgehend für sich zu besetzen, die Erwartungen der Menschen auf Verbesserungen ihrer sozialen Lage und den Patriotismus. Das dritte Hauptfeld, den Kampf um ein sozialistisches Russland kann er als Repräsentant des russischen Kapitalismus den Kommunisten natürlich nicht streitig machen, es scheint aber leider zur Zeit nicht dieselbe Anziehungskraft zu haben wie in den neunziger Jahren. Die Gründe dafür sind vielfältig, hier fehlt der Platz für ihre Erörterung. Während der Präsidentschaft Jelzins war die KPRF dagegen mit den genannten Politikfeldern, auf die sie unter den im Parlament vertretenen Parteien ein Monopol hatte, sehr erfolgreich. Bei den Präsidentenwahlen 1996 konnte sie Jelzin mit 32 Prozent der Stimmen in die Stichwahl zwingen, die dieser nur durch eine von den aufgeschreckten Oligarchen mit vielen Millionen finanzierte Kampagne gegen Sjuganow für sich zu entscheiden vermochte. Und noch 1999 bei den Duma-Wahlen wurde die KPRF mit 24,3 Prozent der Stimmen die stärkste Kraft. Die Wende kam ab 2000 mit Putin und gewissen Verbesserungen der wirtschaftlichen und sozialen Lage sowie der Übernahme der populären patriotischen Losungen der KPRF.

Ein neuer Aspekt der Wahlen am Sonntag war mit der Kandidatur Prochorows die Teilnahme eines Vertreters aus dem "liberalen", prowestlich orientierten Lager und noch dazu eines Oligarchen. Sein Ergebnis ist beachtlich, wenn es auch keineswegs der vollmundigen Ankündigung entspricht, den zweiten Platz zu belegen und gegen Putin in die Stichwahl zu gehen. Das Resultat dürfte aber dem tatsächlichen Potential der mit dem Label "Demokraten" versehenen prowestlichen Kräfte nahe kommen.

Waren die in den westlichen Medien angegebenen Teilnehmerzahlen der Proteste in Moskau und Petersburg bereits weit übertrieben, so sind sie erst recht nicht repräsentativ für das weite Russland. Zudem waren längst nicht alle Protestierenden Pro-Westler. Das prowestliche Potential hat seine soziale Basis vor allem in Unternehmerkreisen und bei einem Teil der großstädtischen Mittelschichten, und die stellen auf ganz Russland bezogen nur einen relativ geringen Teil der Wählerinnen und Wähler.

Ausgewirkt haben wird sich zudem, dass das Putin-Regime nach einer kurzen Zeit der Verwirrung geschmeidig auf die Proteste reagierte. Die Knüppelattacken der Sicherheitskräfte wurden eingestellt und auf für das Regime ungefährliche Zugeständnisse umgeschaltet. Die Protestveranstaltungen wurden genehmigt, man zeigte sogar "Verständnis" und Medwedjew kündigte unter anderem Reformen der Parteiengesetzgebung an. Im Gefolge waren die letzten Protestaktionen bereits deutlich schwächer.

Hinzu kommt noch, dass Prochorow ein Oligarch ist, Oligarchen aber bei den meisten Menschen äußerst unbeliebt sind. Und er hat angekündigt, dass er nicht nur selbst Präsident werden sondern auch noch seinen Oligarchenkollegen Chodorkowski aus dem Knast holen und in die Regierung berufen will. Obendrein ist er selbst manchen "Demokraten" nicht ganz geheuer. Hängt ihm doch - zu Recht oder nicht - der Geruch an, an der Leine Putins zu marschieren.

An den grundlegenden Machtverhältnissen hat sich nichts geändert. Die politische Macht in Russland liegt in den Händen des von den "Silowiki" und der Bürokratie getragenen Putin-Regimes. Es ist dies der politische Sachwalter des russischen Kapitalismus.

Wie weiter nach den Präsidentenwahlen?

Mit Blick auf die inneren Verhältnisse ist das Regime prokapitalistisch und hat autoritäre Züge. Auf der weltpolitischen Ebene kann Russland unter Putin dagegen durchaus eine positive Rolle spielen und gemeinsam mit China und anderen Staaten der Weltherrschaftspolitik des US-Imperialismus und seiner NATO-Verbündeten sowie den davon ausgehenden Gefahren für den Frieden in der Welt Grenzen setzen. Die jüngsten Aussagen Putins in seinen Aufsätzen zur Verteidigungs- und Außenpolitik geben Anlass zu entsprechenden Hoffnungen. Jedenfalls wird man sich im Westen auf einen selbstbewusst und entschieden die russischen Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen vertretenden Präsidenten in Moskau einstellen müssen.

Trotz des Wahlerfolgs können Putin und seine Mannschaft nicht einfach zu den Zuständen vor den Duma-Wahlen zurückkehren. Es ist kaum damit zu rechnen, dass die unterschiedlich motivierten Proteste völlig im Sand versickern und wieder Friedhofsruhe einkehrt. Es dürfte auch nicht genügen bei den bisherigen Reformankündigungen stehen zu bleiben. Notwendig sind weitergehende demokratische Beteiligungsmöglichkeiten. Darauf drängen vor allem Angehörige der Intelligenz und anderer Mittelschichten, die dringend für die Modernisierung der Wirtschaft gebraucht werden. Unverzichtbar sind entschiedene Maßnahmen gegen die Oligarchen, die ihre Superprofite ins Ausland verschieben sowie Steuererhöhungen für die Reichen, um die notwendigen Mittel für die Modernisierung zu mobilisieren. Und nicht zuletzt erwarten die Menschen, von denen viele noch immer in äußerst ärmlichen Verhältnissen leben, dass die umfangreichen sozialen Versprechungen Putins sich nach der Wahl nicht in Schall und Rauch auflösen. Davon, ob und mit welcher Konsequenz diese und ähnliche Maßnahmen in Angriff genommen werden, wird die Stabilität des Putin-Regimes in den nächsten Jahren wesentlich abhängen.

* Dieser Beitrag erschien unter dem Titel "Putin siegt im ersten Wahlgang" in der Wochenzeitung uz-unsere zeit, 9. März 2012


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