Russland bleibt Antwort nicht schuldig
Dmitri Medwedjew rügt "Überheblichkeit" und "Egoismus" der abgewählten USA-Regierung
Von Irina Wolkowa, Moskau *
Schlug gestern (5. November) die eigentliche Geburtsstunde eines neuen Russlands? 15 Jahre nach Inkraftsetzung der Verfassung, an deren ungenutzte Möglichkeiten Präsident Dmitri Medwedjew in seiner ersten Jahresbotschaft an die Föderale Versammlung mehrfach erinnerte? Das Auditorium im Kreml bejahte die Frage schon dadurch, dass es die 125-minütige Ansprache gut zwei Dutzend Mal mit stürmischem Beifall unterbrach.
Dmitri Medwedjew verkniff sich jede Andeutung zu Sünden und Versäumnissen seiner Vorgänger. Statt wie sie jedoch Erfolge und eigene Leistungen zu feiern, nahm er bereits im dritten Satz die Probleme frontal auf die Hörner: ererbte und neue. Sogar das übliche Protokoll, wonach der Vorsitzende des Föderationsrates dem Staatschef das Wort erteilt, wurde durchkreuzt. Das besorgte der Präsident allein, und dann legte er los.
Russische Staatsdiener - darunter auch der Premier - dürfen bisher nur von Folgen der weltweiten Finanzkrise für Russland reden. Das Wort »Krise« selbst auf Russland anzuwenden, ist dem Präsidenten vorbehalten. Und Medwedjew machte von diesem Privileg umfassend Gebrauch. Aus seiner Sicht haben die Krise im Kaukasus und die weltweite Finanzkrise »gemeinsame Züge und eine gemeinsame Herkunft«, sie seien nämlich Folgen der Politik der am Dienstag abgewählten USA-Regierung. Daher sei es »notwendig, Mechanismen zu schaffen, die die fehlerhaften, egoistischen und mitunter auch einfach gefährlichen Entscheidungen einiger Mitglieder der Weltgemeinschaft blockieren«, betonte der Präsident.
»In den letzten Jahren ist Russland mit neuen Bedrohungen und Herausforderungen konfrontiert: Ein globales Raketenabwehrsystem wird konstruiert, Russland wird mit Militärstützpunkten umstellt, die NATO wird zügellos erweitert«, stellte der Staatschef fest. »Es entsteht der Eindruck, dass wir einfach auf eine Festigkeitsprobe gestellt werden.« Russland lasse sich nicht auf ein neues Wettrüsten ein, müsse die neue Situation aber bei der Gestaltung seiner Verteidigung berücksichtigen.
Drei Monate nach dem Krieg gegen Georgien unterstrich Medwedjew, dass Moskau »im Kaukasus nicht nachgeben« werde. »Es hat keinen Zweck, es zu verbergen. Die Tragödie von Zchinwali ist eine Folge des überheblichen Kurses der USA-Regierung gewesen, der keine Kritik duldet und einseitige Entscheidungen bevorzugt«. Der Konflikt im Kaukasus sei als ein Vorwand gebraucht worden, »um NATO-Kriegsschiffe ins Schwarze Meer einziehen zu lassen und danach Europa das amerikanische Raketenabwehrsystem schneller aufzuzwingen, was natürlich Gegenmaßnahmen Russlands nach sich ziehen wird«.
Um das US-Raketenabwehrsystem in Osteuropa nötigenfalls zu neutralisieren, werde Russland im Gebiet Kaliningrad Störsender und einen Komplex von Kurzstreckenraketen des Typs »Iskander« (Reichweite 300 Kilometer) stationieren. Überdies werde die Raketendivision in Koselsk (Gebiet Kaluga, etwa 160 Kilometer südwestlich von Moskau) nicht wie zuvor geplant außer Dienst gestellt. Die Division verfügt über ballistische Interkontinentalraketen RS-18 »Stilet« mit einer Reichweite von 10 000 Kilometern.
Medwedjew betonte: »Wir haben weder Probleme mit dem amerikanischen Volk noch einen angeborenen Amerika-Hass. Wir hoffen, dass unsere Partner, die neue Regierung der USA, eine Wahl zugunsten vollwertiger Beziehungen mit Moskau treffen wird.«
Russland sei zur Zusammenarbeit mit den USA, der Europäischen Union und den sogenannten BRIC-Schwellenländern Brasilien, Indien und China bereit. Die Finanzkrise »sollte allen verantwortungsbewussten Nationen gezeigt haben, dass es höchste Zeit für eine radikale Reform des Wirtschaftssystems ist«. Seine Vorschläge habe Moskau den Teilnehmern des Weltwirtschaftsgipfels Mitte November in Washington zugeleitet. Das wieder erstarkte Russland, so Medwedjew, werde konsolidiert und gestärkt aus der Krise hervorgehen, es sei willens und in der Lage, dafür zu sorgen, dass die Welt sicherer und gerechter wird.
Auch mit seinen innenpolitischen Wahlversprechen will Medwedjew Ernst machen. Vor allem mit den von der Verfassung garantierten individuellen und kollektiven Freiheiten und der Stärkung demokratischer Institutionen. Kleinere Parteien, die mehr als 5 Prozent der Wählerstimmen erhalten, aber an der bestehenden 7-Prozent-Hürde scheitern, sollen künftig einen oder zwei Duma-Sitze bekommen. Das Zulassungsverfahren für Kandidaten soll erleichtert werden. Das Parlament bekommt zudem -- zumindest in Teilen -- ein Kontrollrecht über die Regierung, die Medien werden verpflichtet, über alle in der Duma vertretenen Parteien zu berichten. Zugleich plädierte Medwedjew für die Verlängerung der Amtszeiten des Präsidenten und der Staatsduma auf sechs bzw.. fünf Jahre (bisher je vier).
Der Präsident räumte ein, dass sich die Bürokratie in den Wahlprozess einmische und Gerichte wie Medien unter Druck setze. Er machte sich für die Überwindung von »Staatskult, Rechtsnihilismus« und Korruption sowie für Erleichterungen bei der Unternehmensgründung stark und erneuerte Eigentumsgarantien für die Wirtschaft. Das staatliche Rettungspaket für notleidende Banken und Konzerne laufe nicht auf deren Wiederverstaatlichung hinaus.
* Aus: Neues Deutschland, 6. November 2008
Weitere Meldungen von Medwedjews Jahresbotschaft **
Medwedew hofft auf konstruktivere Beziehungen mit USA unter Obama
MOSKAU, 05. November (RIA Novosti). Nach dem Wahlsieg des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Barack Obama in den USA hofft der russische Präsident Dmitri Medwedew auf konstruktivere Beziehungen zwischen beiden Staaten.
"Wir haben weder Probleme mit dem amerikanischen Volk noch einen angeborenen Amerika-Hass", sagte Medwedew am Mittwoch in seiner ersten Jahresbotschaft an das Parlament. "Wir hoffen, dass die unsere Partner, die neue Administration der USA, eine Wahl zugunsten vollwertiger Beziehungen mit Moskau treffen wird."
Russland reagiert auf US-Raketenabwehr mit Iskander-Raketen in Kaliningrad
MOSKAU, 05. November (RIA Novosti). Russland wird in Kaliningrad Iskander-Raketen aufstellen, um das geplante US-Raketenabwehrsystem in Europa zu neutralisieren.
Das kündigte der russische Präsident Dmitri Medwedew am Mittwoch in seiner Jahresbotschaft an das Parlament an. Bei Iskander handelt es sich um hochpräzise Waffen, die Ziele in einer Entfernung von bis zu 300 Kilometer zerstören können.
Als Antwort auf den US-Raketenschild würde Russland zudem seine Raketendivision in Koselsk (Gebiet Kaluga, etwa 160 km südwestlich von Moskau) nicht wie zuvor geplant außer Dienst stellen, betonte Medwedew. Die aus drei Regimentern bestehende Division ist mit den ballistischen Interkontinentalraketen RS-18 "Stilet" (Reichweite von 10 000 Kilometer) bewaffnet.
Laut Medwedew lässt sich Russland nicht in ein erneutes Wettrüsten verwickeln. "In den letzten Jahren ist Russland mit neuen Bedrohungen und Herausforderungen konfrontiert: Ein globales Raketenabwehrsystem wird konstruiert, Russland wird mit Militärstützpunkten umstellt, die Nato wird zügellos erweitert", stellte der Staatschef in seiner Ansprache fest. "Es entsteht der Eindruck, dass wir einfach auf eine Festigkeitsprobe gestellt werden."
"Wir lassen uns zwar natürlich nicht in ein neues Wettrüsten einbeziehen, müssen aber das bei der Gestaltung unserer Verteidigung berücksichtigen", betonte er. "Die Sicherheit der Bürger Russlands wird dabei nach wie vor zuverlässig garantiert."
Medwedew plädiert für Rubelverrechnung bei Export von Erdöl und Erdgas
MOSKAU, 5. November (RIA Novosti). Der russische Präsident Dmitri Medwedew hat aufgerufen, den Übergang zur Verrechnung in Rubel beim Export von Erdöl und Erdgas zu beschleunigen.
"Es müssen praktische Schritte zur Verstärkung der Rolle des Rubels als einer der Währungen bei internationalen Verrechnungen unternommen und endlich mit dem Übergang zur Rubelverrechnung begonnen werden", sagte Medwedew am Mittwoch in der Jahresbotschaft an die Föderalversammlung (Parlament).
Laut Medwedew sollte in erster Linie zu Rubelverrechnungen beim Export von Erdöl und Erdgas übergegangen werden. "Es muss die Unterbringung von neuen Emissionswertpapieren gerade in Rubeln und wünschenswerterweise auf dem russischen Markt stimuliert werden. Das Endziel all dieser Prozesse ist, den Rubel zu einer der regionalen Währungen zu machen", sagte der Staatschef.
Er hob hervor, dass solche Handlungen auch andere Entwicklungsländer unternehmen könnten. "Je mehr es in der Welt starke Finanzzentren gibt, je höher der Grad der allgemeinen Abhängigkeit ist, desto sicherer wird die globale Finanzentwicklung sein", fügte der russische Präsident hinzu.
Russische Politelite begrüßt Vorschlag zur Verlängerung der Präsidentenamtszeit
MOSKAU, 05. November (RIA Novosti). Russische Regierungsmitglieder und Duma-Abgeordnete begrüßen Dmitri Medwedews Initiative, die Amtszeit des Präsidenten und die Legislaturperiode des Parlaments auf sechs beziehungsweise fünf Jahre zu verlängern.
Die regierungstreue Partei „Geeintes Russland“ hat ihre Unterstützung für Medwedews Vorschläge angekündigt. „Alles, wovon Dmitri Medwedew gesprochen hat, muss möglichst schnell unterstützt werden“, so der stellvertretende Fraktionschef Wjatscheslaw Wolodin. Auch Finanzminister Alexej Kudrin begrüßte den Vorschlag: „Sechs Jahre ist eine gute Frist, damit sich der Präsident zeigen kann“.
Auf die Frage von Journalisten, ob nun ein Referendum über die Änderung der Präsidenten- und Parlamentsvollmachten zu erwarten sei, antwortete der Chef der Zentralen Wahlkommission, Wladimir Tschurow: „Mal sehen“. „Das sollte nicht als Ausbau der Präsidentenmacht aufgefasst werden. Das ist vielmehr ein ausgeglichenes Modell einer neuen politischen Konstruktion“, erklärte Vizepremier Igor Schuwalow am Mittwochnachmittag.
Kurz zuvor hatte Präsident Dmitri Medwedew in seiner Rede zur Lage der Nation gesagt: „Ich schlage vor, die verfassungsmäßige Amtszeit des Präsidenten und der Staatsduma auf sechs beziehungsweise auf fünf Jahre zu verlängern“. Zurzeit werden sowohl der Präsident als auch das Parlament für je vier Jahre gewählt.
Der Staatschef und die Duma müssen laut Medwedew „genug Zeit haben, um ihre Pläne umzusetzen“.
„Es ist in der Geschichte oft genug vorgekommen, dass demokratische Staaten die Vollmachten ihrer Machtbehörden geändert haben“, so Medwedew weiter. Es gehe dabei zwar um eine Korrektur, aber nicht um eine umfassende Verfassungsreform.
Er schlug auch Maßnahmen vor, um die Ausweitung der Präsidentenvollmachten auszugleichen. Das Parlament müsse zusätzliche Vollmachten bekommen, um die Regierung zu kontrollieren. Das Kabinett werde jährlich einen Rechenschaftsbericht vor den Parlamentsabgeordneten ablegen müssen.
Die Zahl der Unterschriften, die eine Partei für die Teilnahme an der Duma-Wahl braucht, sollte laut Medwedew reduziert werden. Jede Partei, die mehr als fünf Prozent der Wählerstimmen erhalte, sollte künftig keine Unterschriften mehr sammeln müssen, so Medwedews Vorschlag. Heute braucht jede Partei mindestens zwei Millionen Unterschriften.
** Alle Nachrichten aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 5. November 2008; http://de.rian.ru
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