Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Die USA werden auf die Stationierung der Raketenabwehr in Polen und Tschechien nicht verzichten - Was aber dann?

Zwei Analysen zum Gipfel Bush-Putin aus russischer Sicht



Solange die Vorstellung noch nicht begonnen hat

Von Andrej Wassiljew *

Bei dem Treffen des amerikanischen und des russischen Präsidenten, das in den USA am 1. und 2. Juli stattfindet, werden Wladimir Putin und George Bush eine recht unangenehme Frage besprechen müssen: über die Absicht der Vereinigten Staaten, ein neues ABM-System an Russlands Grenze unterzubringen.

Aber welche Entscheidungen bei den Verhandlungen der Präsidenten auch getroffen werden mögen, werden sie den gesamten Ton der russisch-amerikanischen Beziehungen wohl kaum grundsätzlich beeinflussen. Beide Seiten werden sich um die Erhaltung der strategischen Partnerschaft bemühen. Allerdings wird sie weit mehr Pragmatismus als einstiges Vertrauen aufweisen.

Eine der in den 60er Jahren populärsten stereotypen Vorstellungen von den Amerikanern - schlecht erzogene, aber sehr reiche Leute, die allen ihre Meinung aufdrängen - feiert fröhliche Urständ. Die Anstrengungen der Administration von Bush haben die europäischen NATO-Verbündeten der USA in eine sehr heikle Lage versetzt, da sie sich verpflichtet fühlen, Washingtons Vorschlag, in Tschechien und Polen ABM-Elemente zu stationieren, die Europa am wenigsten braucht, zu unterstützen.

Die Befürchtungen, dass dieser Schritt die Beziehungen zum östlichen Nachbarn - Russland - belasten und auch die Sicherheit von Europa selbst keineswegs festigen wird, sind bisweilen stärker als der Wunsch, das neue recht kostspielige "Spielzeug" umsonst zu bekommen. Nicht von ungefähr bemerkte der Generalsekretär des Norwegischen Atlantikkomitees Chris Prebensen: "Was die amerikanischen Pläne angeht, in Europa einen Antiraketenschild zu schaffen, besteht die Position der norwegischen Regierung darin, dass eine solche Unterbringung dem Klima des strategischen Gleichgewichts nicht förderlich sein würde. Diese Systeme können zur Steigerung des Wettrüstens führen, und das ist keine gute Idee."

Der bekannte britische Wissenschaftler Lord Robert Skidelsky, Mitglied der Oberhauses, drückte sich in seinem Brief an den Chefredakteur der britischen "Financial Times" noch schroffer aus: "Statt fortwährend den Russen die Schuld an allem zu geben, würden Sie ein besseres Maßgefühl demonstrieren, wenn Sie ab und zu Ihr Feuer auf die egoistischste Administration seit Franklin D. Roosevelt dem amerikanischen Isolationismus ein Ende setzte, die obendrein auf nichts reagiert, richten würden."

Die Amerikaner hätten wirklich nichts dagegen, erneut ein Wettrüsten zu entfesseln, das seinerzeit die Kräfte der UdSSR unterminierte und das kommunistische Imperium zum Krach führte. Das ist eine erprobte und effektive Methode, zumal die militärischen Bewilligungen der USA mehr als 15-mal so hoch sind, wie die russischen. Im Vergleich mit jenen, vergangenen Zeiten hat Washington also ein kolossales Prä.

Gesagt sei, dass diese Absicht keineswegs von einem pathologischen Hass auf Russland herrührt, wie einige Menschen denken. Es ist einfach so, dass die Vereinigten Staaten keinen Rivalen brauchen. Sie genießen die Rolle des alleinigen Weltführers viel zu sehr. Aber ein starkes Russland, das eine selbstständige Politik verfolgt, ist sowohl ein Hindernis für die prätentiösen Pläne Bushs als auch ein schlechtes Beispiel für alle Übrigen. Und wenn dem so ist, werden die USA mit dem Beistand ihrer Verbündeten in Europa im Einklang mit dem strategischen Plan für 2007 - 2012 "dem negativen Verhalten Russlands eine Abfuhr erteilen". Es stört die amerikanische Administration herzlich wenig, dass dies von den durch Washington überall in der Welt durchgesetzten "demokratischen Prinzipien" doch etwas abweicht.

Aber die Geheimnisse der amerikanischen Strategie sind dermaßen auffällig mit blauem Zwirn genäht, dass Russland darauf wohl kaum hereinfallen wird. Präsident Putin erklärte in einem Interview für Journalisten aus den G8-Ländern, dass Russland sich nicht in ein Wettrüsten einbeziehen lassen wird, das ihm aufgezwungen wird. Russland wird, sagte der Präsident, "nicht spiegelgleich", sondern mit anderen, wohl gemerkt nicht minder effektiven Methoden und Mitteln darauf antworten.

Dass eine Antwort kommt, steht außer Zweifel. Die amerikanischen Massenmedien mögen noch so oft von rein defensiven Aufgaben des neuen ABM-Systems reden, es bleibt trotzdem eine Waffe. Eigentlich können moderne Radarstationen und Abfangraketen auch nichts Anderes sein. Der Sicherheitsexperte vom Österreichischen Institut für Internationale Politik Dr. Heinz Gärtner äußerte in diesem Zusammenhang, dass es im Bewaffnungsprozess keine rein defensiven Aspekte gebe. Und der preußische Stratege Carl von Clausewitz zeigte bereits im 19. Jahrhundert überzeugend genug, dass Überlegenheit nur durch die Kombination von offensiven und defensiven Möglichkeiten gesichert werden kann.

Vorläufig hält sich Russlands Reaktion auf die verstärkte Präsenz der USA in Europa und die NATO-Osterweiterung in den Grenzen von politischen und diplomatischen Schritten. So verwies Wladimir Putin in seiner Botschaft an die Föderale Versammlung der Russischen Föderation warnend darauf, dass die NATO durch die Aufnahme neuer Mitglieder in den Pakt und die Entfaltung eines ABM-Systems an der russischen Grenze gegen alle früheren Vereinbarungen über das Kräftegleichgewicht verstößt. Deshalb hält es Russland für möglich, ein Moratorium über seine Teilnahme am Vertrag über die konventionellen Waffen in Europa zu verhängen.

Aber nicht nur das. Putin teilte außerdem mit, dass für die russischen Raketen neue Ziele in Europa hinzukommen werden, wenn ein Teil des strategischen nuklearen US-Potentials auf dem europäischen Kontinent stationiert und Russland gefährdet wird. Daran können uns keinerlei ABM-Systeme hindern, da bei uns die Erprobungen des modernisierten Raketenkomplexes "Iskander" gerade abgeschlossen worden sind. Der aber ist imstande, beliebige solche Objekte zu vernichten.

Dennoch wünscht unser Land am wenigsten eine neue Konfrontation. Das bestätigte der russische Präsident, als er während des G8-Gipfels in Deutschland den Vereinigten Staaten anbot, die Radarstation in Gabala (Aserbaidschan) gemeinsam zu nutzen. Sind die USA tatsächlich über die iranische Gefahr so sehr besorgt, so kann diese Station jeden Raketenstart weit effektiver verfolgen.

In der NATO wurde die Idee mit Billigung und zweifellos mit Erleichterung aufgenommen. Da beeilte sich aber der Pentagon-Chef Gates zu erklären, dass die USA Russlands Angebot als Ergänzung zu den Elementen ihres ABM-Systems in Europa und nicht als Alternative dazu betrachten. Ihn unterstützte auch Condoleezza Rice. Zum Glück gibt es drüben auch Menschen mit kühleren Köpfen. Präsident Bush hat sein endgültiges Wort ebenfalls noch nicht gesagt.

Der große russische Schriftsteller Anton Tschechow schrieb seinerzeit: Wenn im 1. Akt eines Stückes ein Gewehr an der Wand hängt, muss es im letzten Akt abgefeuert werden. Im Moment reden die Amerikaner den Europäern ein, sich ein solches Gewehr anzuschaffen. Diese müssen aber dessen eingedenk sein, dass das Gewehr nicht im amerikanischen, sondern im europäischen Haus losgehen wird. Anders ausgedrückt: Bevor die Vorstellung begonnen hat, wäre es ratsam, über die Elemente des Bühnenbildes gründlich nachzudenken.

* Zum Autor: Andrej Wassiljew ist militärischer Kommentator.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.


Quelle: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 1. Juli 2007;
http://de.rian.ru



Treffen Putin-Bush soll Klarheit über Zukunft des globalen Raketenabwehrsystems bringen

Von Alexander Karawajew **

Ob Wladimir Putins „Gabala-Initiative" von Washington akzeptiert oder abgelehnt wird - jeder Ausgang wird eine radikale Wende in den bilateralen Beziehungen nach sich ziehen und die Umrisse der globalen Sicherheit ändern.

Wenn das Angebot, aus welchem Grund auch immer, abgelehnt wird, muss dies der Kreml als ein weiteres Argument dafür bewerten, dass die Stationierung von Segmenten des globalen Raketenabwehrsystems in Osteuropa „offensive" Ziele hat.

Eine Zustimmung der Amerikaner würde aber den Kreml in eine prekäre Situation bringen: Er wird entweder den USA-Plänen für die Stationierung von ABM-Teilen in Osteuropa zustimmen oder seine Gabala-Initiative zurücknehmen müssen. Bestenfalls wird die Radarstation im aserbaidschanischen Gabala als ein zusätzliches Objekt des Raketenabwehrsystems eingesetzt, das eher die Rolle eines politischen Symbols der russisch-amerikanischen Freundschaft im postsowjetischen Raum spielen wird.

Bereits jetzt ist es offensichtlich, dass Washington bei jedem Szenario auf die Stationierung eines globalen Raketenabwehrsystems, darunter auch vor Russlands Grenzen, nicht verzichten wird. Es geht nur um die Termine und Dimensionen dieser Stationierung sowie um die Bedingungen, zu denen Russland diese Objekte kontrollieren könnte. Die Chancen, die Amerikaner zu einem Verzicht auf die Stationierung der ABM-Objekte in Polen und Tschechien zu bewegen, sind praktisch gleich Null.

Hier sind wir aber bei der zentralen Frage angelangt, um die vorerst keine große Diskussion geführt wird. Es geht um zwei Möglichkeiten, aus der Sackgasse herauszukommen. Variante eins: Ein neues internationales ABM-Abkommen nach dem Muster des sowjetisch-amerikanischen ABM-Vertrags von 1972 zu schließen, aus dem die USA 2002 mit Russlands Zustimmung angesichts der Ereignisse vom 11. September 2001 ausgestiegen sind. Variante zwei: eine vollwertige und gleichberechtigte russisch-amerikanische Partnerschaft auf diesem Gebiet.

Russland ist nicht in der Lage, die amerikanischen Raketenabwehrobjekte in vollem Umfang zu kontrollieren - sei das in Osteuropa oder anderswo auf der Welt. Wäre es denn überhaupt praktisch real? Im März waren aus dem Weißen Haus Andeutungen auf eine mögliche Kooperation zu vernehmen. Für die Beobachter blieb es allerdings unklar, in welcher Form das geschehen soll. Die Chefs des russischen Verteidigungsministeriums und des Generalstabs erklärten damals eindeutig, eine Beteiligung am amerikanischen Raketenabwehrsystem sei zumindest in der nächsten Perspektive nicht möglich.

In der Tat: Es wäre zu unrealistisch und zu ungewöhnlich, sich eine russisch-amerikanische Gefechtsbesatzung des zukünftigen Raketenobjekts in Polen vorzustellen. Wenn es aber nicht gelingt, die amerikanischen ABM-Absichten zu durchkreuzen, so sollte man sich diesen Plänen anschließen und womöglich die Führung übernehmen - dies war wohl Putins Überlegung gewesen, als er überraschend seine „Gabala-Initiative" unterbreitete.

Deshalb könnte beim Treffen im US-Bundesstaat Maine durchaus das Thema einer gemeinsamen russisch-amerikanischen Nutzung von Teilen des globalen Raketenabwehrsystems auftauchen. Ein solcher Schritt wäre als eine Fortsetzung der „Gabala-Initiative" ohne weiteres logisch: Wenn russische Militärs in den Objekten in Osteuropa nicht als Beobachter, sondern als Teilnehmer präsent sein würden, so würde die gesamte Situation einen anderen Charakter bekommen. Natürlich würden Zweifel und Einwände entstehen. Klar ist es äußerst schwierig, ein neues integriertes Militärsystem zu bilden. Im Grunde genommen könnte dieses Szenario als ein überaus langfristiger Prozess in Angriff genommen werden. Wenn es aber gestartet wird, so würden die politischen Vorteile für Russland viel eher kommen, als seine vollwertige militärische Realisierung, wie die USA sich diese vorstellen. In einem solchen Fall würde Russland gemeinsam mit den amerikanischen Partnern gleichberechtigt in ehemalige Warschauer Vertragsstaaten bzw. frühere Teilrepubliken der Sowjetunion zurückkehren. Eine solche Rückkehr Russlands wäre für Polen und Tschechien absolut überraschend, für das antirussisch eingestellte Georgien wäre dies gewissermaßen sogar ein „Schock". Natürlich würde dies Putin Pluspunkte im Westen bringen, zugleich wäre das aber ein Beispiel für eine reale militärstrategische Zusammenarbeit zwischen Russland und den USA im postsowjetischen Raum.

Nach dem heutigen Stand zeugen dennoch alle Erklärungen des Kremls davon, dass eine gleichberechtigte Teilnahme am amerikanischen Raketenabwehrsystem für Russland nicht möglich ist. Was bleibt aber in einer Situation, wo es nicht gelingt, die USA vom Kurs auf einen weltweiten Ausbau des ABM-Systems abzubringen? Es bleibt, sich über gegenseitige Kontrolle und Beobachtung zu einigen. Der Status eines „Beobachters, der das ABM-System kontrolliert", muss aber für Russland unbedingt in einem internationalen Abkommen von einem hohen Status verankert werden. Memoranden und mündliche „Gentleman Agreements" zwischen den Präsidenten und den Verteidigungsämtern würden nämlich im Endeffekt dazu führen, wovon Putin in seiner Münchener Rede gesprochen hat: Ihr habt uns versprochen, die Nato nicht zu erweitern, heute steht sie aber vor unseren Grenzen.

Die Situation wird sich ständig ändern. Eine Zulassung bzw. Nichtzulassung von Beobachtern zu diesen Objekten wird der jeweiligen momentanen politischen Konjunktur untergeordnet, wenn es kein russisch-amerikanisches ABM-Abkommen geben wird. Insofern stößt das Problem der Nutzung der Radarstation Gabala unter anderem auf das zentrale Problem der Sicherheitsstrategie, die beide Seiten bereits jetzt für sich konzipieren.

Außerdem müsste es in einem solchen neuen Vertrag nicht nur um die Rechtsgarantien einer offenen Kontrolle über das Raketenabwehrsystem gehen, sondern auch um den Rahmen der Entfaltung dieses Systems: Wenn es auch nicht gelingen sollte, das globale amerikanische ABM-System auf einige wenige Objekte zu beschränken, so könnte der Prozess der Stationierung selbst durch verschiedene bilaterale Abstimmungsprozeduren erschwert werden.

Vorerst, in der Zeit zwischen dem G8-Gipfel, bei dem die „Gabala-Initiative" unterbreitet wurde, und dem Treffen der Präsidenten der USA und Russlands auf der Familienranch der Familie Bush am 1. Juli, wirkt die Situation aussichtslos. Diese Sackgasse ist zwar nicht so dramatisch wie das Kosovo-Problem, dennoch ist in den russisch-amerikanischen Beziehungen erstmals seit dem Ende des Kalten Krieges ein Problem mit der nuklearen Abschreckung entstanden. Abgesehen von der generellen Abkühlung der politischen Beziehungen zwischen Russland und den USA und der damit verbundenen Rhetorik - das ABM-Problem lässt Fragen entstehen, die sich nicht kurzfristig und auch nicht mit PR-Methoden lösen lassen. Vorerst sprechen die Seiten in verschiedenen Sprachen, und ihre Positionen kommen einander nicht näher. Die Diskussion kann zwar ewig lange dauern, das Treffen Putins und Bushs muss aber eine gewisse Klarheit bringen. Diese ist um so notwendiger, weil im kommenden Herbst eine neue Verhandlungsetappe über die nächste Phase des START-2-Abkommens beginnen soll, das 2009 abläuft.

In jedem Fall ist eine überaus spannende Lösung dieser einmaligen politischen Intrige zu erwarten, deren Auslegungen es verdienen würden, in die Lehrbücher der neuesten Geschichte einzugehen.

** Unser Autor, Alexander Karawajew, ist Mitarbeiter des Informationspolitischen Zentrums bei der Moskauer Staatlichen Universität.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

Quelle: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 30. Juni 2007;
http://de.rian.ru



Zurück zur Russland-Seite

Zur USA-Seite

Zur Seite "ABM-Vertrag, Raketenabwehr"

Zurück zur Homepage