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Stabilität oder Wettrüsten

Die Gipfel-Alternative für Russland und die USA

Von Wolfgang Kötter *

Zu einem "strategischen Dialog" hat US-Präsident George W. Bush seinen Moskauer Gegenpart Wladimir Putin ins nordöstliche Maine eingeladen, auf den Sommersitz des Bush-Clans im noblen Ferienort Kennebunkport. Hier sollen in entspannter Atmosphäre einige der Probleme erörtert werden, die sich in letzter Zeit zahlreich angesammelt und zugespitzt haben. Aber hinter allen steht letztlich eine zentrale Frage: Was geschieht mit der strategische Stabilität zwischen den beiden Weltmächten und Atomwaffenstaaten, deren Vernichtungspotential ausreicht, um die gesamte Menschheit auszulöschen? Entweder akzeptieren sie, dass Sicherheit nicht durch unilaterale Politik gegeneinander, sondern nur gemeinsam zu erringen ist. Oder sie werden in einem neuen Rüstungswettlauf bar jeder Regeln und Schranken nach strategischer Überlegenheit streben bzw. diese bei der Gegenseite zu verhindern suchen - mit verheerenden Konsequenzen, auch für den Rest der Welt.

Der Kreml empfindet die Absicht Washingtons, in Polen und Tschechien Elemente einer Raketenabwehr zu errichten als einen Versuch, sich eine entwaffnende Erstschlagskapazität zu verschaffen und die strategische Stabilität zwischen beiden Mächten auszuhebeln. Verständlicherweise sieht Moskau einer solchen Entwicklungen nicht tatenlos zu,. Da man aber weder Willens noch in der Lage ist, mit gleicher Münze heimzuzahlen, wird an "asymmetrischen" Antworten gearbeitet (siehe Infokasten). Die USA erhalten durch die geplante Radaranlage unmittelbare Informationen über alle Tests von Langstreckenraketen in Zentralrussland und bei der Nordmeerflotte. Sie können innerhalb einer Minute den Start einer russischen Rakete identifizieren, mathematische Modelle der wahrscheinlichen Flugbahn berechnen, um sie anschließend abzuschießen.

Russische Militärs befürchteten, dass dadurch ihre Fähigkeit zu einem nuklearen Antwortschlag dezimiert wird. Die Zahl von jetzt zehn geplanten Abschussrampen in Polen wird höchstwahrscheinlich noch anwachsen. Die dort stationierten Raketen werden mit Kassetten von jeweils 30 bis 40 kinetischen "Hit-to-Kill"-Sprengköpfen ausgerüstet sein und könnten eines Tages zu Angriffswaffen umfunktioniert werden. Um einen Beschuss der russischen Raketensilos zu verhindern, müssten sie deshalb vorher ausgeschaltet werden. Diese Botschaft versucht Moskau den potentiellen Stationierungsländern mit der Warnung zu vermitteln, als Herberge der US-amerikanischen Systeme würden sie ins Visier russischer Raketen geraten. "Wir haben jetzt neue Raketensysteme auf strategischer und auf taktischer Ebene", verkündete Russlands Vize-Premier und potentieller Putin-Nachfolger Sergej Iwanow. "Diese Systeme können jede gegenwärtige und künftige Raketenabwehr schlagen."

Der russische Präsident Putin ist mit seinem überraschenden Vorschlag, ein gemeinsames Abwehrsystem zu errichten und dafür auf den geplanten osteuropäischen Radar zu verzichten, in die diplomatische Offensive gegangen. Seiner Ansicht nach sollte schrittweise eine kollektive Raketenabwehr errichtet werden, die auch andere NATO-Staaten einbezieht.

Zu Beginn könnte die bereits seit über zwanzig Jahren arbeitende aserbaidschanische Radaranlage bei Gabala als russisch-amerikanischer Militärstützpunkt genutzt werden. Die 220 km nordwestlich von Baku gelegene Installation ist bis 2012 für jährlich 7 Mio. Dollar an Russland verpachtet, und Präsident Alijew hat bereits sein Einverständnis mit einer Teilnahme der USA signalisiert. Wenn dann ein Land wie beispielsweise Iran eine Langstreckenrakete testet, würde das vom Radar registriert werden und der zweite Schritt der Raketenabwehr folgen. Da bis zur Indienststellung der neuen Raketen etwa drei bis fünf Jahre vergehen, könnte nach russischen Vorstellungen in dieser Zeit eine wirksame Raketenabwehr aufgebaut werden. Wenn die USA das Vorgehen akzeptieren, wären die für Osteuropa geplanten Anlagen entbehrlich und Russland würde darauf verzichten, seine Raketen auf konkrete Ziele in Europa zu programmieren. Mögliche Raketentrümmer fielen dann ins Wasser und nicht auf europäischen Boden. Die Alternative am Kaspischen Meer berücksichtigt somit auch die Befürchtungen der Bevölkerungsmehrheiten in Polen und Tschechien. Die Radarstation in Aserbaidschan richtet sich nach Süden und Osten und kann deshalb Russland schon aus technischen Gründen nicht überwachen. Die amerikanische Reaktion wird gewissermaßen zu einem Lackmustest für Washingtons Beteuerung, keine antirussischen Absichten zu hegen. Allerdings ist selbst unter den idyllischen Bedingungen des Maine-Gipfels eine schnelle Einigung nicht zu erwarten.

Als nächstes werden sich gemeinsame Arbeitsgruppen der Außen- und Verteidigungsministerien mit den Vorschlägen beschäftigen.

"Asymmetrische" Antworten:

Russland entwickelt mehrere Raketentypen als Reaktion auf die erwarteten Bedrohungen:
  1. Die interkontinentale Langstreckenrakete "Topol-M" (SS-27) hat eine Reichweite von rund 6 500 km, kann bis zu 10 individuell lenkbare Mehrfachsprengköpfe tragen und nähert sich ihrem Ziel im Zickzack-Kurs. Militärangaben zufolge bewirken Steuerflossen und kleine Triebwerke am Raketenrumpf zufällige Abweichungen von der ballistischen Flugbahn und erzeugen eine "semiballistische Flugbahn", die Kursberechnungen für die Abwehrraketen nahezu unmöglich machen. Die Rakete wurde im Mai mit einem Start vom Übungsplatz Plessetzk nahe dem nordwestlichen Archangelsk und dem Erreichen des Ziels im Testgelände Kura auf der Kamtschatka-Halbinsel im Pazifik am anderen Ende des Landes erfolgreich getestet. Aber die behauptete Unverwundbarkeit gilt nur für Abfangoperationen während der Mittelflugphase im Weltraum (Midcourse Phase) und für den Zielanflug (Terminal Phase). Verwundbar bleiben die Raketen in der Startphase (Boost Phase). Während dieser wenigen Minuten entsteht starke Hitze und die Flugkörper bewegen sich noch mit relativ geringer Geschwindigkeit. Zu diesem Zeitpunkt können sie von gegnerischen Sensoren leicht erfasst und mit nahebei stationierten Raketen vernichtet werden.
  2. Die für die Stationierung auf neuen U-Booten der Borei-Klasse vorgesehene Interkontinentalrakete Bulawa (SS-NX-30) kann bis zu 8 000 km zurücklegen und 10 Mehrfachsprengköpfe tragen, die jeweils eigenständig ihr Ziel auf wechselnden Flugbahnen ansteuern und Abwehrraketen ausweichen. Es handelt sich um eine zweistufige Feststoff-Rakete, die aus dem aufgetauchten oder aus dem getauchten Zustand verschossen werden kann. Bei einem kürzlichen Testflug vom U-Boot "Dmitri Donskoi" im nordrussischen Weißen Meer abgefeuert, erreichte sie präzise ihr Ziel im fernöstlichen Testgelände Kura auf Kamtschatka.
  3. Zu den für taktische Missionen vorgesehenen Waffen gehört die kürzlich ebenfalls erfolgreich erprobte Rakete vom Typ "Iskander-M" (SS-26). Hierbei handelt es sich um eine Cruise Missile, die knapp 300 km weit fliegen kann. Von der Region um Kaliningrad aus könnten diese Flügelraketen die im nordöstlichen Polen geplante Raketenbasis innerhalb weniger Minuten ausschalten. Raketen mit größerer Reichweite wie etwa die mobilen "RSD-10 Pionier", die über 600 km weit fliegen kann, sind zur Zeit noch durch den bilateral mit den USA abgeschlossenen INF-Vertrag über Mittelstreckenwaffen verboten. Führende Politiker und Militärs haben jedoch mehrfach die Möglichkeit angedeutet, aus dem Vertrag auszusteigen. Bis zum nächsten Jahr sollen 10 Bulawa-Raketen folgen und bis 2015 69 Topol-M- und 60 Iskander-M-Raketen in Dienst gestellt werden.


* Dieser Beitrag erschien - gekürzt um den Kasten und leicht verändert - unter dem Titel "Der Lackmustest heißt Gabala" am 2. Juli 2007 im "Neuen Deutschland".


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