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Ultranationalisten marschierten in Moskau

"Russischer Marsch" wird offenbar salonfähig

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Unter schwarz-gelb-weißen Zarenfahnen, Kreuzen und Ikonen zogen Tausende Teilnehmer des »Russischen Marsches« am Sonntag am Moskwa-Ufer entlang. Auch in anderen Städten zwischen Kaliningrad und Wladiwostok marschierten Hunderte Nationalisten auf.

Migranten hatten von Moskaus Oberbürgermeister Sergej Sobjanin gefordert, den »Russischen Marsch« ultrarechter Nationalisten zu verbieten oder wenigstens auf ein anderes Datum zu verschieben. Der 4. November wird im neuen Russland als »Tag der Volkseinheit« begangen. Der Aufmarsch der Ultranationalisten stehe jedoch in krassem Widerspruch zu den erklärten Zielen des höchsten Staatsfeiertags.

Auch Ruslan Gattarow - er sitzt für eine der nordkaukasischen Republiken im russischen Föderationsrat - hatte sich an Sobjanin gewandt. Im Moskauer Stadtzentrum stünden »Symbole Russlands, vor denen Hakenkreuzträger nicht für Fotos posieren dürfen«. Stadtregierung und Stadtparlament verlangten jedoch konkrete Beweise für Verstöße gegen das Versammlungsgesetz. Erst dann könne man einschreiten. An der Metrostation »Tretjakowskaja« nahm die Polizei am Sonntag nach eigenen Angaben denn auch rund 25 Rechtsextreme in schwarzen Hakenkreuz-Uniformen fest.

2005, beim ersten »Russischen Marsch«, war die Polizei blind und taub, als Nationalisten und Neonazis in Sichtweite des Kremls den hakenkreuzbewehrten Arm erhoben, »Russland den Russen« grölten und für die Vertreibung der Kaukasier - Bürger Russlands - mobilmachten. In den letzten Jahren hatte die Stadt die Kundgebung daraufhin nur in einem Vorort genehmigt. Doch weil den Nationalisten die Schlafstadt Ljublino nicht passte, durften sie diesmal auch im Zentrum marschieren. Die Organisatoren brüsteten sich mit gut 20 000 Marschteilnehmern, die Polizei - mit 2000 eigenen Kräften angerückt - zählte 6000 Demonstranten, die auch gegen Präsident Wladimir Putin protestierten. Der prominente Putin-Gegner Alexej Nawalny erschien entgegen seiner Ankündigung nicht. Angeblich war er krank. Kritiker werfen ihm vor, populistische Forderungen nach Visumspflicht für Gastarbeiter aus dem Kaukasus oder Zentralasien zu unterstützen. Bürgerrechtler und Migrantenverbände haten gewarnt, die Genehmigung des »Russischen Marsches« in Moskau verschärfe die ethnischen Probleme im Vielvölkerstaat. Sie warnten vor einer Hetzjagd auf Gastarbeiter aus dem Kaukasus oder Zentralasien.

Wladimir Putin selbst legte am Sonntag auf dem Roten Platz am Denkmal für Minin und Posharski Blumen nieder. Am 4. November 1612 hatten die Moskauer unter Führung des Bürgers Kusma Minin und des Fürsten Dmitri Po-sharski die Stadt von polnisch-litauischen Eindringlingen befreit. Als das Datum 2005 als Ersatz für den 7. November, den Jahrestag der Oktoberrevolution 1917, zum Staatsfeiertag erklärt wurde, warnten Historiker: Die Masse der Bevölkerung wisse mit so lange zurückliegendem Ruhm russischer Waffen nichts anzufangen und werde weiter den 7. November feiern. Und die Nationalisten könnten aus der Vertreibung der Okkupanten vor 400 Jahren falsche Schlüsse für die Gegenwart ziehen. Genau so kam es.

Beobachter irritiert nicht nur, dass die Teilnehmerzahlen des »Russischen Marsches« steigen. Für bedenklicher halten sie, dass sich für dieses Jahr auch viele Besserverdienende der Generation 30 plus angemeldet hatten, die als harter Kern der Anti-Putin-Proteste gelten. Die Grenzen zwischen beiden werden angesichts latenter Unzufriedenheit offenbar immer fließender. Einer der Organisatoren des »Russischen Marsches«, Wladimir Tor, Chef der halblegalen Nationaldemokratischen Partei, ist Mitglied des Koordinationsrates der Protestbewegung. Er kassierte bei der Wahl vor zwei Wochen fast die Hälfte der Stimmen, die der Sieger Alexej Nawalny abräumte. Und den Morgensprechern bei Radio »Echo Moskwy« - den Sender hören vor allem liberale Intellektuelle - verschlug es vor Schreck die Spucke, als bei einer interaktiven Abstimmung 45 Prozent den »Russischen Marsch« guthießen.

In Jekaterinburg am Ural wurden nach Angaben eines Polizeisprechers 90 Teilnehmer festgesetzt. Dort hatten die Behörden den Marsch nicht genehmigt. Die Festgenommenen, darunter Minderjährige, sollen nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten belangt werden.

* Aus: neues deutschland, Montag, 05. November 2012


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