Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Tödliche Geschäfte

Das rasante Wachstum der Rüstungsindustrie mildert den Absturz der russischen Wirtschaft

Von Tomasz Konicz *

Es gibt eine Branche in Rußland, die sich als überaus krisenfest erweist. Die mit der Militärindustrie des Landes in Zusammenhang stehenden Wirtschaftsbereiche haben laut Vizepremier Sergej Iwanow im ersten Quartal 2009 gegenüber dem Vorjahreszeitraum ihre Produktion um 2,5 Prozent steigen können. »Es gibt hier nicht mal einen Hauch von Krise oder makroökonomischen Problemen«, so Iwanow auf einer Pressekonferenz am 2. Juni. Auch Alexander Fomin, Vizedirektor der Föderalen Agentur für Militärkooperation, betonte die gute internationale Auftragslage russischer Rüstungsschmieden, deren Produktionskapazitäten nahezu ausgereizt seien: »Die Industrie kann sich nicht endlos dehnen, wie eine Gummitasche. Wie in anderen Ländern, so hat auch unsere Rüstungsindustrie ihre Grenzen.« Das Abarbeiten der bereits erhaltenen Aufträge würde Fomin zufolge den Militärisch-Industriellen-Komplex Rußlands für die kommenden Jahre voll auslasten.

Es ist insbesondere die starke Nachfrage aus dem Ausland, die die nationale Militärindustrie in die Lage versetzt, der Krise zu trotzen, die Rußland ansonsten fest im Griff hat. So ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im ersten Quartal 2009 im Jahresvergleich um 9,8 Prozent geschrumpft. Im April 2009 beschleunigte sich der Abschwung sogar noch auf minus 10,5 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat. Die Waffenschmieden zwischen Leningrad und Wladiwostok bilden den einzigen global erfolgreichen Sektor russischer Hochtechnologie, während das Land ansonsten hauptsächlich als Lieferant von Rohstoffen und Energieträgern fungiert. Laut der russischen Nachrichtenagentur RIA-Novosti sind 2,5 bis drei Millionen russischer Lohnabhängiger vom Militärisch-Industriellen Komplex abhängig. Dies seien 20 Prozent aller in der Fertigungsindustrie beschäftigten Menschen.

Auch für dieses Jahr geht der staatliche Militärgüterexporteur Rosoboronexport – trotz Weltwirtschaftskrise – von weiter wachsenden Umsätzen aus. Man steigere den Wert der Ausfuhren kontinuierlich um umgerechnet 700 bis 800 Millionen US-Dollar jährlich, erklärte Waleri Warlamow von Rosoboronexport kürzlich auf einer Pressekonferenz, und »2009 wird hier keine Ausnahme sein«. Kriegswerkzeug im Wert von 6,75 Milliarden US-Dollar habe der staatliche Exportmonopolist im Jahr 2008 in alle Welt geliefert, während sich der Wert der im vergangenen Jahr gesicherten Aufträge für die russische Rüstungsindustrie auf 27 Milliarden US-Dollar beläuft. Über mangelnde Nachfrage in Krisenzeiten kann Warlamow wahrlich nicht klagen: »Wir hätten Deals in Höhe von 50 Milliarden US-Dollar abschließen können, aber wir taten das nicht und beließen es bei 27 Milliarden. Wir glauben, dieser Zahlen sind realistisch.« Kampfflugzeuge bilden mit einem Anteil von 50 Prozent den wichtigsten Exportartikel der Rüstungsindustrie, gefolgt von Luftverteidigungssystemen, Militärausrüstungen für Bodentruppen und Marineausrüstung.

Dieser boomende Markt für Tötungswerkzeuge aller Art wird durch die global stetig wachsenden Militärausgaben angefacht. Einer Studie des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) zufolge kletterten die weltweiten Rüstungsaufwendungen im Krisenjahr 2008 auf 1,464 Billionen Dollar. Gegenüber 2007 stiegen diese um sieben Prozent, in Vergleich zu 1999 wuchs das globale Militärbudget sogar um 45 Prozent. Die Aufwendungen für die weltweit größte Militärmaschinerie der Vereinigten Staaten bezifferte das SIPRI auf 607 Milliarden US-Dollar. Mit weitem Abstand folgen China (84,9 Milliarden Dollar), Frankreich (65,7 Milliarden Dollar), Großbritannien (65,3 Milliarden Dollar) und Rußland (58,6 Milliarden Dollar). Als treibende Faktoren für die Mehrausgaben benennt das SIPRI die Kriege im Irak und Afghanistan, die Rückkehr Rußlands auf die Weltbühne und den rasanten Aufstieg Chinas.

China zählt neben Indien zu den wichtigsten Abnehmern der russischen Rüstungsindustrie, doch inzwischen geht der Anteil dieser beiden »Stammkunden« langsam zurück – von 18 Prozent aller Exporte im Jahr 2007 auf 16 Prozent 2008. Der Schwerpunkt der militärischen Zusammenarbeit Moskaus mit China und Indien liegt mittlerweile auf der gemeinsamen Entwicklung neuer Waffensysteme. Insbesondere mit Indien hat Rußland Technologiekooperationen auf den Weg gebracht. Hierbei handelt es sich um die Entwicklung ferngelenkter Ultraschallraketen und eines modernen Kampfflugzeugs der fünften Generation.

Deutliche Absatzsteigerungen sind auf den Waffenmärkten im Mittleren Osten und in Lateinamerika zu verzeichnen. Zu den neuen Kunden von Rosoboronexport zählen Länder wie Sri Lanka oder Algerien und auch die NATO-Mitglieder Türkei und Slowakei. Noch vor zwei Jahren wurde der Vorstoß der russischen Rüstungsindustrie nach Lateinamerika, in den »Hinterhof« der USA, mit Staunen betrachtet. Venezuela hatte weitreichende militärische Kooperationsverträge mit dem Kreml abgeschlossen. Doch inzwischen scheint sich in dieser Region Moskau als eine feste Größe etabliert zu haben: Neben Venezuela gehören Brasilien, Bolivien und Nicaragua zu den Kunden der russischen Militärindustrie.

* Aus: junge Welt, 1. Juli 2009


Zurück zur Russland-Seite

Zur Seite Rüstungsproduktion, Rüstungsexport

Zurück zur Homepage