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Prozess vorm Chamowniki-Gericht

Drei Frauen müssen in Moskau wegen »Anstiftung zu religiösem Hass« verantworten

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Nach knapp fünf Monaten Untersuchungshaft beginnt heute der Prozess gegen drei Frauen der feministischen Punkband Pussy Riot. Wegen ihres »Punk-Gebets« in der Moskauer Christi-Erlöser-Kirche drohen den Frauen bis zu sieben Jahre Straflager. Menschenrechtler kritisieren den Prozess als Justizskandal.

Ausgerechnet im Moskauer Chamowniki-Gericht, wo gegen den ehemaligen Ölmagnaten und Jukos-Chef Michail Chodorkowski ein aus Sicht der Opposition politisch motiviertes Urteil wegen Diebstahls von Rohöl und Geldwäsche erging, beginnt heute ein ähnlich spektakulärer Prozess: Drei junge Frauen - Mitglieder der feministischen Punk-Gruppe Pussy Riot - müssen sich wegen Anstiftung zu religiösem Hass verantworten. Ein Vergehen, das mit bis zu sieben Jahren Haft geahndet werden kann.

Mit Häkelmasken vor dem Gesicht, sonst aber ziemlich dürftig bekleidet, waren die Punkerinnen im Februar - zwei Wochen vor den Präsidentenwahlen - vor dem Altar der Moskauer Christ-Erlöser-Kirche, die für orthodoxe Christen etwa die Bedeutung hat wie Roms Petersdom für die Katholiken, in Stellung gegangen, hatten mit schrillen Klängen die Gottesmutter gebeten, Putin zu vertreiben und dabei die orthodoxe Liturgie persifliert. Kirchendiener beendeten das Spektakel nach wenigen Minuten, drei der fünf Damen wurden festgenommen und sitzen seither in Untersuchungshaft: Maria Aljochina, Nadeshda Tolokonnikowa und Jekaterina Samuzewitsch. Zwei von ihnen sind Mütter kleiner Kinder, doch die Punk-Ladies stellen angeblich eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar.

Die Staatsanwälte griffen bei der Abfassung der Klageschrift trotz Trennung von Kirche und Staat sogar auf Beschlüsse von Konzilen zurück, die der byzantinische Kaiser Justinian vor 1500 Jahren einberief, um den Kleidungs- und Verhaltenskodex in Gotteshäusern zu regeln.

Zwar kritisierte auch die demokratische Öffentlichkeit das Punk-Spektakel als Geschmacksverirrung und groben Unfug. Doch darauf stehen höchstens 15 Tage Arrest, Geldbußen und gemeinnützige Arbeit. Staubwedeln von den Monstranzen etwa.

Das, glaubt ein Kommentator, hätte für die Punkerinnen ohnehin heilsamere Wirkung als Haft: Aus russischen Vollzugsanstalten sei noch niemand geläutert in die Freiheit entlassen worden. Doch angesichts neuer Massenproteste im Herbst, wenn womöglich soziale Einschnitte greifen, die Kreml und Regierung mit Rücksicht auf die Wahlen im Winter zurückgestellt hatten, wolle die »Macht« offenbar Stärke zeigen. Dies war schon vermutet worden, als die Strafen für Ordnungswidrigkeiten bei Kundgebungen und Aufmärschen drakonisch erhöht und nichtstaatliche Organisationen, die mit westlichem Geld arbeiten, zu »ausländischen Agenten« erklärt wurden.

Forderungen russischer Bürgerrechtler und Kulturschaffender - darunter die populäre Schauspielerin Tschulpan Chamatowa, die für Putin im Präsidentenwahlkampf warb -, im Falle der Punkerinnen christliche Milde walten zu lassen, brachten so wenig wie Proteste westlicher Politiker und Künstler. Sogar Stars der Branche wie Sting, der kürzlich zwei Konzerte in Russland gab, legten sich für Pussy Riot ins Zeug. Russische Kollegen tun sich allerdings trotz aller verbal geäußerten Solidarität schwerer, sie als Künstlerinnen anzuerkennen. Nur durch die »Majestätsbeleidigung«, ätzte Altrocker Juri Schewtschuk, sei die Band zu Weltruhm gelangt.

Das Verfahren gegen sie zeuge nicht von Stärke, sondern von Schwäche der Regierenden, warnte Fernsehjournalist Wladimir Solowjow. Der Pussy-Prozess und die Verschärfung der Gesetze würden den friedlichen Protest radikalisieren und zu einem gewaltsamen Umsturz wie 1917 führen. Es herrsche bereits eine »vorrevolutionäre Stimmung« wie 1912: Zwischen Gelb und Orange. Da könnte etwas dran sein: Mitglieder der Femen - der ukrainischen Schwestern von Pussy Riot - begrüßten Patriarch Kyrill letzte Woche in Kiew mit nacktem Busen, auf dem »Kill Kyrill« stand.

* Aus: neues deutschland, Montag, 30. Juli 2012


Oberpriester Tschaplin: Pussy Riot, Putin und Gottes Liebe

Von Marc Bennetts, RIA Novosti **

Der kurze Seufzer, den sich Oberpriester Wsewolod Tschaplin auf die Frage nach den eingesperrten Punk-Rockerinnen von Pussy Riot erlaubt, ist eine Mischung aus unverhohlenem Überdruss und Irritation über einen Rechtsfall, der die russische Gesellschaft spaltet – und zwar direkt durch die Mitte.

„Ein christliches Land sollte entschieden reagieren, wenn einer seiner heiligen Orte attackiert wird“, setzt er an, seine kräftige Stimme mit dem dunklen Timbre hallt von der hohen Decke der Kirche aus dem 18. Jahrhundert in der Moskauer Innenstadt wider, wo er als Pfarrer wirkt.

Im diesjährigen Frühling, als die russlandweiten präzedenzlosen Demonstrationen gegen Wladimir Putin bereits eingesetzt hatten, brachten vier maskierte Frauen von der damals bereits berüchtigten Frauenband Pussy Riot ihren medienwirksamen Protest gegen die Unterstützung der Kirche für den ehemaligen KGB-Offizier auf die Bühne.

Die Band warf abwechselnd wie beim Can-Can die Beine hoch und bekreuzigte sich vor dem Altar der Christ-Erlöser-Kathedrale, wo die russische Führung traditionsgemäß die religiösen Feiertage begeht – so sah das derbe und atonale „Punk-Gebet“ aus, in dem die „Gottesmutter“ angefleht wurde, „Putin auszutreiben“.

„Wenn jemand mich persönlich beleidigt, werde ich denjenigen selbstverständlich verzeihen“, sagt Tschaplin. „Aber wenn jemand meinen Glauben oder meinen Gott beleidigt, warte ich, bis sie ihre Position ändern und eingestehen, dass sie falsch gehandelt haben.“

„Gott vergibt keine Sünden, die nicht bereut werden“, beharrt der Kirchenmann. „Und es ist eine anti-christliche Idee, anzunehmen, dass Gott alles vergibt.“

Tschaplin, 44, ist der Chef der Synod-Abteilung des Moskauer Patriarchats für Kirchenbeziehungen mit der Gesellschaft. Ohne den Status eines offiziellen Sprechers zu beanspruchen hat sein bereitwilliger Einstieg in die öffentliche Debatte ihn zum de-facto-Beauftragten der Kirche in Sachen Pussy Riot gemacht, während die Wut über die Entscheidung, die drei Frauen – zwei davon haben kleine Kinder – weiterhin in Haft zu lassen, steigt.

Free Pussy Riot?

Drei Mitglieder der Gruppe Pussy Riot – die die Riot-Girl-Musikszene in den USA der 90er-Jahre als eine ihrer Inspirationsquellen bezeichnet – waren im März festgenommen worden und sind seitdem in einer Moskauer Untersuchungshaftanstalt eingesperrt.

Der Fall hat sich mittlerweile sowohl zu einer der politisch brisantesten Rechtsgeschichten im modernen Russland als auch zur Cause célèbre für internationale Verfechter der Meinungsfreiheit entwickelt. Der Kreml-eigene Menschenrechtsbeirat und eine Riege von Stars aus der russischen Kunstwelt traten ebenso vehement gegen die Entscheidung auf, die Frauen, die alle jünger als 30 sind, hinter Gittern zu behalten. Die Anwälte der Gruppe vermuten Druck des Kremls und beschuldigen das Gericht des Rechtsmissbrauchs, der an die „Repressionen der Stalin-Ära“ erinnere.

Die Verdächtigen sehen sich, vielleicht wenig verwunderlich, einer Serie von zunehmend hysterischen Anschuldigungen gegenüber; Satanismus-Vorwürfe gehen einher mit Spekulationen über einen Auftrag ungenannter ausländischer Mächte.

In Kommentaren, die mehr an mittelalterliche Hexenprozesse erinnern, warf ein Anwalt eines Security-Mitarbeiters der Kathedrale, der seit dem Protest über Schlafstörungen klagt, der Gruppe vorige Woche vor, sie würde versuchen, die Gläubiger „mit List und Tücke nicht zu Gott, sondern zu Satan“ zu führen.

„Dahinter stehen die wahren Feinde unseres Staates und unserer Kirche“, sagte der Jurist Michail Kusnetsow der Zeitung „Moskovskie Novosti“. Er äußerte auch die Vermutung, dass Pussy Riot einem globalen Netzwerks von Satanisten angehören, das auch für die 9/11-Terroranschläge in den Vereinigten Staaten verantwortlich sei.

Den Vorschlag, dass die mächtige Orthodoxe Kirche die Wogen mit „christlichem Handeln“ glätten sollte, indem sie sich für Freiheit für Pussy Riot einsetzt, deren Prozess formal erst beginnt, tut Tschaplin ab. Während eine Reihe prominenter Gläubiger ihr Unbehagen über die Haftverlängerung für die Anti-Putin-Punks geäußert haben, hat sich die Kirche öffentlich nicht für deren Freilassung ausgesprochen.

Diese Einstellung steht in Konflikt mit der öffentlichen Meinung, zumindest in Moskau. In einer Umfrage des unabhängigen Levada Zentrums haben sich im Juli 50 Prozent der Moskauer gegen die im Raum stehenden strafrechtlichen Anschuldigungen ausgesprochen – während 36 Prozent sie befürworteten.

„Wenn sie bereuen, wird sich die Einstellung der Kirche ihnen gegenüber ändern. Aber wir können die Entscheidung des Gerichts nicht beeinflussen“, so Tschaplin. „Nach dem Urteil wird es die Chance geben, die Dinge zu evaluieren.“

„Ohne Reue kann es kein Vergeben geben“, fährt er fort und rezitiert eine Weisung des Himmels, die ihm kürzlich in einer Vision erschienen sei, „ und ich sehe nicht, dass sie bereut haben.“

Die Debatte um Pussy Riot hat die Leidenschaften hochkochen lassen – auf beiden Seiten der zunehmend tieferen Kluft zwischen denen, die sie im Gefängnis sehen wollen und denen, die fürchten, dass die Geschichte einen katastrophalen Präzedenzfall für Russland schaffen könnte.

Tschaplin jedoch spricht sein Urteil mit kaum einem Funken Emotion aus, als wäre er sicher in seiner Überzeugung, dass er für Gott höchstpersönlich spricht. Oder als würde der Fall mit all seinen Komplikationen langweilen.

„Also ist alles bereits gesagt“, lächelt er. „Nun sollte man dem Gericht eine ruhige Arbeit ermöglichen.“

Gesellschaft gespalten

Der Fall Pussy Riot spiegelt ein breiteres Thema in Russland wider, wo eine neue, gebildete Mittelklasse nach mehr Mitbestimmung im politischen Leben des Landes sucht und an den Grundfesten von Putins „gelenkter Demokratie“ rüttelt.

Die Kirche war dabei keineswegs Zaungast bei dem, was Putin zuvor einprägsam als „Schlacht um Russland“ bezeichnet hatte.

Weniger als einen Monat vor den Präsidentenwahlen am 4. März feierte das 65-jährige Kirchenoberhaupt Patriarch Kyrill den starken Mann an der Spitze Russlands bei einem von TV-Kameras begleiteten Treffen als den „Retter“ des Landes.

Putin trug ordnungsgemäß seinen Erdrutschsieg für die dritte Amtszeit als Präsident davon.

Dass Kyrills Anerkennung für Putin in irgendeiner Weise unpassend für ein Land sein könnte, dessen Verfassung die klare Trennung von Kirche und Staat vorschreibt, streitet Tschaplin jedoch ab.

„Der Patriarch ist verpflichtet, seine Meinung zu Politikern abzugeben, sei es positiv oder negativ“, sagt er schulterzuckend. „Seine Kommentare waren wenig überraschend.“ Den Schluss, dass das ein inakzeptables Signal an die rund 65 Prozent der Wähler, die sich als orthodoxe Christen bezeichnen, war, welches Kreuzchen auf dem Stimmzettel in diesem Sinn gottgewollt ist, lässt er ebenso wenig gelten.

„Für einen Russisch-Orthodoxen Gläubigen ist es normal, dass Staat und Kirche in Harmonie miteinander kooperieren“, stellt er fest. „Sie sollten dieselben Werte haben und in der Mehrzahl der Sphären miteinander kooperieren.“

Dieser „symphonische Gleichklang“ zwischen der Kirche und dem Kreml ist es, was Tschaplins Ansicht nach das zukünftige politische System im größten Land der Erde formen wird.

„Das russische politische System ist in Entwicklung begriffen, und ich hoffe, dass es sich in Richtung der politischen Traditionen und der politischen Kultur weiterentwickelt, die dem russischen Volk eigen sind, das sich von den Menschen im Westen unterscheidet“, so Tschaplin. „Ich hoffe, dass unser politisches System sich nach und nach vom westlichen Modell abgrenzt. Sowohl der Westen als auch unsere Führung muss das mit der Zeit einsehen.“

„Die Trennung des Säkularen vom Religiösen ist ein fataler Fehler des Westens“, fährt er spontan fort. „Das ist ein monströses Phänomen, das nur in der westlichen Zivilisation aufgetaucht ist und für den Westen den Tod bedeuten wird, sowohl politisch als auch moralisch.“

Der Reichtum der Kirche

Das „Punk-Gebet“ von Pussy Riot war ein Anzeichen für die zunehmende Unzufriedenheit sogar unter den orthodoxen Gläubigen über das, was Kritiker den politischen Einfluss der Kirche nennen und über den luxuriösen Lebensstil der höchsten Kirchenvertreter, um den sich zähe Gerüchte ranken.

Patriarch Kyrill wurde im April zur Zielscheibe von beispielloser Kritik, nachdem er in einem Interview mit einem russischen Journalisten beteuert hatte, eine 30 000 Dollar teure Breguet-Uhr, ein Geschenk, niemals getragen zu haben. Sämtliche Fotos, auf denen er mit der Uhr zu sehen sei, müssen manipuliert worden sein, vermutete er damals.

Adleräugige Blogger jedoch entdeckten rasch auf der offiziellen Webseite der Kirche ein Foto von Kyrill mit der besagten Uhr am Handgelenk. Weniger als 24 Stunden später war die Uhr jedoch per Airbrush aus dem Bild entfernt worden. Zum Pech der Kirche hatte die unaufmerksame Bild-Redakteurin das verräterische Spiegelbild des Luxusgegenstandes auf der blitzblanken Tischoberfläche intakt gelassen, was eine Welle von Online-Spott nach sich zog.

„Es war eine schlechte Idee, die Uhr zu entfernen“, so Tschaplin kurz und bündig. „Reine Dummheit.“

„Aber ich bin der Ansicht, dass der Patriarch das Recht hat, jede Uhr zu tragen, die er möchte“, räumt er ein. „Als ich noch meine eigene Radio-Show hatte, rief mich einmal eine ganz gewöhnliche Frau an und sagte: ‚Wenn ich das Geld hätte, ich würde ihm eine diamantenbesetzte Uhr kaufen, weil er mein Patriarch ist.‘ Die meisten Menschen denken so. Das ist eine Russisch-Orthodoxe Tradition.“

„Sogar in Zeiten des Krieges und der Hungersnot brachten die Menschen ihr wertvollstes Hab und Gut der Kirche dar. In Zeiten der Armut bauten die Menschen Kirchen, schmückten die Kirchen und bauten Residenzen für ihre Bischöfe“, erklärt Tschaplin. „Patriarch Kyrills Stellung in der Kirche setzt eine besondere Erhabenheit voraus. Er ist das Symbol der Kirche von Christ dem Triumphator.“

** Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 26. Juli 2012; http://de.rian.ru


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