Privatisierung – zweiter Akt?
Auseinandersetzungen um die "soziale Sphäre" sind programmiert
Von Kai Ehlers *
An der Weichenstellung Russlands wurde lange hantiert. Aber erst nach der Amtseinführung des
neuen Präsidenten kann der Zug abgepfiffen werden. Es geht keineswegs um pure Stabilisierung
des »Systems Putin«, sondern um die Einleitung einer neuen Phase von Reformen, um eine zweite
Welle der Privatisierung, nachdem die Ergebnisse der ersten von Putin einigermaßen gesichert
wurden.
Politik und Medien vielerorts begrüßen den neuen Präsidenten Russlands als »Wirtschaftsliberalen«.
Dmitri Medwedjew verspricht weiteres Wachstum durch Konzentration auf die »vier großen I« –
Institutionen, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen. Dabei will er sich der »Förderung der
sozialen Sphäre« widmen, also die schon unter Wladimir Putin beschlossenen vier »Nationalen
Projekte« verwirklichen. Es handelt sich um Programme zur Förderung des Wohnungs-, des
Bildungs-, des Gesundheitswesens und der Agrarwirtschaft. Ziel des Regierungshandelns, so
Medwedjew selbst, müssten die Garantie und der Schutz des Privateigentums sowie die Beseitigung
administrativer Hindernisse sein. »Freiheit ist besser als Unfreiheit«, erklärte der künftige Präsident.
Wer wissen möchte, was zu erwarten ist, muss ein wenig zurückschauen: Wladimir Putin trat mit
ähnlichen Ankündigungen an. Im Ergebnis konsolidierte er die von Boris Jelzin eingeleitete
Privatisierung, indem er die anarchisch entstandenen Besitzverhältnisse legitimierte und sie durch
die Schaffung eines Konsenses zur »Rettung Russlands« zugleich staatlicher Kontrolle unterwarf.
Die Unternehmen wurden verpflichtet, wieder Steuern und Löhne zu zahlen, ein Minimum an
sozialer Verantwortung wurde wiederhergestellt. Aber als Putin auf dieser Grundlage im Sommer
2005 auch an die »Monetarisierung« der sozialen Sphäre gehen wollte, musste er vor landesweiten
Protesten zurückweichen. Er reagierte schnell und präsentierte schon im Herbst 2005 die Nationalen
Projekte. Ihr Kern war ein Finanzierungsversprechen, die Ausgaben für den kommunalen Bereich
um 200 Prozent und für das Gesundheitswesen um 80 Prozent zu erhöhen. Medwedjew wurde mit
der Verwirklichung betraut. Er kündigte im Dezember 2007 an, die Leistungen für die »soziale
Sphäre« noch einmal um 30 Prozent (umgerechnet 8,4 Milliarden Euro) erhöhen zu wollen. Möglich
schien eine solche Politik, weil die steigenden Ölpreise den 2004 eingerichteten Stabilitätsfonds auf
die, wie der Politologe Boris Kagarlizki es formulierte, »für Russland fantastische Summe« von
127,48 Milliarden US-Dollar anschwellen ließ. Zugleich erreichten die Währungsreserven der
Zentralbank ein Rekordniveau von 417,30 Milliarden Dollar. Diese Voraussetzungen reichten, um
erste Schritte zur Sanierung der genannten Projektbereiche vorzunehmen: Kredithilfen für Bau und
Erwerb »erschwinglichen Wohnraums«, Anhebung der Gehälter von Ärzten und Lehrern, Erhöhung
des allgemeinen Lohnniveaus, der Renten und Stipendien, Kreditangebote in der Landwirtschaft. Die
Inflation folgte dem Geldsegen jedoch auf dem Fuße: 2007 erreichte sie sieben Prozent, 2008
werden elf befürchtet.
Es musste also nach anderen, zusätzlichen Wegen als der bloß monetären Entwicklung der
»sozialen Sphäre« gesucht werden. Dabei traten unübersehbar die Paradoxien hervor, die daran
erinnern, dass Russland auch heute noch kein kapitalistisches Land ist. So forderte Putin die
verstärkte Übernahme »sozialer Verantwortung« durch die Wirtschaft – die Übernahme der
Verantwortung für die soziale Infrastruktur, die sie im Zuge der Privatisierung aufgegeben hatte, für
Wohnungsbau, Bildungs- und Sporteinrichtungen, Objekte der Kommunalwirtschaft usw. Im
Agrarbereich zeigten sich Datscha und Hofgarten als unersetzbar; sie machen zwar nur 6,7 Prozent
der landwirtschaftlichen Nutzfläche aus, liefern jedoch 50 Prozent der landwirtschaftlichen Produkte.
Ähnlich im Wohnungsbereich: Es gibt keinen sozialen Wohnungsbau, keine
Eigentümergemeinschaften, kein System von Bausparkassen, keine Mietergemeinschaften, die an
die Stelle der vorherigen gemeineigentümlichen Strukturen treten könnten. Die zusätzlichen Kredite
des Nationalen Projekts fördern unter diesen Umständen vor allem die Spekulation.
Über Bildungs- und Gesundheitswesen wäre gesondert zu reden, ebenso über Rentenreform,
Jugend- und Familienförderung. Überall zeigen sich Probleme, die nicht einfach durch die
»Monetarisierung« zu lösen sind, sondern Projekte erfordern, in denen sich traditionelle
gemeinwirtschaftliche Strukturen mit privatem Eigentum neu verbinden können.
Vor diesem Hintergrund bekommen Medwedjews Ankündigungen, sich in noch größerem Maße der
Verwirklichung der Nationalen Projekte und zugleich der Entbürokratisierung und dem Schutz des
Eigentums zu widmen, den Charakter einer neuerlichen Kampfansage gegen die noch bestehenden
gemeineigentümlichen Strukturen. Es geht darum, die »soziale Sphäre« zu privatisieren, also zu
kapitalisieren. Das aber geht vielfach ans Eingemachte des russischen Selbstverständnisses, denn
es erschwert vielen Menschen das tägliche Leben. Neuerliche Auseinandersetzungen um diese
Frage sind unvermeidlich.
* Aus: Neues Deutschland, 7. Mai 2008
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