Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Privatisierung – zweiter Akt?

Auseinandersetzungen um die "soziale Sphäre" sind programmiert

Von Kai Ehlers *

An der Weichenstellung Russlands wurde lange hantiert. Aber erst nach der Amtseinführung des neuen Präsidenten kann der Zug abgepfiffen werden. Es geht keineswegs um pure Stabilisierung des »Systems Putin«, sondern um die Einleitung einer neuen Phase von Reformen, um eine zweite Welle der Privatisierung, nachdem die Ergebnisse der ersten von Putin einigermaßen gesichert wurden.

Politik und Medien vielerorts begrüßen den neuen Präsidenten Russlands als »Wirtschaftsliberalen«. Dmitri Medwedjew verspricht weiteres Wachstum durch Konzentration auf die »vier großen I« – Institutionen, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen. Dabei will er sich der »Förderung der sozialen Sphäre« widmen, also die schon unter Wladimir Putin beschlossenen vier »Nationalen Projekte« verwirklichen. Es handelt sich um Programme zur Förderung des Wohnungs-, des Bildungs-, des Gesundheitswesens und der Agrarwirtschaft. Ziel des Regierungshandelns, so Medwedjew selbst, müssten die Garantie und der Schutz des Privateigentums sowie die Beseitigung administrativer Hindernisse sein. »Freiheit ist besser als Unfreiheit«, erklärte der künftige Präsident.

Wer wissen möchte, was zu erwarten ist, muss ein wenig zurückschauen: Wladimir Putin trat mit ähnlichen Ankündigungen an. Im Ergebnis konsolidierte er die von Boris Jelzin eingeleitete Privatisierung, indem er die anarchisch entstandenen Besitzverhältnisse legitimierte und sie durch die Schaffung eines Konsenses zur »Rettung Russlands« zugleich staatlicher Kontrolle unterwarf. Die Unternehmen wurden verpflichtet, wieder Steuern und Löhne zu zahlen, ein Minimum an sozialer Verantwortung wurde wiederhergestellt. Aber als Putin auf dieser Grundlage im Sommer 2005 auch an die »Monetarisierung« der sozialen Sphäre gehen wollte, musste er vor landesweiten Protesten zurückweichen. Er reagierte schnell und präsentierte schon im Herbst 2005 die Nationalen Projekte. Ihr Kern war ein Finanzierungsversprechen, die Ausgaben für den kommunalen Bereich um 200 Prozent und für das Gesundheitswesen um 80 Prozent zu erhöhen. Medwedjew wurde mit der Verwirklichung betraut. Er kündigte im Dezember 2007 an, die Leistungen für die »soziale Sphäre« noch einmal um 30 Prozent (umgerechnet 8,4 Milliarden Euro) erhöhen zu wollen. Möglich schien eine solche Politik, weil die steigenden Ölpreise den 2004 eingerichteten Stabilitätsfonds auf die, wie der Politologe Boris Kagarlizki es formulierte, »für Russland fantastische Summe« von 127,48 Milliarden US-Dollar anschwellen ließ. Zugleich erreichten die Währungsreserven der Zentralbank ein Rekordniveau von 417,30 Milliarden Dollar. Diese Voraussetzungen reichten, um erste Schritte zur Sanierung der genannten Projektbereiche vorzunehmen: Kredithilfen für Bau und Erwerb »erschwinglichen Wohnraums«, Anhebung der Gehälter von Ärzten und Lehrern, Erhöhung des allgemeinen Lohnniveaus, der Renten und Stipendien, Kreditangebote in der Landwirtschaft. Die Inflation folgte dem Geldsegen jedoch auf dem Fuße: 2007 erreichte sie sieben Prozent, 2008 werden elf befürchtet.

Es musste also nach anderen, zusätzlichen Wegen als der bloß monetären Entwicklung der »sozialen Sphäre« gesucht werden. Dabei traten unübersehbar die Paradoxien hervor, die daran erinnern, dass Russland auch heute noch kein kapitalistisches Land ist. So forderte Putin die verstärkte Übernahme »sozialer Verantwortung« durch die Wirtschaft – die Übernahme der Verantwortung für die soziale Infrastruktur, die sie im Zuge der Privatisierung aufgegeben hatte, für Wohnungsbau, Bildungs- und Sporteinrichtungen, Objekte der Kommunalwirtschaft usw. Im Agrarbereich zeigten sich Datscha und Hofgarten als unersetzbar; sie machen zwar nur 6,7 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche aus, liefern jedoch 50 Prozent der landwirtschaftlichen Produkte.

Ähnlich im Wohnungsbereich: Es gibt keinen sozialen Wohnungsbau, keine Eigentümergemeinschaften, kein System von Bausparkassen, keine Mietergemeinschaften, die an die Stelle der vorherigen gemeineigentümlichen Strukturen treten könnten. Die zusätzlichen Kredite des Nationalen Projekts fördern unter diesen Umständen vor allem die Spekulation. Über Bildungs- und Gesundheitswesen wäre gesondert zu reden, ebenso über Rentenreform, Jugend- und Familienförderung. Überall zeigen sich Probleme, die nicht einfach durch die »Monetarisierung« zu lösen sind, sondern Projekte erfordern, in denen sich traditionelle gemeinwirtschaftliche Strukturen mit privatem Eigentum neu verbinden können.

Vor diesem Hintergrund bekommen Medwedjews Ankündigungen, sich in noch größerem Maße der Verwirklichung der Nationalen Projekte und zugleich der Entbürokratisierung und dem Schutz des Eigentums zu widmen, den Charakter einer neuerlichen Kampfansage gegen die noch bestehenden gemeineigentümlichen Strukturen. Es geht darum, die »soziale Sphäre« zu privatisieren, also zu kapitalisieren. Das aber geht vielfach ans Eingemachte des russischen Selbstverständnisses, denn es erschwert vielen Menschen das tägliche Leben. Neuerliche Auseinandersetzungen um diese Frage sind unvermeidlich.

* Aus: Neues Deutschland, 7. Mai 2008


Zurück zur Russland-Seite

Zurück zur Homepage