Mordfall Anna Politkowskaja: Familie fordert neuen Prozess
Gericht weist Antrag zurück - Warten auf Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg
Von Boris Kaimakow *
Das Moskauer Militärbezirksgericht hat am 7. August den Antrag der
Kinder der am 7. Oktober (dem Geburtstag von Wladimir Putin) 2006
ermordeten bekannten Journalistin Anna Politkowskaja abgewiesen, die
Sache wieder dem Staatsanwalt zuzuleiten und eine neue
Gerichtsverhandlung anzusetzen.
Die Angehörigen von Anna Politkowskaja hatten außerdem ersucht, den
Mordfall mit dem Verfahren gegen den mutmaßlichen Mörder Rustam
Machmudow, nach dem jetzt gefahndet wird, zu verbinden.
Ihre Motive sind logisch und nachvollziehbar: andernfalls würde der Fall
Machmudow in einem neuen Prozess behandelt, wobei die anderen
Angeklagten faktisch, so wie beim ersten Mal, außerhalb der Reichweite
des Gerichts bleiben würden. Dies hatte schon im vorangegangenen Prozess
im Februar ihren Freispruch bewirkt.
Das Ersuchen der Kinder der ermordeten Journalistin wurde selbst von den
Angeklagten und ihrer Verteidigung "aus Respekt vor den Betroffenen"
unterstützt, nicht aber vom Gericht. Somit wurden die gleichen
Beweismaterialien und das gleiche uneffektive Verfahren für die nächste
Gerichtsverhandlung belassen.
Im Allgemeinen sind solche juristischen Spiegelfechtereien, wie sie
faktisch mit jedem Prozess einhergehen, nichts besonderes. Doch im Fall
Anna Politkowskaja handelt es sich nicht nur um einen sensationellen
Mord schlechthin, sondern um eine freche Herausforderung der russischen
Führung.
Trotz der Meinung von Wladimir Putin, Anna Politkowskaja sei in der
Gesellschaft nicht besonders populär gewesen, hatte er während seines
Besuchs im Oktober 2006 in Dresden zu Angela Merkel gesagt, dieser Mord
sei "grässlich und brutal". Anna Politkowskaja war in ihrem Treppenhaus
mit drei Schüssen, darunter einem Todesschuss in den Kopf, ermordet worden.
Bekannt für ihre Berichte, in denen sie die Taten der Mächtigen während
des Tschetschenienkrieges entlarvte und für ihre scharfe Kritik an
Putin, wurde Anna Politkowskaja von Jassen Zasurski, dem damaligen Dekan
der Fakultät für Journalistik der Moskauer Lomonossow-Universität, die
sie absolviert hatte, als "erschossenes Gewissen der Nation" bezeichnet.
Somit verwandelte sich das Gerichtsverfahren in einen politischen
Prozess. Ebenso wie der jüngste Mord an der Tschetschenin Natalja
Estemirowa, die gegen Menschenrechtsverstöße und Menschenraub in
Tschetschenien gekämpft hatte.
Der jetzige tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow, der von einigen
Menschenrechtlern mit diesem Mord indirekt in Verbindung gebracht wird,
hat geschworen, dass er mit dieser Tat nichts zu tun habe. Dabei nannte
er Estermirowa eine Frau ohne Scham und Gewissen, die ihn persönlich
verfolgt habe.
Das Gericht, das das Ersuchen der Anghörigen um einen neuen Prozess
unter Berücksichtigung aller Mordumstände abgewiesen hat, ist sich wohl
dessen bewusst, dass die Tochter und der Sohn von Politkowskaja, die die
Bestrafung der Mörder ihrer Mutter fordern, nicht nur aus persönlichen
Gründen handeln.
Die russische Opposition ist seit langem der Auffassung, dass die
Behörden an einem effektiven Prozess nicht interessiert sind. Eben
deshalb will das Gericht auch nicht auf alle Fragen der Betroffenen
eingehen. Die Angehörigen von Anna Politkowskaja kämpfen also nicht nur
gegen das Gericht, sondern auch gegen die Staatsführung an sich.
Am Freitag (7. Aug.), nachdem die Verwandten der Journalistin die
abschlägige Antwort des Gerichts zur Kenntnis genommen hatten, hielten
sie zusammen mit ihren Anwälten eine Pressekonferenz bei RIA Novosti ab.
Die Tochter der Journalistin, Wera Politkowskaja, nannte den
bevorstehenden Prozess eine Farce, an der sie "nicht teilzunehmen
wünsche". Karina Moskalenko, ihre Anwältin, äußerte unverhohlen den
Verdacht, dass die Geschworenen für den zukünftigen Prozess nicht
korrekt ausgewählt würden. Sie forderte, dass "die Geschworenen
geschützt werden müssen."
Hatten die Kinder von Anna Politkowskaja auf der Pressekonferenz bei RIA
Novosti in erster Linie ihrer Haltung dem Gericht gegenüber Ausdruck
verliehen, so galt der in der Montagsausgabe der "Nowaja Gaseta", der
führenden Oppositionszeitung Russlands, auf der Titelseite
veröffentlichte Brief von Wera und Ilja Politkowski unmissverständlich
den höchsten Staatsbeamten. Das ist ein faktisches Manifest für das
weiteres Handeln der Betroffenen und eine direkte Anklage gegen die
Vollstrecker der Macht.
Die Überschrift des Schreibens wirkt eher neutral: "Der Staat zeigt
seine totale Uninteressiertheit an der Aufklärung des Mordes an unserer
Mutter". Das ist zwar eine schwere Anschuldigung, aber
"Uninteressiertheit" bedeutet noch keinen "Widerstand".
Wenn aber die Behörden "Uninteressiertheit" zeigen, so wird dies vom
Gericht sehr genau als direkte Anweisung verstanden. In dem Brief wird
festgestellt, dass "der Staat es vorzieht, Ermittlungsverfahren gegen
zweitrangige Personen durchzuführen, deren Rolle bei diesem Verbrechen
unklar und deren Beteiligung daran nicht in gebührender Weise bewiesen ist".
Wie RIA Novosti mitteilt, wartet die Familie von Anna Politkowskaja auf
die Prüfung ihrer Beschwerde, die im April 2007 beim Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg eingereicht worden war. Wenn
die Beschwerde positiv behandelt wird, so "wird der Staat diesen Fall
wenigstens effektiv untersuchen müssen,"äußert sich die Anwältin
Moskalenko überzeugt.
Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti
übereinstimmen.
* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 11. August 2009;
http://de.rian.ru
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