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Russlands Protestbewegung gab sich eine Führung

45-köpfiger Koordinationsrat per Internet-Abstimmung gewählt / Meiste Stimmen für Alexej Nawalny

Russlands Protestbewegung gab sich eine Führung 45-köpfiger Koordinationsrat per Internet-Abstimmung gewählt / Meiste Stimmen für Alexej Nawalny Von Irina Wolkowa, Moskau *

Montagabend um 20.00 Uhr Moskauer Zeit machte Wahlleiter Leonid Wolkow den Sack zu. Eine Stunde später erfuhr die interessierte Öffentlichkeit - per Übertragung beim unabhängigen TV-Kanal Doschd und via Internet -, wie die Wahlen zum Koordinationsrat ausgegangen waren, mit denen sich die russische Protestbewegung Strukturen geben will.

209 Kandidaten hatten sich um die insgesamt 45 Sitze im Koordinationsrat der russischen außerparlamentarischen Opposition beworben. Jeweils fünf davon gehen an die drei großen Strömungen: Liberale, Linke und Nationalisten, der Rest an diejenigen, die die meisten Stimmen einsammelten. Klarer Sieger wurde der kritische Blogger Alexei Nawalny, der landesweit durch sein Projekt zur Korruptionsbekämpfung bekannt wurde. Für ihn stimmten 43 000 Wahlteilnehmer. Zweitplatzierter wurde der Schriftsteller Dmitri Bykow, Dritter Gari Kasparow, Chef des von Liberalen dominierten oppositionellen Bündnisses Solidarost. Auch der Führer der Linken Front, Sergej Udalzow, der Journalist Sergej Parchomenko und der ehemalige Duma-Abgeordnete Gennadi Gudkow lagen weit vorn in der Gunst der Wähler Nicht so dagegen Politprofis wie der liberale ehemalige Vizepremier Boris Nemzow.

Der Koordinationsrat soll konkrete Vorschläge für die Umsetzung politischer Forderungen formulieren: umfassende Liberalisierung, Freilassung politischer Gefangener, reale wirtschaftliche Modernisierung und Reformen im Bildungswesen. Er soll aber auch weitere Proteste organisieren und koordinieren. Auf mehr Kreativität dabei drängen sogar wohlmeinende Kommentatoren kritischer Radiosender: Mit Putin-Karikaturen sei der Ruck, den Russland brauche, nicht zu bewirken.

Unabhängige Beobachter dagegen - darunter auch Wissenschaftler staatsferner Denkfabriken - hatten schon vor der Wahl gewarnt, das Projekt müsse als gescheitert abgehakt werden, sollten sich weniger als 100 000 an der Abstimmung beteiligen. Das Ziel wurde um Längen verfehlt. Gerade 82 000 rafften sich zum Mausklick auf - weniger als die Hälfte derer, die sich als Wähler hatte registrieren lassen.

Träume von einem Schattenparlament, wie sie die Liberalen hegten, oder gar von Doppelherrschaft wie zwischen Februar- und Oktoberrevolution 1917, die den Linken vorschwebte, haben sich damit vorerst erledigt. Derzeit reicht es nicht einmal für ein Schwerkraftzentrum, das nach Vorstellungen Parchomenkos allmählich Massensog entwickelt. Allein soziale Forderungen hätten das Zeug zu einer Idee, die die Massen ergreift. Doch sie fanden sich erneut nur im Kleingedruckten. Dazu kommen taktische Fehler.

Schon im Dezember, so die meisten kritischen Beobachter, als der Zorn auf die manipulierten Parlamentswahlen noch frisch war und bis zu 170 000 - so viele hatten sich auch als Wähler registrieren lassen - auf die Straße gingen, hätten Putins Gegner sich arbeitsfähige Strukturen und ein schlüssiges Programm geben müssen. Jetzt - in mehreren Regionen wurden die Menschen in knapp einem Jahr dreimal an die Urnen gebeten - sei die Nation wahlmüde.

Besorgniserregend ist auch die Geografie der Abstimmung. Über die Hälfte der Wähler stammt aus Moskau. Auf dem flachen Lande dagegen hat von Koordinationsrat und Wahlen kaum jemand gehört. In der Millionenstadt Krasnojarsk in Sibirien mussten 29 von 30 auf eine entsprechende Fragen passen. Das staatsnahe Fernsehen - für viele die wichtigste Informationsquelle - hatte darüber nicht berichtet, der Sender NTW am Vorabend der Abstimmung sogar eine Dokumentation ausgestrahlt, die Udalzow und anderen prominenten Protestlern Anstiftung zu Massenunruhen mit Geld aus Georgien vorwirft. Die Faktenlage ist dürftig, dennoch wird gegen die »Täter« bereits ermittelt.

Putins Kampf gegen Regimegegner, glaubt der Journalist Parchomenko, habe ein neues Stadium erreicht. Der Staat setze die von ihm kontrollierten Medien direkt als Unterdrückungsinstrument ein.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 24. Oktober 2012


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