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Risse in der Protestbewegung

Russlands Opposition uneinig über Forderungen und Ziele

Von Irina Wolkowa, Moskau *

In Russland wurde nach den zehntägigen Neujahrsferien am Dienstag auch der Politikbetrieb wieder aufgenommen. Und damit der Streit um Ergebnisse und Folgen der Parlamentswahlen am 4. Dezember.

Die Dezemberwahl sei »ungerecht« gewesen, zwischen der Öffentlichkeit und der Macht »gähnt ein Abgrund«. Auch um dessen Breite auszumessen und sich über den ersten Sprung zur Überwindung der Kluft zu verständigen, seien Verhandlungen nötig. Das meint jedenfalls der ehemalige Finanzminister Alexej Kudrin, der von Präsident Dmitri Medwedjew im Herbst entlassen worden war, aber nach wie vor mit Premier Wladimir Putin befreundet ist. Kudrin hatte beim großen Moskauer Protestmeeting am 24. Dezember seine Vermittlung beim Dialog mit der Macht angeboten. Zunächst aber, schob er jetzt in einem Blog für Radio »Echo Moskwy« nach, müsse sich die Protestbewegung »institutionalisieren« und ihre Forderungen klar formulieren.

Doch die Entwicklungen scheinen in die entgegengesetzte Richtung zu gehen. Gut drei Wochen sind es noch bis zur nächsten geplanten Protestkundgebung am 4. Februar. Es könnte die entscheidende sein, die Organisatoren hoffen auf eine halbe Million Teilnehmer. Doch die aus Dutzenden Gruppen mit teilweise gegensätzlichen Interessen bestehende außerparlamentarische Opposition ist sich bisher nicht darüber einig, wie es danach weitergehen soll. Eine Positivliste fehlt, wie Politikwissenschaftler sagen.

Die Fronten verlaufen vor allem zwischen Politprofis wie dem früheren Premier Michail Kasjanow, die erst zur Opposition stießen, nachdem sie selbst in Ungnade gefallen waren, und politischen Neulingen. Die Sprecher verschiedener sozialer Netze befürchten, Kasjanow und seinesgleichen hätten vor allem den eigenen politischen Neustart im Kopf und könnten sich daher mit der Macht arrangieren. Deshalb bestehen sie auf absoluter Transparenz bei Verhandlungen: Über Forderungskatalog und Unterhändler müsse per Internet abgestimmt werden, dort müssten die Delegierten auch eingehend über das Angebot der Gegenseite informieren. Erst nach Genehmigung durch die Basis dürfe weiter verhandelt werden.

Vernichtende Kritik übten die Basisdemokraten daher an dem von Kasjanow und der Bürgerrechtlerin Ludmila Alexejewa am 12. Dezember gebildeten Runden Tisch, der Ende Januar erstmals tagen und mit Vertretern der Kremlverwaltung die Freilassung politischer Gefangener,die Unabhängigkeit der Justiz und die Entlassung besonders verhasster Beamter erörtern soll. Die wichtigste Forderung der Protestkundgebungen fehlt: Parlamentsneuwahlen. Vor allem aber ist das Vorhaben nicht mit den Sprechern anderer Gruppen abgestimmt. Sergej Udalzow, Koordinator der Linken Front, warnte bereits vor einem »Separatfrieden«.

Uneinigkeit herrscht auch darüber, wen man bei den Präsidentenwahlen im März unterstützen soll. Udalzows Linke Front hat sich inzwischen an die linken Kandidaten Gennadi Sjuganow (KPRF) und Sergej Mironow (Gerechtes Russland) mit dem Aufruf gewandt, die Forderungen der Protestbewegung zu unterstützen und im Falle der Wahl eines von ihnen als »Übergangspräsident« zu fungieren. Spätestens im März 2013 müsse ein solcher Präsident nach einer Reform der Wahl- und Parteiengesetze zurücktreten und die Neuwahl von Parlament und Staatsoberhaupt ermöglichen.

Die derweil von Dmitri Medwedjew geplanten und bereits der Duma vorgelegten innenpolitischen Lockerungen haben das Zeug dazu, die Protestbewegung endgültig zu fragmentieren. Genau deshalb, glauben Verschwörungstheoretiker, seien Kreml und Regierung auch so schnell eingeknickt. Und deren Rechnung könnte aufgehen.

Bereits fünf liberale Politiker wollen eigene Parteien gründen oder bestehende legalisieren. Von der Vielfalt dürfte, wenn in einem Jahr tatsächlich Parlamentsneuwahlen stattfinden (im ersten Jahr der Legislaturperiode darf die Duma nicht aufgelöst werden) vor allem Wladimir Putin profitieren. Ebenso von der Rückkehr zu Direktmandaten für die Hälfte der 450 Abgeordneten. Putin bekäme dann selbst bei absolut fairem Wahlkampf und durchgängig gläsernen Urnen ein viel zahmeres Parlament als die aus den Wahlen im Dezember hervorgegangene Duma. Und er könnte alle Fälschungsvorwürfe mit Abscheu und Empörung von sich weisen.

* Aus: neues deutschland, 11. Januar 2012


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