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"NATO-Mythen" hinterfragt

Russlands NATO-Botschafter Dmitri Rogosin sprach in Berlin über das schwierige Verhältnis zum Militärbündnis

Von Michail Logvinov *

Russlands NATO-Botschafter Dmitri Rogosin sprach in der deutschen Hauptstadt über das schwierige Verhältnis zum Militärbündnis.

Auf Einladung des Zentrums Russland/Eurasien der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (Programmleiter Alexander Rahr), der Deutschen Bank und des Ost-Ausschusses der deutschen Wirtschaft (Dr. Tessen von Heydebreck) zeigte der russische Allround-Politiker die Missverständnisse in der Kommunikation zwischen der NATO und Russland sowie positive Entwicklungstendenzen auf.

In seinem Vortrag setzte sich Rogosin kritisch mit einigen tradierten NATO-Stereotypen und -Mythen auseinander.

NATO sei kein Bündnis von Demokratien

Als Stereotyp qualifizierte Rogosin die Aussage, die NATO sei ein Bündnis demokratischer Länder. Dies sei nur eine Halbwahrheit, denn trotz der sich im 21. Jahrhundert veränderten weltpolitischen Architektur bleibt die NATO ein militärisches Bündnis, das mit schwerem Militärgerät und nicht mit Werten operiert.

Gemäß dem Theorem des demokratischen Friedens führen Demokratien keine Kriege gegeneinander. Dennoch können Demokratien nicht demokratisch regierte Staaten bekämpfen. Russland sei nach allgemeinem europäischem Tenor keine Demokratie, es teile keine europäischen Werte, also hat es einen Grund zu fürchten. Ihm sei ängstlich zumute, so Rogosin, wenn er NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer von Demokratie sprechen höre. „Das ist nicht sein Terrain“, betonte Politiker. Von Demokratie müssen Demokraten sprechen. Man dürfe die NATO nicht mit der OSZE verwechseln, sie habe eine andere Funktion.

Keine Verbesserung der Beziehungen nach NATO-Beitritt

Das Argument, der NATO-Beitritt eines Landes führe eine Verbesserung seines Verhältnisses zu Russland herbei, sei ebenso nicht stichhaltig, meint Rogosin. „Zeigen Sie mal ein solches Land“, rief er auf. Es gebe im Gegenteil mehrere Beispiele, wenn das Verhältnis eines Landes zu Russland nach dem NATO-Beitritt angespannt werde. Weder bei Polen noch im Baltikum hätte ein NATO-Beitritt Positives bewirkt. Russland wird weiterhin als Vogelscheuche genutzt und zu einem Feind der freiheitlich-demokratischen Ordnung stilisiert.

Partnerschaft Russland-NATO beruht nicht auf Dialog Die Behauptung, Russland und die NATO seien keine Feinde, sondern Partner, konterte Rogosin mit dem Argument, man könne eine Partnerschaft nicht unidirektional gestalten. „Man könne nicht einseitig Partner sein“, so der Politiker aus Moskau. Worin bestünde die Partnerschaft zwischen der NATO und Russland? In einem Dialog? Es gebe keinen Dialog, wenn die Partner aneinander vorbeireden. Russland und die NATO seien außerstande, auf die Argumente des anderen einzugehen und könnten deshalb keine wirklich partnerschaftlichen Beziehungen entwickeln.

In diesem Zusammenhang gab Rogosin zu, dass Russland kein Vetorecht bei NATO-Beschlüssen habe. Allerdings dürfe man nicht daraus schließen, dass Russlands Positionen ignoriert werden sollten. Sonst sei es keine Partnerschaft. Erst wenn Russlands Meinung bei Beschlüssen berücksichtigt würde, könne man von der Partnerschaft reden.

Keine Politik der offenen Tür bei der NATO

Auch die These, die NATO betreibe eine Politik der offenen Tür, sei in Frage zu stellen. Russland sei in der NATO nicht willkommen. „Der große Bär passe nicht in unsere kleine Höhle rein“, bekomme Rogosin von seinen NATO-Kollegen zu hören. Es gebe also keine Politik der offenen Tür bei der NATO. Es gebe eine interne Logik des Bündnisses, die der der USA entspricht und durch geschickt inszenierte Medienkommunikation durchgesetzt werde.

Membership Action Plan führt zu Automatismen

Membership Action Plan bedeute laut NATO-Partnern nur die Möglichkeit des NATO-Beitrittes in Form einer Perspektive. Dennoch wurde auf dem NATO-Gipfel in Bukarest beschlossen, dass Georgien und die Ukraine aufgenommen und Mitglieder werden. „Warum wurden wir dann die ganze Zeit belogen“, fragte Rogosin. Dies beweise, dass die NATO nicht ehrlich und durchdacht agiere, betonte er.

Raketenabwehrkomponenten fehl am Platze

Die Argumentation der NATO-Partner, die Raketenabwehr in Polen und Tschechien sei nicht gegen Russland, sondern gegen „böse Jungs aus Iran“ gerichtet, hält NATO-Botschafter für unschlüssig. Man müsse sich nur die geographische Lage vor Augen führen, wo sei Iran und wo z.B. Polen. Warum habe man für den Raketenabwehrschirm nicht die Türkei, Südosteuropa, Irak, das von den USA kontrolliert wird, oder schließlich Aserbaidschan ausgesucht? Was habe denn der Terrorismus im Mittleren Osten mit Polen und Tschechien zu tun?

Sollte Russland seine Raketen in Kaliningrad gegen Osama bin Laden stationieren, fragte Rogosin ironisch.

„Das, was uns über den Raketenabwehrschirm in Ostmitteleuropa erzählt wird, beleidigt uns. Das ist eine Lüge“, fasste der Politiker zusammen. Dafür spreche auch die Tatsache, dass die NATO als Gegenleistung für das von Russland angestrebte technische Monitoring des tschechischen Radars und polnischer Abfangraketen darauf bestehe, das russische Raketenabwehrsystem zu beobachten. Dies sei jedoch eine verkehrte Logik, so Rogosin, denn die Funktion und Ziele des Moskau schützenden Raketenschildes seien bekannt.

Der Präzedenzfall der Raketenstationierung in Polen sei auch deshalb zu befürchten, weil kein Abkommen regelt, dass in der Zukunft zu den angekündigten zehn Abfangraketen weitere Dutzend nicht dazu kommen.

Russland fühlt sich provoziert

Rogosin widersprach der These, Russland werde in letzter Zeit immer aggressiver. Nach der Münchner Rede von Wladimir Putin hätte sich dieser Verdacht Europas bestätigt. Dennoch habe Putin in München vom Völkerrecht und seinem Missbrauch von der Position der Stärke gesprochen, so der Politiker. Russland fühle sich durch die NATO provoziert. Seine Entrüstung würde in Europa jedoch als Bestätigung seiner Aggressivität wahrgenommen. „Wir sind nicht diejenigen, die das Völkerrecht verletzen“, konterte Rogosin.

Andere NATO notwendig

In Brüssel habe er verstanden, dass die NATO ein primär militärischer Block sei, sagte Rogosin. Die Meinungen von richtigen Demokratiestaaten wie Deutschland oder Frankreich werden immer seltener berücksichtigt. Je weiter die NATO erweitert wird, desto unsicherer würde das alte Europa, da die NATO-Strukturen von den neuen ostmitteleuropäischen Staaten im Sinne der USA dominiert werden. Der Ukraine-Beitritt soll laut Rogosin das Übergewicht zugunsten der USA noch mehr vergrößern. Die Aufnahme von Georgien würde die Logik der NATO verzerren.

Angesichts des selbst proklamierten Rechtes der NATO, in besonderen Fällen ohne UN-Mandat zu handeln, sei außerdem zu befürchten, dass diese Ausnahmeregelung zur Regel werden könne.

„Für die Bekämpfung der aktuellen Risiken braucht man eine andere NATO“, behauptete Rogosin zusammenfassend.

Positive Bilanz der NATO-Russland-Kooperation

Als positiv würdigte der russische NATO-Botschafter den ISAF-Einsatz in Afghanistan als heroische Anstrengung des Westens, der Russland davor bewahren würde, wieder in die Region einmarschieren zu müssen. „Bei Ihrem Krieg werden wir Ihnen mit allen Kräften helfen“, betonte er. Weiterhin gäbe es im Zivil- und Katastrophenschutz eine hervorragende Entwicklung. Ebenso existiere enge Kooperation bei Forschung und Wissenschaft sowie unter den Militärs beider Seiten.

Abschließend versicherte Rogosin den Zuhörern, dass Russland keine Konfrontation mit der NATO anstrebe, da es sich auf seine inneren Probleme konzentriere. Ziel der neuen russischen Führung sei das Erreichen europäischer Standards bei den Lebensbedingungen und Menschenrechten. „Wir werden unsere gemeinsamen Werte verteidigen“, betonte er.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 2. Juni 2008



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