Murmansk – du bist die Schönste – und das Leben wundervoll...
Die größte Stadt der Arktis erwacht gerade mal wieder für einen kurzen Sommer und präsentiert viele gegensätzliche Ansichten
Von René Heilig *
Oh ja, wir sind global drauf. Wir wissen, was da abgeht! Dort vergammeln russische Atom-U-Boote,
dort stürzen Militärjets ab, dort verkaufen Mütter ihre Kinder für 800 Rubel. Steht doch alles in der
Zeitung. Alles ...?
Ethel und Harry, ein Paar mittleren Alters, buchten eine Kurzreise nach Murmansk. Vielleicht, weil in
ihren Zeitungen keine Horrornachrichten über Murmansk zu lesen sind. Da steht gar nichts drin über
Murmansk. Die beiden kommen nämlich aus Ohio, USA. Und dort ist es – wenn man nicht gerade
Atomraketen programmiert – »völlig egal, wo in diesem verdammten Sibirien dieses Kaff liegt«.
Ethel lacht. Sie hat Osteuropa-Geschichte studiert und weiß die Nordmeerküste wohl von Sibirien zu
unterscheiden. Beim Studium stieß sie auf diese damals noch total abgeschottete Stadt Murmansk.
Zudem hat Ethel einen ehemaligen Seemann in ihrer Familie, der war schon in Murmansk. Im
Zweiten Weltkrieg, als er Nachschub für »Uncle Joes« Armee herüber brachte. Na ja, Stalin. Den
Typen mögen Ethel und Harry gar nicht. Aber sie werden nach dem Frühstück einen Bus besteigen
und zu »Aljoscha« fahren.
»Aljoscha« steht etwas außerhalb der Stadt hoch oben über der Kola-Bucht. Er ist ein Denkmal, 39
Meter reckt er sich in massigem Beton empor, vor dem eine ewige Flamme lodert. Während des
Zweiten Weltkrieges wurde das Gebiet um Murmansk von deutschen und finnischen Truppen
berannt, sie wollten den eisfreien Hafen weit hinterm Polarkreis erobern, die Sowjetunion
abschneiden von der Hilfe ihrer Alliierten. Jahrelang kamen die Bomber. Doch die Verteidigungsfront
hielt. Mitte der achtziger Jahre, als die kommunistische Partei fehlenden Lebensstandard durch
Patriotismus zu ersetzen versuchte, bekam die Stadt als eine von zwölf in der Sowjetunion den Titel
»Heldenstadt« zuerkannt.
Heute ist Murmansk, so steht es auf im Zentrum überall aufgehängten riesengroßen bunten
Plakatwänden, »eine Stadt der Romantik«. Oder ganz einfach »der beste Ort auf Erden«. Doch auch
die Heldenzeit ist noch gegenwärtig. Denkmale erinnern an Leiden und den Stolz des Sieges. Und
natürlich an Lenin. Bei ihm liegen – im Gegensatz zum Denkmal für Kyrill und Method – jedoch keine
Blumen mehr. Allenfalls Bierbüchsen.
Murmansk und die unwirtliche Region ringsum haben in den 90er Jahren fast 100 000 Einwohner
verloren. Was auch sollte die Menschen hier halten? Die Werften hatten nicht einmal mehr
Reparaturaufträge. Wer wollte schon an einer der Hochschulen studieren, da die meisten doch nur
Ableger größerer Universitäten aus St. Petersburg und Moskau waren? Inzwischen, so behauptet es
die regionale Zeitung, bleiben wieder mehr junge Leute. Der Norden biete eine Perspektive. Was
man nicht so recht glauben mag, trifft man die Grüppchen, die Bier schluckend in den zahlreichen
Parks herumstehen und den Abend totschlagen.
Die Stadt und ihre nun rund 300 000 Einwohner sind auf dem Weg in die russische Moderne.
Freilich ganz anders als die Wiege der russischen Kultur Petersburg oder die Millionärshauptstadt
Moskau. Doch die Jahre der wirtschaftlichen Stagnation, die sich mit dem Namen von Präsident
Jelzin verbinden, scheinen überwunden. Im Hafen ist wieder mehr Verkehr, man sieht weitaus mehr
moderne Schiffe mit der russischen Trikolore am Heck als rostige Seelenverkäufer und abgesoffene
Wracks.
Doch die große weite Welt legt nicht nur an den Kaimauern der Stadt an. Während die Menschen im
Kaufhaus unweit des Bahnhofes noch allerlei Produkte nach russischem Zuschnitt bekommen
können, doch nicht kaufen wollen, vermisst man im neuen Okay-Supermarkt lediglich die
Passkontrolle, die signalisiert: Achtung, Sie sind wieder im Westen! Den jedoch darf man nicht
fotografieren. Wer es, wie der neugierige Reporter dennoch versucht, macht Bekanntschaft mit dem
uniformierten Anatoli. Der weiß zwar auch nicht, warum man keine Kamera vors Augen nehmen
darf, um all die Konsum-Herrlichkeit zu verewigen, doch macht er keine Kompromisse. Schließlich
findet er nach einigem Suchen unter rund 25 Verbotsschildern auf dem Infomationsboard auch
eines, das im kyrillischen Befehlston das Fotografieren und Videoaufnahmen untersagt.
Anatoli ist froh, dass der Ausländer nicht länger dumme Fragen stellt, denn neben seinem Security-
Job hat er schließlich noch einen kleinen illegalen Nebenverdienst. Er schaut nach Nobelkarossen,
die – so wie ein schwarz-glänzender Mercedes-Geländewagen gerade – vor dem Tor auffahren.
Eine junge Blonde steigt aus, wartet auf eine gleichfalls Gestylte in hohen Stiefeln und mit
Sonnenbrille im Haar, die Einkäufe aus der Halle schiebt. Anatoli ist in solchen Fällen ein Kavalier –
mit einer dankbar offenen Hand.
Eine offene Hand hat auch die alte Frau am Rande des hypermodernen Kinderspielplatzes vor dem
Okay. Ihre Kleidung ist schmutzig, das Haar zerzaust und natürlich kann sie sich keinen Dentisten
leisten, der ihr bittsames Lächeln ansehnlicher machen würde. Es gibt eben auch in Murmansk
verschiedene Wege in die russische Moderne.
Kollegen – selbst vom deutschen Meinung-Mach-Magazin aus Hamburg – konnten in Murmansk nur
Deprimierendes entdecken. Ewigen Blechgaragenfelder an ihren Rändern beispielsweise. Sie sahen
sklerotische Fabriken, ungefiltert rauchende Schlote und Plattenbauten in Sowjetgrau und trafen
damit genau den Farbton, den sie sehen wollten. Natürlich, das alles gibt es. So wie
Schlaglochstraßen und brennende Müllcontainer. Und wenn man in der Polarnacht nach Murmansk
fährt, kann sich all das zu einem Gefühl vermengen, das sagt: Nichts wie weg hier.
Doch nach langer Nacht zeigen sich nun wieder die ersten kleinen Blüten und das astgewaltige
Gestrüpp entlang der Hauptstraßen präsentiert langsam wieder in frischen Grün. Seit ein paar
Wochen scheint die Sonne wieder 24 Stunden am Tag.
Das sei verdammt nett von ihr, sagt Harry beim Frühstück am nächsten Morgen. Ethel mag ihrem
Mann da nicht so recht zustimmen. Sie hat lange vor dem Spiegel gestanden, um ihrem Gesicht die
Röte auszutreiben. Es sei eben auch zu schön gewesen, da oben bei »Aljoscha« auf den Felsen zu
liegen ... Derweil stellten Angestellte eines schwedischen Autokonzerns vor dem Hotel ihr neustes
Angebot auf einen Socken. Man hat einen Schriftzug aufgebracht: »Das Leben ist wundervoll, wenn
wir zusammen sind.«
* Aus: Neues Deutschland, 27. Juni 2009
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