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Medwedjew hält die Zeit noch nicht für reif

Keine Entscheidung über Kandidatur bei Präsidentenwahl 2012

Von Irina Wolkowa, Moskau *

815 Journalisten hatten sich für die erste große Pressekonferenz des russischen Präsidenten Dmitri Medwedjew am Mittwoch (18. Mai) akkreditieren lassen. Zweieinhalb Stunden lang beantwortete Medwedjew, der – in Russland ein Novum – die Pressekonferenz selbst moderierte, im Innovationszentrum Skolkowo die Fragen der in- und ausländischen Medienvertreter.

Skolkowo – eine architektonische Vorwegnahme des 22. Jahrhunderts direkt hinter dem Moskauer Autobahnring gelegen – ist Medwedjews Lieblingsprojekt. Russlands Silicon Valley, wo Lehre, Forschung und Produktion von Hochtechnologien miteinander verzahnt werden. Die Lokomotive für Modernisierung und Diversifizierung der immer noch extrem von Rohstoffexporten abhängigen Wirtschaft. Staat und Privatwirtschaft haben Milliarden in das Projekt investiert. Vor knapp zwei Jahren öffnete in Skolkowo auch eine Hochschule ihre Pforten, die sich auf die Ausbildung von Topmanagern für die Wirtschaft der BRICS-Staaten, der Schwellenländer mit dem schnellsten Wachstum, spezialisiert hat. Eben dort stellte sich Medwedjew erstmals in seiner Amtszeit dem Verhör der versammelten Presse.

Während manche Beobachter schon aus der Ortswahl schlossen, der Präsident werde sich vor allem an seinem Lieblingsprojekt Modernisierung abarbeiten, erhoffte das Gros der Journalisten Aufklärung darüber, wer bei der Präsidentenwahl 2012 ins Rennen geht. Zumal Medwedjew schon Mitte April versprochen hatte, das Geheimnis bald zu lüften. Noch, sagte er gestern, sei die Zeit jedoch nicht reif. Politik sei keine Show, sondern schwere Arbeit, bei der gewisse Technologien eingehalten werden müssten, um das Leben zum Besseren zu verändern. Und eine Pressekonferenz sei nicht das passende Format für derartige Eröffnungen.

Gerüchte, wonach es im Tandem mit Premier Wladimir Putin knirscht, wies er zurück. Konkurrenz führe in der Politik manchmal in die Sackgasse. Seine Beziehung zu Putin gehe über die in einem Tandem übliche hinaus, man kenne sich über 20 Jahre. »Wir sind Gleichgesinnte«, sagte Medwedjew wörtlich, Differenzen gebe es in Nuancen, nicht in der Strategie.

Auch mit Kritik an der Regierung hielt er sich zurück. Das Kabinett sei ein eingespieltes Team, entgegnete Medwedjew auf die Frage, ob er – wie bisher üblich – die Regierung vor der Präsidentenwahl entlassen werde. Die nächste Regierung werde jedoch eine andere, erneuerte sein müssen, unabhängig davon, wer sie bildet. Keiner könne ewig auf seinem Posten bleiben.

Zur gleichen Zeit hatte das Petersburger Stadtparlament auf Antrag der Fraktion »Einiges Russland« den Vorsitzenden des Föderationsrates, Sergej Mironow (formell der drittmächtigste Mann im Staate), aus der zweiten Kammer des russischen Parlaments abberufen. Mironow, Spitzenpolitiker der Partei »Gerechtes Russland«, habe in der Kritik an den Einheitsrussen »den Bogen überspannt«, hieß es. Medwedjew – um seinen Kommentar gebeten – sah darin einen Nutzen für beide Parteien: »Einiges Russland« habe seinen politischen Einfluss bewiesen, »Gerechtes Russland« seinen Charakter als tatsächliche Oppositionskraft.

Russlands Verhältnis zur NATO bezeichnete Medwedjew als »nicht das schlechteste«. Man habe beim Gipfel in Lissabon im November die Vertiefung der Zusammenarbeit bei »sehr wichtigen Problemen« wie Afghanistan und Terrorismusbekämpfung vereinbart. In Sachen Raketenabwehr in Europa aber erwarte er von Barack Obama, den er als Freund bezeichnete, eine Einladung zur Zusammenarbeit. Wenn die USA das Raketenprojekt ohne Einigung mit Moskau vorantrieben, drohe ein Rückfall in »die Ära des Kalten Krieges«. Russland müsse dann Gegenmaßnahmen ergreifen und – was es nicht wolle – das offensive Potenzial seiner atomaren Kapazitäten entwickeln. In solchem Falle sei sogar möglich, dass Russland den vor einem Jahr unterzeichneten neuen START-Vertrag zur Begrenzung strategischer Offensivwaffen kündige.

* Aus: Neues Deutschland, 19. Mai 2011


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