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Wer sitzt vorn auf dem russischen Tandem?

Auch ein Jahr nach seiner Einführung ins Präsidentenamt ist Dmitri Medwedjew noch "Schüler und Kampfgefährte" seines Vorgängers und Premiers Wladimir Putin

Von Roy und Zhores Medwedjew, Moskau und London *

Am 2. April 2009, nach dem Blitz-Gipfel der G 20 in London, hielt Russlands Präsident Dmitri Medwedjew eine Vorlesung vor Studenten und Professoren der London School of Economics and Political Science. Für Fragen und Antworten blieben danach 30 Minuten Zeit. Vorhersehbar war die Frage nach der Aufteilung der Macht in Russland. Die britische Presse hatte gerade etliche Gerüchte und Spekulationen über politische Konflikte in Moskau im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Krise verbreitet.

Medwedjew erklärte, dass er selbst als Präsident gemäß der Verfassung die Verantwortung für alle grundlegenden Entscheidungen trage. Putin nannte er einen Kollegen und Freund: »Er macht sehr gute Arbeit als Premierminister und ich denke, dass unser Tandem sehr erfolgreich sein wird.« Auf einem Tandem sitzt bekanntlich stets einer vorne und lenkt, der andere sitzt hinten und strampelt. Doch darüber sprach Medwedjew nicht.

Kurz vor dem Londoner Gipfel hatte Putin bei einem Treffen mit Bergleuten in Nowokusnezk auf eine ähnliche Frage geantwortet: »Medwedjew und ich bilden ein Tandem, und das arbeitet sehr erfolgreich.«

Bisweilen werden die Plätze getauscht

Die Londoner Studenten verließen die Vorlesung jedenfalls in der Überzeugung, dass Medwedjew das Tandem lenkt. Er war es, der das persönliche Treffen mit Barack Obama angeregt und neue Gespräche über die Reduzierung der Nuklearrüstung beider Mächte vorgeschlagen hatte. Einen solchen Vorschlag konnte nur der reale Staatschef unterbreiten, der über alle Vollmachten für die Lösung strategischer Probleme verfügt.

Putin hatte zwei Wochen zuvor in Nowokusnezk angesichts der baufälligen Baracken, in denen die Bergleute schon seit den Stalinschen Fünfjahrplänen wohnen, sofort erklärt, dass die Regierung 4,5 Milliarden Rubel (gut 100 Millionen Euro) für den Bau neuer Häuser zur Verfügung stellen wird. Und 90 Milliarden mit gleichem Ziel für andere Bergbaustädte im Ural und in Sibirien. Das war kein Vorschlag, sondern ein Beschluss, der keine Abstimmung mit der Duma oder der Präsidialverwaltung erforderte. Einen solchen Beschluss konnte nur ein realer Regierungschef fassen, der über die finanziellen Ressourcen verfügt und die Wirtschaftspolitik des Landes bestimmt.

Das Tandem gibt es tatsächlich, doch die beiden Fahrer tauschen offenbar bisweilen die Plätze – je nach dem Charakter des Ortes und der Umstände.

Im Laufe des Jahres 2008 vollzogen sich in Russland – von außen kaum bemerkbar – ziemlich radikale Veränderungen in den höchsten Machtorganen. Die Kompetenzen der Regierung wurden bedeutend erweitert, während die Vollmachten des Präsidenten, 1993 auf Boris Jelzin zugeschnitten, eingeschränkt wurden. Die Staatsduma, in der die Regierungspartei »Einiges Russland« – von Putin geführt – jetzt die verfassungsändernde Mehrheit besitzt, hat die Rolle eines unabhängigen Schiedsgerichts eingebüßt. Sie hat lediglich die Aufgabe, die Vorschläge der Regierung in Gesetze zu verwandeln.

Der August ist die Zeit des Familienurlaubs. Medwedjew entschied sich 2008, mit Frau und Sohn eine Kreuzfahrt auf der Wolga zu unternehmen. Sie besuchten die malerischen Orte der Gebiete Jaroslawl und Twer mit ihren alten Kirchen. Putin blieb in Moskau, bevor er am 7. August zur Eröffnung der Olympischen Spiele nach Peking flog. Beide Spitzenpolitiker wussten um die gespannte Situation in Georgien an der Grenze zu Südossetien. Aber niemand erwartete reale militärische Aktionen. Selbst im russischen Generalstab glaubte man offenbar an die antike griechische Tradition des olympischen Friedens. Denn eben an jenem Tag begann der Umzug von Abteilungen der Operativen Führung in ein neues Gebäude.

Unerwartet – aber sicherlich nicht für alle – gab Michail Saakaschwili am Abend des 7. August in Tbilissi den Befehl zum Beginn eines massierten Feuerüberfalls auf Südossetien und seine Hauptstadt Zchinwali. Der Beschuss Zchinwalis und anderer Gebiete mit »Grad«-Raketen und Artillerie begann um 22.30 Uhr. Schon in den ersten Minuten wurden zehn russische Angehörige des in Südossetien stationierten Friedensbataillons und Dutzende Bewohner Zchinwalis getötet. Das war ein Krieg zur Eroberung der Republik, die sich von Georgien getrennt hatte. Die georgischen Militärs hofften die Besetzung noch in der Nacht zu vollenden und belegten den Ausgang des Gebirgstunnels, der Südossetien mit Nordossetien verbindet, mit Artilleriefeuer. Denn das war der einzige Weg, auf dem Hilfe aus Russland kommen konnte.

Den Befehl zum militärischen Eingreifen konnte nur Dmitri Medwedjew geben, der neue oberste Befehlshaber. Den Bericht über die georgische Aggression erhielt Medwedjew erst um 1 Uhr in der Nacht zum 8. August. Diese Verzögerung wurde später als grober Fehler der Militärs gewertet. Der Präsident gab den Befehl über Gegenmaßnahmen erst nach einer weiteren Stunde, als das Ausmaß des georgischen Überfalls klar geworden war. Die geringfügige Verzögerung des Beginns der Konteroperation kam ziemlich teuer zu stehen. Bei der Ausfahrt aus dem Tunnel wurde die Kolonne russischer Schützenpanzerwagen von georgischen Spezialtruppen beschossen. Der Befehlshaber der 58. Armee, General Anatoli Chruljow, wurde durch Geschosssplitter schwer verletzt.

Noch vor Beendigung des fünftägigen Krieges flog Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy nach Moskau, der die EU und die NATO vertrat. Er sprach nur mit Medwedjew, obwohl Putin bereits aus Peking zurückgekehrt war.

Der Regierungschef spielt Feuerwehr

Die globale Wirtschaftskrise erreichte Russland im Oktober 2008 nicht nur wegen des Verfalls der Preise für Erdöl, Russlands wichtigstes Exportgut. Stark litten auch viele Privatbanken, die auf dem Binnenmarkt billige Westkredite weiterverkauft hatten. Kredite in Rubel konnten einheimische Geschäftsleute wegen der hohen Inflation nur für kurze Fristen und zu einem Zinssatz von 20 Prozent erhalten, Kredite in Dollar oder Euro waren halb so teuer. Aber solche Kredite gab es ab September 2008 plötzlich nicht mehr. Alle Projekte in Russland, die von Devisenkrediten abhingen, wurden schrittweise gestoppt. In Moskau wurde das dadurch sichtbar, dass die Hochhausbaustellen des Geschäftszentrums Moscow-City »eingefroren« wurden. Die Regierung versuchte nicht, diese Prestigeprojekte zu retten.

Ende Oktober aber ertönte ein SOS-Signal, das Putin nicht ignorieren konnte. In Rybinsk war das Unternehmen »Saturn« in Not geraten. Der ehemals berühmte Rüstungsbetrieb »Rybinsker Motoren« ist heute eine offene Aktiengesellschaft, deren Chefs 75 Prozent der Anteile unter sich aufgeteilt hatten. »Saturn« war durch Staatsaufträge gesichert. Das Werk produzierte Flugzeugmotoren für Tu-154, Il-62, Il-76, für Hubschrauber, Flügelraketen Jäger und den neuen Superjet-100. Doch die Eigentümer des Werkes hatten in Erwartung hoher Profite große Kredite aufgenommen und begannen auf den Exportmarkt zu expandieren, indem sie Bestellungen aus China, Korea, Usbekistan und anderen Staaten aufnahmen. Die Kreditnot führte nun zu Werksstilllegungen und zur Entlassung von mehr als 5000 der zuvor 19 000 Beschäftigten. Für die Stadt Rybinsk war das eine Katastrophe. Der Kurs der »Saturn«-Aktien sank auf einen Bruchteil seines vorherigen Wertes.

Putin flog mit einer Gruppe von Beratern nach Rybinsk, besichtigte Werksabteilungen, sprach mit Arbeitern und Ingenieuren. Für die Refinanzierung der Schulden wurden 10 Milliarden Rubel gebraucht. Am 1. Dezember wurde eine Versammlung führender Vertreter des Gebiets und des Werkes, der Kunden von »Saturn«, von Direktoren der zivilen und militärischen Flugzeugindustrie einberufen. Das Wichtigste auf der Versammlung war natürlich der Auftritt Putins. Dessen Rede war wie ein fertiger Beschluss formuliert: »Die Staatsgesellschaft ›Oboron-prom‹ erwirbt alle Saturn-Aktien von den privaten Eigentümern. Die Aktien werden auf marktwirtschaftlicher Basis zu Marktpreisen erworben... Ich will anmerken, dass das bisherige Management weiterarbeiten wird, es hat sich als professionelles Management empfohlen...«

Das nächste Notsignal kam Ende Dezember aus Rostow am Don. Das legendäre Werk »Rostselmasch«, Basis der Mechanisierung der Landwirtschaft, ging zur dreitägigen Arbeitswoche über und stoppte die Produktion von Vollerntemaschinen. Putin flog am 11. Dezember zum »Arbeitsbesuch« nach Rostow. Überall auf dem Werksgelände standen fertiggestellte, aber unverkäufliche Maschinen. Die potenziellen Käufer, die Landwirtschaftsbetriebe, hatten einfach kein Geld. Auch sie waren auf Kredite angewiesen, die sie jedoch nicht bekamen.

Auf einer erweiterten Versammlung im Werk formulierte Putin Lösungsvorschläge, die kurzfristig in Beschlüsse umgesetzt wurden: Die Regierung intervenierte auf dem Getreidemarkt. Dadurch stiegen die Aufkaufpreise und die Produzenten nahmen mehr Geld ein. Getreideimporte wurden mit hohem Zoll belegt, die Zölle auf den Impport landwirtschaftlicher Maschinen wurden auf 15 Prozent angehoben. Die Verwendung von Staatsgeldern für den Erwerb ausländischer Maschinen, einschließlich Autos, wurde verboten. Den landwirtschaftlichen Produzenten wurde eine Kreditlinie in Höhe von 25 Milliarden Rubel durch die Landwirtschaftsbank eröffnet...

Putin erklärte die Einführung von Importzöllen zur »zeitweiligen Maßnahme, die unter den Bedingungen der Weltfinanzkrise notwendig ist«. Das war natürlich Protektionismus, wie ihn die Regeln der WTO verbieten. Aber Russland wurde ohnehin noch nicht in die WTO aufgenommen, deren Regeln sind daher für das Land nicht verpflichtend.

Nach zwei Monaten führte »Rostselmasch« wieder die fünftägige Arbeitswoche ein und besetzte freie Stellen. Aus den Lagern wurden 1400 Maschinen verkauft und die Produktion wurde wieder angefahren. Die Welle erfasste auch andere Unternehmen der Landwirtschaftstechnik. Zur Frühjahrsbestellung fuhren neue Traktoren, Sämaschinen und Kultivatoren auf die Felder.

Eine Vielzahl von Problemen erwuchs in den exportorientierten metallurgischen Zweigen. Die Nachfrage nach Metallen sank überall auf der Welt jäh, die Preise verfielen. Fast die gesamte russische Metallurgie befindet sich seit 1996 im Privatbesitz milliardenschwerer Oligarchen. Die Stahl-, Nickel-, Aluminium-, Kupfer oder Titanmagnaten begannen Gruben zu schließen und Arbeiter zu entlassen. Aber wohin sollen Arbeiter aus Norilsk, Magnitogorsk oder Bratsk an der Angara gehen? Selbst die Nachfrage nach jakutischen Diamanten sank.

Anfang 2009 besuchte Putin 50 Betriebe in 30 Gebieten Russlands. Die Regierung untersagte die Entlassung von Arbeitern in den nördlichen und östlichen Regionen und in »städtebildenden« Unternehmen aller Gebiete – was freilich noch keine Lohnzahlungen garantiert. Stahl und Buntmetalle werden vorerst auf Lager für die Zukunft produziert. Alle unbearbeiteten Diamanten aus Jakutien kaufte der Staat für seinen Diamantenfonds. Diamanten sind zuverlässiger als Dollars. Das Hauptziel dieser Beschlüsse wird nicht von der Logik der Marktwirtschaft, sondern von der Notwendigkeit des Haltens von Fachkräften bestimmt. Denn die sind das wichtigste Kapital des Landes. »Die Kader entscheiden alles«, hieß es einst.

Alternativen sind nicht in Sicht

Zweimal monatlich zeigt das russische Fernsehen Treffen Medwedjews mit Putin, bei denen verschiedene Probleme behandelt werden, meistens solche sozialökonomischer Natur. Ganz gewiss treffen sie sich öfter und tauschen ihre Meinungen sicherlich täglich aus. Viele Entscheidungen erfordern die Zustimmung sowohl des Präsidenten als auch des Premiers. So war es während des »Gaskonflikts« mit der Ukraine im Januar, ebenso wie anlässlich der gegenwärtigen Zuspitzung der Beziehungen zur NATO wegen deren Manöver in Georgien.

Die Führer westlicher Staaten rufen gewöhnlich bei Medwedjew an, die Chefs der ehemaligen Sowjetrepubliken öfter bei Putin. Gesetzesvorlagen, die Verfassungsfragen betreffen, werden unbedingt gemeinsam erörtert. Die wichtigste, erst kürzlich angenommene, betraf die Amtszeiten der Duma und des Präsidenten. Die Duma wird künftig für fünf Jahre gewählt, der Präsident für sechs. Das garantiert Stabilität auf längere Zeit und sichert augenscheinlich die Fortexistenz des Tandems, dessen Fahrer hin und wieder die Plätze tauschen. Es ist sinnlos zu erörtern, ob das gut oder schlecht ist. Alternative Varianten gibt es einfach nicht.

»Einiges Russland« kann man als zentristische politische Kraft ansehen, mit möglichen Ausschlägen nach links unter dem Einfluss der Krise. Die prowestliche liberale Opposition hat nahezu alle Positionen verloren. Die Krise kam schließlich aus dem Westen. Viele Oligarchen sind verschuldet und bitten die Staatsbank um Kredite. Einige sind sogar verarmt. Die Arbeitslosigkeit wächst. Dieser Prozess lässt den Einfluss der KPRF wachsen, der einzigen realen Opposition zu den Einheitsrussen. Die Kommunisten in Russland verfügen über eine einigermaßen starke Presse und eine stabile Wählerschaft, aber nicht über populäre und einflussreiche Führer. Im Bewusstsein der Mehrheit in Russland ist Putin der nationale Führer. Sein politischer Einfluss definiert sich nicht durch seine formellen verfassungsmäßigen Kompetenzen, sondern durch das akkumulierte politische Kapital. Medwedjew ist bis jetzt »Schüler und Kampfgefährte« Putins.

Übersetzung aus dem Russischen: Detlef D. Pries

Unsere Autoren

Der Name Medwedjew nimmt in der Liste der häufigsten Familiennamen in Russland zwar nur den 52. Rang ein (weit hinter Smirnow und Iwanow, die an der Spitze stehen), doch auf eine verwandtschaftliche Beziehung des russischen Präsidenten mit unseren Autoren lässt das nicht schließen. Die Zwillingsbrüder Roy und Zhores Medwedjew wurden 1925 in Tbilissi geboren. Während Roy sich als Historiker einen Namen machte, widmete sich Zhores zunächst den Naturwissenschaften. Beide gerieten in Konflikt mit der sowjetischen Führung: Roy wurde 1969 aus der KPdSU ausgeschlossen (20 Jahre später wieder aufgenommen), Zhores als Dissident zeitweilig gar in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, bevor ihm 1973 die sowjetische Staatsbürgerschaft entzogen wurde. Seither lebt er in London.

Zu den zahlreichen Büchern und Artikeln, die von den Medwedjew-Brüdern teils gemeinsam verfasst haben, gehören politische Biografien Chruschtschows, Andropows, Gorbatschows, Putins – und Medwedjews.

* Aus: Neues Deutschland, 9. Mai 2009


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