Frau Matwijenkos Sprungbrett
Schlechtes Omen für Parlaments- und Präsidentenwahlen in Russland
Von Irina Wolkowa, Moskau *
Im Petrowski-Rayon von Sankt Petersburg finden am Sonntag Nachwahlen für die
Stadtbezirksversammlung statt. Nichts Besonderes, sollte man meinen. Doch das Ereignis
beschäftigt das politische Russland seit Wochen.
Eine Dienstaufsichtsbeschwerde an Präsident Dmitri Medwedjew hat Andrej Dawydow von der
Petersburger Regionalorganisation der sozialliberalen Jabloko-Partei bereits abgeschickt. Jetzt
werkeln er und seine Parteifreunde an einer Klage, mit der sie notfalls bis zum Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ziehen wollen. Darin listen sie alle Rechtsverstöße bei
den Nachwahlen zum Stadtbezirksparlament im Petrowski-Rayon der Newa-Stadt am Sonntag auf.
Dort und in einem weiteren Rayon hatten zwei regierungsnahe Abgeordnete im Mai ihre Mandate
niedergelegt, um Valentina Matwijenko, derzeit Petersburgs Gouverneurin, eine Kandidatur zu
ermöglichen. Für Matwijenko soll diese Wahl nur das Sprungbrett für die Aufnahme in den
Föderationsrat sein, die zweite Kammer des russischen Parlaments, nach US-amerikanischem
Vorbild auch als Senat bezeichnet. Senator kann nämlich nur werden, wer zuvor zum Mitglied eines
Organs der Legislative gewählt wurde.
Matwijenko soll aber nicht nur Mitglied des Föderationsrates werden, sondern dessen Präsidentin.
Aus diesem Amt, protokollarisch das dritthöchste in Russland, war Sergej Mironow, langjähriger
Vorsitzender der sozialdemokratischen Partei »Gerechtes Russland«, im Mai dieses Jahres auf
Initiative der Regierungspartei »Einiges Russland« verdrängt worden. Was insofern verwunderte, als
auch »Gerechtes Russland« als Schöpfung der Präsidialverwaltung galt. Doch war Mironow schon
aus wahltaktischen Gründen zunehmend auf Distanz zu den allmächtigen »Einheitsrussen«
gegangen.
Künftig, klagen Dawydow und andere Kritiker, werde dem Amt des Senatspräsidenten jedenfalls der
Ruch der Illegitimität anhaften. Und dies wegen der Art und Weise, wie Frau Matwijenko am Sonntag
ihr Abgeordnetenmandat im Petrowski-Rayon erlangt. Denn oppositionelle Kandidaten wurden nicht
einmal registriert. Wiederholt hatten sie sich nach den Terminen für Abstimmung und
Anmeldeschluss erkundigt, stets jedoch die Auskunft bekommen, Nachwahlen seien nicht geplant.
Als die Wahlankündigung schließlich doch in der Stadteilzeitung stand, war es zu spät. Die
Amtsleitung, die das Blatt auch finanziert, hatte die gesamte Auflage zurückgehalten und erst nach
Ablauf der Bewerbungsfrist ausgeliefert. Ohnehin hatte sich die lokale Wahlkommission kollektiv in
den Urlaub verabschiedet.
Solche Rechtsbeugungen sind Wasser auf die Mühlen von Kritikern, die ähnliche Tricks bei den
bevorstehenden Parlaments- und Präsidentenwahlen fürchten. Außerdem machen sie das Dilemma
deutlich, in das Russland durch seine straffe Machtvertikale geraten ist. Nach dem Geiseldrama in
der Schule von Beslan im September 2004 hatte Wladimir Putin durchgesetzt, dass die
Provinzgouverneure – bis dahin direkt gewählt – fortan vom Präsidenten ernannt wurden. Deren
Platz im Föderationsrat übernahmen bevollmächtigte Vertreter mit dem Mandat eines Organs der
Legislative. Das Mandat eines Stadtbezirks reicht, was im Falle Matwijenkos Zeit spart. Sie soll ihr Senatsamt nämlich rechtzeitig vor den Duma-Wahlen antreten, um den Föderationsrat unter ihre
Kontrolle zu nehmen.
Auf der untersten Ebene der Legislative schneidet die Regierungspartei »Einiges Russland«
allerdings bisweilen nicht besonders gut ab. Mehrfach schon scheiterten ihre Kandidaten dort an
Kommunisten oder Kandidaten der liberalen Opposition. Womöglich hätten die sich im Petrowski-
Rayon sogar gegen Matwijenko verbündet. Dies sollte offenbar unter allen Umständen verhindert
werden. Denn eine Niederlage ihrer Favoritin hätte die »Einheitsrussen« schwer in die Bredouille
gebracht. Jetzt sorgen sie sich lediglich noch um die Wahlbeteiligung. Die Bewohner des Rayons
werden mit allen Mitteln bearbeitet, am Wochenende an der Wahlurne zu erscheinen, statt auf ihre
Datscha zu entschwinden.
* Aus: Neues Deutschland, 20. August 2011
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