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Vancouver lässt Machtkampf in Russland eskalieren

Schwere Vorwürfe und politische Debatten nach dem schlechten Abschneiden der Olympiamannschaft

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Sportfunktionäre, die am Sonntagabend den politischen Wochenrückblick des russischen Staatsfernsehens verfolgten, waren bereits gewarnt und auf das Schlimmste vorbereitet.

Statt strahlender Gewinner von Vancouver standen wütende Ex-Olympiasieger und Trainer von Russlands olympischem Nachwuchs vor der Kamera und forderten Konsequenzen für das mit Abstand schlechteste Abschneiden der Nationalmannschaft seit den Winterspielen 1956 in Cortina d'Ampezzo: nur dreimal Gold und Platz elf in der Länderwertung.

Das Nationale Olympische Komitee sei zum Selbstbedienungsladen für Sportfunktionäre verkommen und müsse dringend reformiert werden, forderte Irina Rodnina, die mit Partner Alexander Saizew dreimal olympisches Gold und zehnmal den Weltmeistertitel im Paarlaufen für Moskau holte. Ähnlich sah das auch Trainerin Ljudmila Kalinina, die in Perm im Ural den olympischen Nachwuchs betreut: »Wir haben nichts zu verlieren und werden daher aus unseren Herzen keine Mördergrube machen. Wir werden peinliche Fragen stellen, denn wir wollen wissen, wer sich das Geld eingesteckt hat, das für uns bestimmt war.«

Kritik übten Rodnina und Kalinina auch am Massentourismus hoher Beamter. Diese seien in Scharen in Vancouver eingeflogen und hätten dort im »Russischen Haus« in Saus und Braus gelebt. Trainer dagegen seien in Containern einquartiert worden, wo es nur Bett und Kleiderhaken gab, und die meisten Aktiven hätten im Olympischen Dorf ein Zweibettzimmer beziehen müssen.

Der russische Rechnungshof drohte bereits mit einer umfassenden Überprüfung und auf der Beratung von Präsident Dmitri Medwedjew mit der Fraktion der Regierungspartei Einiges Russland standen der Umgang mit Staatsgeldern und das Desaster von Vancouver ebenfalls ganz oben auf der Agenda. Er, so der Kremlchef, könne all jenen, die für den Misserfolg verantwortlich sind, nur raten, jetzt »eine mutige Tat zu vollbringen« und den Rücktritt einzureichen. Sollte der Mut dazu nicht reichen, werde der Staat gern nachhelfen. Auch der Generalsekretär der Einheitsrussen - Dumapräsident Boris Gryslow - rief nach Konsequenzen für das »Versagen des Systems« und warf den Sportfunktionären zudem Mangel an Durchsetzungsvermögen und Verhandlungsgeschick bei der Vertretung russischer Interessen in internationalen Sportverbänden vor.

Die Opposition stieß in das gleiche Horn. Sportler säßen für die Regierungspartei in Duma und Senat, nörgelte Wladimir Shirinowski, der Chef der nationalistischen Liberaldemokraten, und hätten daher keine Zeit für Training. Gennadi Sjuganow von der KP rügte vor allem, dass die Förderung von Nachwuchs- und Breitensport seit dem Ende der Sowjetunion sträflich vernachlässigt wurde. Selbst wenn aus Vancouver sofortige Lehren gezogen würden, habe Russland keine Chancen, in Sotschi ähnlich glanzvoll abzuschneiden wie Gastgeber Kanada bei den jetzt zu Ende gegangenen Spielen.

Kritik in derartig geballter Form erklären hiesige Medien auch mit der Eskalation des Machtkampfes zwischen Medwedjew und Premier Wladimir Putin. Denn die meisten der von Medwedjew zum Rücktritt aufgeforderten Sportfunktionäre bekamen ihr Amt als Günstlinge Putins und regierten die ihnen anvertrauten Sportverbände nach Gutsherrenart und bisher auch unbehelligt von staatlichen Kontrollen. Sportminister Witali Mutko, der zum persönlichen Freundeskreis Putins gehören soll, ging daher - für hiesige Verhältnisse eine ungeheuerliche Subordination - bereits zum Gegenangriff über. Vancouver sei für Russland keineswegs ein Desaster, sondern die Zählweise sei falsch gewesen. Für die Länderwertung seien nur die Medaillen berücksichtigt worden. Beziehe man auch die Plätze vier-sechs mit ein, ergebe sich ein völlig anderes Bild.

* Aus: Neues Deutschland, 3. März 2010


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