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Links ist noch Platz

Rußlands Opposition diskutiert Gründung einer sozialdemokratischen Partei

Von Andreas Korn, Moskau *

Das hat es in Moskau noch nicht gegeben. Außer der Kommunistischen Partei (KPRF) beteiligten sich am 1. Mai fast alle linken Strömungen Rußlands an einem »Linken Marsch« durch Moskau. Dem Aufruf folgten 3000 überwiegend junge Menschen, unter ihnen vermummte Antifas, die »Hauptstadt-Kommunisten« – eine oppositionelle Strömung in der KPRF –, die russische Piratenpartei, Trotzkisten, Nationalbolschewisten, Feministinnen und ein Block von Schwulen und Lesben. Die Moskauer Passanten beobachteten den bunten Zug mit Verwunderung. So eine junge Maidemonstration mit Parolen wie »Laß dich nicht mit Blumen kaufen, du landest am Herd«, »Unsere Entscheidung: Selbstverwaltung« oder auch kurz und konkret »Kapitalismus ist Scheiße« hatten die Moskauer noch nie gesehen.

Daß die Stadtverwaltung den »Linken Marsch« durch die Innenstadt überhaupt erlaubt hat, ist ein Novum und hängt damit zusammen, daß die russische Protestbewegung »für ehrliche Wahlen« in den letzten Monaten durch ihre Großdemonstrationen mehr Spielraum für die Opposition durchgesetzt hat. Gleich zu Anfang nahm die Polizei jedoch zwanzig Personen aus dem großen Block der Antifa und Autonomen fest, die ihre Gesichtsmasken nicht ablegen wollten.

Auf der Abschlußkundgebung ging eine Sprecherin der Revolutionär-Sozialistischen Bewegung (RSD) hart mit den Versammelten ins Gericht und fragte, wo die Linke gewesen sei, als die Menschen gegen die Abholzung von Wäldern und die Einführung von Schulgeld demonstrierten. Es habe heute »einfach keinen Sinn, nur Revolution zu rufen«. In ähnlichem Ton äußerte sich der linke Publizist Boris Kagarlitzki. Die Entscheidungsschlacht in diesem Jahr gehe nicht um die Frage, wer am 7. Mai in den Kreml einzieht, sondern ob es der Linken gelingt, die Gesetze zu verhindern, mit denen die Einführung von Studiengebühren und die Kommerzialisierung der Krankenhäuser möglich wird.

Der Chef der russischen Piratenpartei, Pawel Rassudow, erklärte, in einer Situation, wo ein Abonnement einer wissenschaftlichen Zeitschrift schon 500 Euro im Jahr koste, stehe das Internet heute als Wissensquelle an »vorderster Front«. Alle Versuche, den anonymen Zugang zum Netz durch das Abfragen von Paßdaten unmöglich zu machen, müßten bekämpft werden.

Mit der Demonstration hat sich erneut ein linkes Netzwerk präsentiert, das im Januar mit dem damals zum ersten Mal tagenden Linken Form entstanden war. An diesem Forum hatten sich überraschend fast alle linken Strömungen Moskaus beteiligt, die außerhalb der KPRF arbeiten. Langfristig will man eine neue linke Partei gründen. Doch über den Weg dorthin gehen die Meinung auseinander. Soll die neue Organisation eher einen Netzwerk-Charakter haben, soll sie die KPRF mit einschließen, soll sie womöglich auch den ehemaligen Ölmagnaten und Yukos-Chef Michail Chodorkowski in ihren Reihen begrüßen? Über diese Fragen beginnt man jetzt zu diskutieren.

Die Diskussion um eine neue Partei der russischen Linken ist ebenfalls eine Folge der jüngsten Protestbewegung, deren Forderung nach »ehrlichen Wahlen« der Kreml mit Webkameras in Abstimmungslokalen und einer Wahlrechtsreform zu begegnen versucht. So will der Kreml die für die Registrierung einer Partei notwendige Mindestmitgliederzahl von 10000 auf 500 senken. Weil die Linke durch eine Vielzahl von Parteineugründungen weiter zersplittern könnte, soll das Netzwerkprojekt dem entgegenwirken.

Ilja Ponomarjow, der für Gerechtes Rußland in der Duma sitzt, plädierte schon auf dem Forum im Januar für die Neugründung einer linken Sozialdemokratischen Partei, die auch für die KPRF offen sein solle. Auch Chodorkowski könne darin Mitglied werden, so Ponomarjow, der sich schon 2005 in einem Grundsatzartikel »Für eine linke Wende« zu sozialdemokratischen Ideen bekannt hatte.

* Aus: junge Welt, Samstag, 5. Mai 2012


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