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Wie weit ist Moskau von Russland entfernt?

Krisenzeichen in der Metropole und deren Umgebung

Von Detlef D. Pries *

In der Straße Bolschaja Lubjanka, die jahrzehntelang nach Volkskommissar Feliks Dzierzynski hieß, liegt ein Restaurant, das die Zunftzeichen der Nachfolger des »Eisernen Feliks« im Namen trägt: »Schtschit i Metsch« (Schild und Schwert). Allerdings steht hinter der gläsernen Tür geschrieben: »Restoran Schtschit i Metsch sakryt« – geschlossen! Ein Krisenzeichen? Die Konkurrenz nebenan versucht eine Geschäftsidee daraus zu machen. Die Kochfigur in deren Schaufenster wirbt auf einer Tafel mit einem »Antikrisenmenü«.

Keine Frage, auch in Moskau sind Krisenzeichen sichtbar. Die Abriss- und Neubauwut von Oberbürgermeister Juri Lushkow scheint gebremst. Die Fertigstellung der supermodernen »Moscow City« verzögert sich. Das Bolschoi-Theater, wegen Renovierung seit vier Jahren geschlossen, wird wohl erst 2011 wieder Gäste empfangen. Im Gegensatz zum Musen- ist der Konsumtempel gleich nebenan längst modernisiert: Das zum Edelkaufhaus aufgerüstete ZUM wirbt in diesen Zeiten stadtweit mit Preisnachlässen von 50 Prozent. Gleichwohl würden die meisten mitteleuropäischen Normalverdiener von einem Einkauf dort wohl absehen. Zu teuer.

»Wie hat dich die Krise getroffen?«, fragen alte Bekannte aus Zeiten, da sich das ND noch ein eigenes Korrespondentenbüro in Moskau leisten konnte. Und schließen gleich an: »Unsere Mascha ist arbeitslos.«

Mascha N., 29 Jahre alt, hatte im Computerhandel gearbeitet. Bezieht sie wenigstens Arbeitslosengeld? »Ich würde wohl etwas bekommen, aber der bürokratische Aufwand lohnt sich für das bisschen nicht«, sagt sie in der Hoffnung, bald wieder eine Stelle zu finden. »Alles nimmt sie auch nicht«, fügt Mutter Inna hinzu, die sich ihrerseits von einer anderen Krise betroffen sieht.

Nicht von ungefähr heißt es auf etlichen Reklametafeln: »Das Land braucht deine Rekorde.« Abgebildet darauf ist eine Mutter mit drei Kindern. Heutzutage eine Seltenheit in Russland. Weil es zu wenige Schüler in ihrer Schule gibt, die deshalb mit einer anderen zusammengelegt wird, muss auch Lehrerin Inna um ihren Arbeitsplatz bangen. Noch weiß sie nicht, was sie zu Beginn des neuen Schuljahrs tun wird.

Wenn man indes Moskaus Vizebürgermeister Juri Rosljak glaubt, müssen sich weder Mascha noch Inna ernsthafte Sorgen machen. »2007 hatten wir in Moskau 105 000 Geburten – so viele wie seit 18 Jahren nicht mehr. Und 2008 waren es noch etwa 1000 mehr.« Was Rosljak selbstverständlich dem segensreichen Wirken der Stadtregierung zuschreibt. Und die Angaben über Arbeitslosigkeit, die der Vizebürgermeister vor einer Gruppe deutscher Journalisten ausbreitet, müssten andere Stadtväter vor Neid erblassen lassen: Von 0,3 Prozent Ende 2008 sei die Arbeitslosenrate in der Krise auf ganze 0,85 Prozent gestiegen. Nicht berücksichtigt sind freilich tausende »Gastarbeiter«. Das Wort ist inzwischen wie einst »Butterbrot« und »Rucksack« aus dem Deutschen ins Russische eingewandert. Es bezeichnet Tadshiken, Kirgisen, Moldauer, Ukrainer und andere, die teils mit, teils ohne Aufenthaltsgenehmigung auf Moskauer Baustellen und Märkten, als Hofarbeiter oder Hausmeister ihr Geld verdienten, als erste entlassen wurden und in keiner Arbeitslosenstatistik auftauchen.

Sergej Wassiljew, Chef der Abteilung Internationale Beziehungen der russischen Industrie- und Handelskammer, weiß die Moskauer Verhältnisse denn auch realistisch einzuordnen. Ein Gast aus dem fernen Brunei habe ihn einst gefragt: »Wie weit ist Moskau von Russland entfernt?« Wirtschaftlich sehr weit, habe er ihm antworten müssen.

Gshel hofft auf Sotschi 2014

Dabei muss man gar nicht weit fahren, um Unterschiede zu entdecken. Gut 50 Kilometer – ein Dutzend Elektritschka-Stationen – südöstlich des Moskauer Zentrums liegt Gshel, die traditionsreiche Hochburg russischer Keramikkunst. Erzeugnisse der Gsheler Porzellanmacher waren noch vor wenigen Jahren Bückware. Sergej Simonow führt Besucher durch die Ausstellungsräume der »Vereinigung Gshel«: Vasen, Schalen, Pokale, Medaillons, Tierfiguren, Ballerinen und Bäuerinnen, Kosmonauten, Politiker und Oligarchen – alle in weiß-blauem Porzellan. Simonow rühmt die Meisterschaft ganzer Dynastien von Porzellangestaltern – und kann doch seine Sorgen nicht verbergen. Von einst 1000 Mitarbeitern sind noch 300 beschäftigt, und die bekommen ihr Geld auch nur »mit Verzögerung«. »Der Rohstoff aus dem Ural ist teuer geworden, das Gas für unsere Öfen ist teuer, und die Konkurrenz durch billiges Porzellan aus China ist groß.« Hoffnung scheint ihm einzig die Aussicht auf einen Großauftrag zu machen: »Für die Olympischen Winterspiele in Sotschi 2014 könnten wir Preise und Souvenirs liefern.«

Allerdings stehen dem Betrieb ein Eigentümerwechsel und damit neue Unsicherheiten bevor. »Wir waren eine Aktiengesellschaft«, sagt Simonow, »aber dann gerieten alle Aktien in eine Hand, und wir konnten nichts dagegen tun.« Pikaljowo könnte Schule machen

Michail Schmakow, Chef der Föderation Unabhängiger Gewerkschaften (FNPR), des größten Gewerkschaftsverbandes Russlands – offiziell 27 Millionen Mitglieder in 43 Branchengewerkschaften –, weiß von mehr als 8 Milliarden Rubel (200 Millionen Euro) Lohnschulden, die bis Anfang Juni russlandweit aufgelaufen sind. Die Arbeitslosenrate sei von 5 Prozent im November 2008 auf 10 Prozent angeschwollen.

»Solange die Löhne pünktlich gezahlt werden, ist es den meisten egal, wem die Betriebe gehören«, sagt der Gewerkschaftschef. Da mögen Oligarchen wie Roman Abramowitsch oder Oleg Deripaska getrost Jachten und Fußballklubs kaufen, mancher ihrer Angestellten mag sogar stolz darauf sein. »Aber wenn die Löhne ausbleiben, wenn Entlassungen drohen oder Unternehmen gar geschlossen werden, ruft man schnell nach dem Staat.«

Immer wieder wird in diesem Zusammenhang das Beispiel Pikaljowo zitiert. Die kleine Stadt im Leningrader Gebiet machte Anfang Juni Schlagzeilen, als die Arbeiter stillgelegter Tonerdefabriken die Fernstraße nach Sankt Petersburg blockierten, um auf ihre verzweifelte Lage aufmerksam zu machen. Monatelang waren sie schon ohne Lohn und Brot geblieben. Umgehend reiste Premier Wladimir Putin an und zwang Russlands Aluminiumkönig Deripaska, der drei der Fabriken übernommen und stillgelegt hatte, noch am gleichen Tag die ausstehenden Löhne zu zahlen.

Aber nicht überall könne der Putin als Feuerwehrmann lodernde Brände löschen, gibt Gewerkschaftsführer Schmakow zu bedenken. Er erwartet im September und Oktober eine Welle neuer Entlassungen, denn das Geld, das der Staat den notleidenden Banken überwiesen habe, komme in den Unternehmen, die es zur Fortführung ihrer Produktion brauchen, nicht an. Vor allem in den 700 »Monostädten«, wie man jene Städte nennt, die im Wesentlichen von einem Großunternehmen leben, sei die Lage brenzlig. Proteste würden nicht lange auf sich warten lassen.

Wladimir Putin sucht ein Gegengift

Vor dem Aufgang zum Roten Platz können sich Touristen – gegen Bezahlung, versteht sich – in der Gesellschaft russischer und sowjetischer Geschichtsgrößen ablichten lassen. Genauer gesagt, in der Gesellschaft von Doppelgängern. Zur Wahl stehen Zar Nikolai II., Lenin, Stalin – und Putin. Und man muss zugeben, der Putin-Darsteller kommt in Gestik und Gang seinem Vorbild am nächsten.

Der echte Putin suchte Rat in Krisenzeiten offenbar auch bei den Klassikern. Als er jüngst die Chefs aller Duma-Fraktionen traf, berichtete die Zeitung »Kommersant« ausführlich, der Regierungschef habe von den Krisenzyklen gesprochen, die Marx und Engels untersucht haben. »Aber ein Gegengift hat niemand gefunden«, sagte Putin – und überreichte dem KPRF-Vorsitzenden Gennadi Sjuganow, der gerade seinen 65. Geburtstag feierte, ein Exemplar der ersten in Sowjetrussland gedruckten, 1923 erschienenen Ausgabe des »Kommunistischen Manifests«. Hämischer Kommentar des »Kom- mersant«-Berichterstatters: Der Beschenkte sei ohnehin der einzige, dem die antiquarische Ausgabe noch etwas bedeute.

Im ehemaligen Haus der Moskauer Stadtduma, wenige Schritte vom Roten Platz entfernt, hatte jahrzehntelang das zentrale Lenin-Museum seinen Sitz. Das Museum ist längst geschlossen, das Inventar ausgelagert, schmutzige Fenster verraten, dass das historische Gemäuer noch keine neue Bestimmung gefunden hat. Davor stehen in einem Kreis ein Dutzend älterer Männer und Frauen, manche mit Uniformrock und Ordensspange. Über ihren Köpfen flattert die Flagge der Sowjetunion, ein Lied wird angestimmt. Es ist der Vorabend des 22. Juni, Jahrestag des deutschen Überfalls auf die UdSSR im Jahre 1941, heute Tag des Gedenkens und der Trauer. »Sie singen von der Heimat«, erklärt die Stadtführerin fremdsprachigen Gästen und fügt hinzu: »Ja, in Moskau haben wir alles, auch Kommunisten.«

Der Historiker Roy Medwedjew, ein bekennender Linker, denkt derweil am Stadtrand bereits über ein neues Buch nach. Arbeitstitel: »Wie Putin und Medwedjew Russland aus der Krise führten«.

* Aus: Neues Deutschland, 1. August 2009


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