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Auf lange Krise eingestellt

Rußlands Wirtschaft muß sich auf längere Durststrecke einrichten. Die Devisenreserven schmelzen, und die Subsistenzlandwirtschaft lebt wieder auf

Von Tomasz Konicz *

Rußlands Bevölkerung scheint sich auf eine lange und harte Wirtschaftskrise einzustellen. Im Frühjahr meldeten Medien eine um 30 Prozent gestiegene Nachfrage nach Gemüsesamen und Setzlingen, die in Hausgärten und rund um das Ferienhaus, die Datscha, gepflanzt werden. Es war diese Tradition kleinräumiger Subsistenzlandwirtschaft, die während der desaströsen Systemtransformation in den 90er Jahren Hungersnöte in der Russischen Föderation verhinderte. Während nahezu der gesamten Regentschaft von Präsident Boris Jelzin wurden Renten und Löhne oft mit Verspätung oder gar nicht gezahlt. Für Millionen Arbeiter, Angestellte und Rentner wurde folglich der Gemüsegarten vor der Datscha zu einer wichtigen Lebensmittelquelle.

Stärkere Rezession

Diese Tendenz zur »Naturalwirtschaft « in Krisenzeiten illustriert auch das Vorgehen des Rüstungsbetriebs Molot, dessen Arbeiter im April in Naturalien (Mehl, Nudeln, Zucker, Fleischkonserven und Speiseöl) ausgezahlt wurden. Da immer mehr hochverschuldete Unternehmen in Rußland mit ihren Lohnzahlungen in Verzug sind, könnte dieses Beispiel bald Schule machen. Offiziellen Zahlen zufolge belaufen sich die Lohnrückstände russischer Unternehmen inzwischen auf umgerechnet 180 Millionen Euro. Betriebe und Konzerne stehen insbesondere im Ausland tief in der Kreide. Laut Ministerpräsident Wladimir Putin konnten aber die Verbindlichkeiten der Privatwirtschaft von umgerechnet 500 auf – immer noch gewaltige – 330 Milliarden USDollar gesenkt werden. Der Staat setzte überdies 50 Milliarden Dollar ein, um die Schulden »strategisch wichtiger Unternehmen« bei ausländischen Banken aufzukaufen.

Inzwischen sind auch die Spekulationen über ein baldiges Krisenende verstummt. Putin räumte bereits öffentlich ein, daß 2009 ein »hartes Jahr« für die Bevölkerung werden würde. Auch Präsident Dmitri Medwedew erklärte, daß die Rezession stärker als erwartet sei. Die jüngsten Wirtschaftsdaten scheinen beiden recht zu geben: Im ersten Quartal dieses Jahres sank das Bruttoinlandsprodukt (BIP) mit 9,5 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum deutlich stärker als prognostiziert. Der Internationale Währungsfonds (IWF) geht für dieses Jahr von einem durchschnittlichen Minus von sechs Prozent aus. Wie in anderen kapitalistischen Ländern geht auch in Rußland dieser wirtschaftliche Einbruch mit einer schnell steigenden Massenarbeitslosigkeit einher. Im April wurden von der Statistikbehörde Rosstat 7,7 Millionen Menschen als arbeitslos erfaßt, was einer Erwerbslosenquote von 10,2 Prozent entspricht. Bis zum Jahresende könnte sie nach neuesten Prognosen auf 13 Prozent klettern. Dabei werden auch in den Statistiken nicht aller Arbeitslosen erfaßt. Laut Tatjana Tschetwerina, Prorektorin der Höheren Wirtschaftsschule in Moskau, existiert in Rußland eine verdeckte, statistisch nicht erfaßte Arbeitslosigkeit, von der bis zu 3,5 Millionen Menschen betroffen sind.

Die Mehrausgaben für die Arbeitslosenunterstützung belasten auch den russischen Haushalt, dessen Defizit laut Vizeregierungschef und Finanzminister Alexej Kudrin bei einem »optimistischen Entwicklungsszenario « auf 7,4 Prozent begrenzt werden könne. Das »pessimistische Entwicklungsszenario « umriß hingegen die stellvertretende Finanzministerin Oksana Sergijenko: »Wenn die makrowirtschaftliche Situation ungünstiger wird, so kann das Haushaltsdefizit in einem konservativen Szenario neun Prozent des BIP übersteigen«.

Neue Anleihen im Ausland

Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Krise lassen auch die Devisenreserven schmelzen, die während des mehrjährigen globalen Wrtschaftsbooms aufgrund hoher Energiepreise vom Kreml aufgebaut werden konnten. 2007, am Vorabend der Weltwirtschaftskrise, verfügte die russische Zentralbank über Devisenreserven von rund 476 Milliarden US-Dollar. Im Februar 2009 hatten Rußlands Zentralbanker – insbesondere aufgrund der milliardenschweren Stützungsaktionen für den Rubel – nur noch rund 384 Milliarden US-Dollar. Angesichts dieses rapiden Abschmelzens kündigte Moskau an, 2010 wieder Geld im Ausland zu leihen. Im nächsten Jahr würden Kredite in Höhe von mindestens sieben Milliarden US-Dollar aufgenommen, meldete RIA-Nowosti.

Unklar ist noch, ob die im März diskutierten Konjunkturmaßnahmen der russischen Regierung zur Dämpfung der Rezession beitragen werden. Der Umfang aller seit dem Oktober 2008 vom Kreml beschlossenen Projekte beläuft sich Schätzungen zufolge auf umgerechnet 45 bis 55 Milliarden Euro. Hierunter fallen sechs bis sieben Milliarden für Sozialleistungen und die Entwicklung des Arbeitsmarktes, sowie vier bis fünf Milliarden zur Stimulierung der Binnennachfrage. Der überwiegende Teil dieser Mittel wird zur Gewährleistung eines »verbesserten Zugangs zu Finanzmitteln« sowie für Steuersenkungen aufgewendet.

* Aus: junge Welt, 2. Juni 2009


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