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Die Schwachen liebt man nicht

Weder Selbstaufgabe noch Weltschmerz: Russland will international mit jedermann auf Augenhöhe verkehren

Von Wolfgang Kötter *

Ist es eine Drohgebärde? Oder die Mobilmachung für ein aggressiveres Vorgehen? Das fragen sich viele Experten in Deutschland mit Blick auf den russischen Militärhaushalt für 2009. Premier Putin will die "Ausgaben für nationale Verteidigung und Sicherheit" auf 2,4 Billionen Rubel anheben, umgerechnet etwa 66 Milliarden Euro, ein Anstieg um 27 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Will Moskau sein Arsenal für eine offensive Außenpolitik ausbauen? Müssen Anrainer und Ex-Sowjetrepubliken befürchten, militärisch erpresst zu werden, wie aus Kiew, Warschau, Riga oder Vilnius zu hören ist? Drohen gar neue Kriege?

So bedauerlich Aufrüstung auch sein mag, es handelt sich um kein rein russisches Phänomen. Weltweit schießen seit Jahren die Rüstungsbudgets in die Höhe wie nicht einmal auf dem Gipfel des Kalten Krieges. Seit 1998 stiegen die globalen Militärausgaben um 45 Prozent - nach Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI haben die Aufwendungen für Streitkräfte und Rüstungen im Vorjahr die 1,4-Billionen-Dollar-Marke passiert. Fast die Hälfte davon entfällt auf die USA, mehr als 70 Prozent gehen auf das westliche Bündnis insgesamt (s. Übersicht).

Von daher nehmen sich Putins 66 Milliarden Euro bescheiden aus. Der vom US-Kongress gebilligte Verteidigungshaushalt für 2009 steht bei 612,5 Milliarden Dollar (575 Milliarden Euro). Allein 70 Milliarden Dollar entfallen auf die Kriegseinsätze im Irak und in Afghanistan, zehn Milliarden auf das Nationale Raketenabwehrsystem.

Die von Putin genannte Summe von 2,4 Billionen Rubel irritiert insofern, als die vage Formulierung "Aufwand für Verteidigung und Sicherheit" auch sicherheitsrelevante Ausgaben für Geheimdienste, innere Sicherheit, und Katastrophenschutz einschließen kann, also nicht allein das Verteidigungsbudget im engeren Sinne gemeint sein muss. Immerhin beziffert Finanzminister Alexej Kudrin die Summe für den Militärhaushalt 2009 auf 1,28 Billionen Rubel, gleichfalls ein Plus gegenüber dem Vorjahr, aber nur die Hälfte der von Putin genannten Summe.

Wohin rollen die Rubel?

Moskauer Lagebeurteilungen lassen erkennen, dass sich Russland durch die Osterweiterung der NATO bedrängt und durch den geplanten globalen US-Raketenschild unter Einbeziehung von Polen und Tschechien mehr denn je bedroht fühlt - und entsprechend reagieren wird: mit einer modernisierten strategischen Atomtriade aus Interkontinentalraketen, U-Booten und Langstreckenbombern, aufgestockten konventionellen Waffen (wie Panzern, Artilleriegeschützen und Kampfflugzeugen), sowie mehr Geld für die Ausbildung der Streitkräfte.

Trotzdem wird Moskau - eingedenk der Lehren aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion - dem Westen keinen Rüstungswettlauf liefern, um nicht Gefahr zu laufen, dabei ökonomisch ausbluten. Vielmehr sind asymmetrische Antworten gefragt. Abschreckung wird angesichts begrenzter Potenziale nicht mehr als numerische Gleichheit und gesicherte Zerstörungsfähigkeit des Gegners begriffen. Das ändert nichts daran, "durchbruchsfähige strategische Kampfmittel" besitzen zu wollen. Vizepremier Sergej Iwanow: "Das militärische Potenzial und um so mehr das nukleare Potenzial müssen angemessen sein, wenn wir auf der Höhe sein wollen, oder einfach nur unabhängig. Die Schwachen liebt man nicht, man hört nicht auf sie und beleidigt sie. Wenn wir die Parität haben, wird man mit uns ganz anders reden."

Mit anderen Worten, für die nationale Sicherheit bleiben Kernwaffen unverzichtbar, deren Ersteinsatz gilt prinzipiell als möglich. Im Vordergrund stehen indes Programme, mit denen man sich gegen ein globales Raketenabfangsystem wappnen will. Deshalb wird derzeit unter anderem die Interkontinentalrakete Topol RS-24 (Reichweite bis 10.000 Kilometer) getestet. Zum erneuerten Arsenal gehört außerdem die für taktische Missionen gedachte Cruise Missile vom Typ Iskander-M. Vom Raum Kaliningrad aus könnten diese Flügelraketen die im Ort Redzikowo an der polnischen Ostseeküste geplante US-Raketenbasis innerhalb weniger Minuten ausschalten. Sollte Russland, wie angedroht, den INF-Vertrag über das Verbot von Mittelstreckenraketen aufkündigen, wäre der Weg frei zur Produktion der mobilen RSD-10-Pionier-Rakete, die über 600 Kilometer weit fliegt.

Auch für die strategische U-Boot-Flotte gibt es anspruchsvolle Projekte. Das erste von insgesamt sechs geplanten Booten vom Typ 955 Borei, die Jurij Dolgorukij, ist der ganze Stolz der russischen Flotte, kann es doch bei einer Spitzengeschwindigkeit von 26 Knoten bis zu 100 Tage tauchen und so leise wie kein anderes U-Boot durch die Weltmeere gleiten, an Bord die Interkontinentalrakete Bulawa, die bis zu 9.000 Kilometer zurücklegen kann. Weitere Bulawa-Raketen für die im Bau befindlichen Schiffe Alexander Newskij und Wladimir Monomach sollen folgen.

Trotz des Sieges musste die russische Militärführung im Fünf-Tage-Krieg gegen Georgien schmerzlich eigene Schwächen erleben. Die Flugabwehr konnte weder ein georgisches Flugzeug noch einen Hubschrauber abschießen. Satellitenaufklärung oder lasergesteuerte Präzisionsmunition - Fehlanzeige. Die elektronische Kriegführung geriet zum Totalausfall, es gelang weder, den gegnerischen Radar auszuschalten noch Flugleitsysteme wirksam zu stören, noch die Kommunikation zwischen Stäben und Truppen zu unterbrechen. Teilweise gaben die Militärs diese Unzulänglichkeiten offen zu. Der Kommandant der Bodenstreitkräfte, General Boldyrew, beklagte, Panzerverbände seien unkoordiniert vorgestoßen, während Generaloberst Nogowizyn eingestand, der Verlust von vier TU-22-Kampfjets sei der mangelnden Gefechtsausbildung der Piloten geschuldet.

Das Moskauer Institut für Nationale Strategie (ZAST) klingt alarmistischer: Tatsächlich würden die Streitkräfte kurz vor dem Zerfall stehen, die Modernisierung verlaufe viel zu schleppend, die berüchtigte Djedowschtschina ("Herrschaft der Großväter"), die brutale Unterdrückung der Rekruten durch ältere Kameraden untergrabe die Fundamente des Militärwesens. 2007 hat die Armee mehr als 340 Soldaten durch Selbstmord verloren. Das sei fast ein ganzes Bataillon, so der Oberste Militärstaatsanwalt Sergej Fridinski.

Keinen Zentimeter mehr

Die NATO werde ihr Territorium in Richtung Osten um "keinen Zentimeter" ausweiten, hatte im Dezember 1989 US-Außenminister James Baker versprochen, als man das Moskauer Plazet zur deutschen Wiedervereinigung brauchte. In der "Charta von Paris" beschloss die damalige Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) im November 1990 eine europäische Friedensordnung. Die NATO-Russland-Akte von 1997 beschwor noch einmal den "gemeinsamen Sicherheitsraum Europa" ohne neue Grenzen und Einflusssphären. Wenig später empfingen die ersten neuen NATO-Staaten ihre Mitgliedsweihe, inzwischen sind es zehn, weitere sollen folgen. Parallel dazu etabliert sich das westliche Bündnis als globale Ordnungsmacht ohne Russland, während die UNO und die OSZE, denen Russland angehört, marginalisiert werden. Moskau sieht sich vor die Alternativen gestellt: Sicherheitsarchitektur oder Konfrontationslogik, Rüstungskontrolle oder Wettrüsten.

Folglich lautet die Botschaft der Operation Georgien: Wir weichen keinen Zentimeter mehr, wenn es um unsere Interessen gegenüber Ex-Sowjetrepubliken und Ex-Verbündeten geht, halten sonst aber unsere Verträge ein. Das Londoner Institut für Strategische Studien (IISS) scheint dies besser als andere zu verstehen und nennt eine weitere Expansion der Allianz einen strategischen Fehler, die NATO dürfe "Erweiterungspolitik nicht in ein russisches Roulette verwandeln".

* Aus: Wochenzeitung "Freitag", Nr. 42, 16. Oktober 2008


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