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Milliarden-Klage um Jukos

Heute beginnt Prozess vor Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Das Verfahren, das heute (4. März) vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) beginnt, qualifizierten russische Medien als Jahrhundertprozess. Allein schon wegen des Streitwerts: 98 Milliarden US-Dollar Entschädigung fordert eine Gruppe westlicher Minderheitsaktionäre des 2004 zerschlagenen und danach quasi verstaatlichten Ölgiganten Jukos von der Russischen Föderation.

Die Kläger berufen sich auf die Europäische Menschenrechtskonvention, die gerechte Justiz und das Recht auf Eigentum garantiert. Beides wurde aus ihrer Sicht bei Jukos verletzt. Russische Behörden, so der Vorwurf, hätten das einst hochprofitable Unternehmen durch unrechtmäßige und unverhältnismäßige Steuerverfahren zunächst in den Bankrott getrieben und dessen Aktiva per Zwangsversteigerung dann an Staatskonzerne übertragen. Für Vergehen, für die Jukos und der einstige Mehrheitsaktionär Michail Chodorkowski büßen, seien weder vor dessen Verurteilung noch danach andere russische Unternehmen belangt worden, erklärte Claire Davidson, Sprecherin der Kläger. Auch die ihm zur Last gelegten Steuervergehen seien als solche erst bei dem Verfahren gegen Chodorkowski und dessen Juniorpartner Platon Lebedew qualifiziert worden. Beides kritisierte Davidson als Rechtbeugung und Diskriminierung.

Sie und andere westliche Minderheitsaktionäre hatten die Klage schon 2004 in Straßburg eingereicht. Ein Jahr zuvor war Konzernchef Chodorkowski verhaftet und wegen Steuerhinterziehung und Betrug in besonders schwerem Ausmaß angeklagt worden. Im Mai 2005 begann der Prozess, Chodorkowski wurde zu acht Haft verurteilt, Jukos zerschlagen Der Verurteilte vermutet Rache: Er hatte oppositionelle Parteien unterstützt und sich mit alternativen Bildungsprogrammen in die Erziehung künftiger Wähler eingemischt.

Die liberale Opposition und der Westen sahen das ähnlich und sich darin bestärkt, als im Herbst 2007 - Chodorkowski hatte gerade die Hälfte seiner Strafe hinter dem Baikal-See verbüßt und damit das Recht, ein Gesuch auf Erlass des letzten Drittels zu stellen - ein neues Verfahren gegen ihn eröffnet wurde. Es geht um Geldwäsche und neue Betrugsvorwürfe. Der Streitwert ist selbst für russische Verhältnisse astronomisch: Chodorkowski und Lebedew sollen Aktien und Rohöl im Werte von 892 Milliarden Rubel - knapp 20 Milliarden Euro - unrechtmäßig erworben und zwischen 1998 und 2003 Erlöse aus dem Ölexport von umgerechnet fast 17 Milliarden Euro mit fragwürdigen Mitteln legalisiert haben.

Erkennt das Moskauer Gericht, das seit März 2009 verhandelt, auf schuldig, kommen zu den acht Jahren aus dem ersten Verfahren weitere 22 dazu. Chodorkowski, so hiesige Bürgerrechtler, werde sitzen, so lange Premier Wladimir Putin in Russland das eigentliche Sagen habe. Der Westen hat daher die Causa Chodorkowski zum Lackmustest für Rechtstaatlichkeit in Russland und für das Reformpotenzial von Präsident Dmitri Medwedjew erklärt. Vor allem die Ausführungen seiner Vertreter beim Verfassungsgericht sollen die Hüter des russischen Grundgesetzes am vergangenen Freitag denn auch bewogen haben, hiesigen Gerichten aufzugeben, Verfahren, die der EGMR als unrechtmäßig beanstandet hat, neu aufzurollen. Bisher zahlte Moskau nur in Straßburg verhängte Entschädigungen.

Das könnte auch Folgen für den Fall Chodorkowski haben. Wie seine Verteidiger erklärten, werde man jede Entscheidung des EGMR akzeptieren, mit der der Vorwurf abgewiesen wird, Jukos habe sich beim Verkauf von Öl Steuervorteile erschlichen. Damit nämlich sei das neue Verfahren gegen Chodorkowski und Lebedew wegen Diebstahls von Öl und Betrug gegenstandslos. Ein EGMR-Urteil wird jedoch auf sich warten lassen. Wegen der verworrenen und extrem schwierigen Materie dürften sich allein die Anhörungen von Klägern und Beklagten - Aktionären und der Russischen Föderation - über Monate hinziehen.

* Aus: Neues Deutschland, 4. März 2010


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