Eisiges Klima
Rigide Gesetze, arrogante Unternehmer, staatliche Repression und eigene Passivität haben den Einfluß der russischen Gewerkschaften fast auf Null reduziert
Von Raoul Rigault *
Günstiger Bedingungen kann sich derzeit kaum eine Gewerkschaft auf der
Welt erfreuen, doch so schlecht wie ihren russischen Kollegen geht es
nur wenigen. Eine aktuelle Umfrage in 140 Städten und 42 Regionen
lieferte eine erschreckende Bestandsaufnahme: Nach Ansicht von 60
Prozent der Russen besitzen Gewerkschaften in ihrem Land keinerlei
Einfluß. Nur 17 Prozent denken, daß sie eher eine positive als negative
Rolle spielen. Ganze acht Prozent meinen, daß sich Gewerkschaften
tatsächlich um ihre Probleme kümmern, obwohl ein Drittel der Befragten
selbst Mitglied ist. 43 Prozent der Lohnabhängigen sehen ihre Rechte am
Arbeitsplatz hingegen »von niemandem« vertreten.
Infolgedessen vertraute fast jeder Vierte darauf, daß sich sein Chef der
Sorgen »seiner Leute« in väterlicher Weise annehmen werde. Zehn Prozent
wünschen sich ein Modell, in dem der Staat den Beschäftigten
Minimalstandards sichert. Ein frommer Wunsch, denn das 2002
verabschiedete Arbeitsgesetz schwächt die Rechte der Gewerkschaften
erheblich. Zwar wird das Streikrecht grundsätzlich anerkannt, jedoch nur
unter bestimmten Bedingungen. Arbeitsniederlegungen dürfen
ausschließlich der Regelung eines Tarifkonflikts dienen und sich nicht
gegen die Regierungspolitik richten. Solidaritätsaktionen sind verboten.
Öffentliche Angestellte und Eisenbahner haben kein Streikrecht.
»Zahlreiche bürokratische Hindernisse« machen nach Ansicht des
Internationalen Gewerkschaftsbundes (ITUC) »einen völlig legalen Streik
fast unmöglich«. So muß z.B. die Dauer eines Ausstandes im Voraus
angeben werden. Tariffähigkeit besteht erst, wenn mindestens die Hälfte
einer Belegschaft organisiert ist. Andererseits dürfen Unternehmer
Streikbrecher einstellen. Die dazu genutzte Leiharbeitsbranche
expandiert und hat eine Organisierung ihrer Arbeiter bislang erfolgreich
verhindert.
Vorbeugend gehen staatliche Stellen gegen ganze Verbände vor. So wurden
Anfang 2008 alle Büros der Eisenbahnergewerkschaft RPLBZ geschlossen,
nachdem der Vorstand der russischen Bahngesellschaft ihre Auflösung
beantragt hatte. Zugleich begann die Staatsanwaltschaft mit
Ermittlungen. Beweise für Straftaten oder auch nur Ordnungswidrigkeiten
fand sie zwar nicht, doch das eigentliche Ziel wurde erreicht: Die RPLBZ
verließ den unabhängigen, konfliktbereiten Gewerkschaftsbund KTR und
schloß sich der handzahmen FNPR an. Im Fall der
Automobilarbeitergewerkschaft ITUA wurden unter dem Deckmantel der
»Extremismusbekämpfung« der Inlandsgeheimdienst FSB und die politische
Polizei aktiv. Neben Belästigungen, Verhören und zahlreichen ungeklärten
Überfällen wurden auch gezielte Versuche unternommen, führende
Funktionäre als Spitzel anzuwerben. Hinzu kommt die Repression von
Unternehmerseite. Nachdem die 120 Mitglieder der ITUA-Sektion im
Petersburger GM-Werk Ende November nur noch Dienst nach Vorschrift
leisteten und damit einen Produktionsausfall von 30 Prozent
verursachten, wurden kurzerhand Betriebsgruppenchef Jewgeni Iwanow sowie
die Aktivistin Olga Schafikowa entlassen. Verhandlungen über die
Einführung einer 40-Stunden-Woche, eine achtprozentige Lohnerhöhung und
das Recht, zwei statt einer Woche Urlaub selbst zu terminieren, wurden
kategorisch abgelehnt.
Ein strukturelles Problem ist die Angst um den Arbeitsplatz. Um 8,5
Prozent soll die Rezession in diesem Jahr betragen, in der
verarbeitenden Industrie und im Baugewerbe wird sogar ein Minus von 19
Prozent und für 2010 ein Anstieg der offiziellen Erwerbslosenquote auf
9,6 erwartet. Dennoch ist eine Minderheit weiterhin zum Widerstand
bereit. Letzten Zahlen zufolge gab es in den ersten fünf Monaten 99
Arbeitskämpfe und damit sechs mehr als im gleichen Vorjahreszeitraum.
Sofern es sich nicht um spontane Aktionen gegen Entlassungen und für die
Zahlung ausstehender Löhne handelt, werden sie meist von den
Gliederungen der zweit- und drittgrößten Gewerkschaftsbünde VKT und KTR
organisiert. Die beiden 1995 entstandenen Verbände wollen sich nun
zusammenschließen. Mit ihren zusammen rund 2,6 Millionen Mitgliedern
bleibt ihr Umfang zwar bescheiden, doch sind sie im Vergleich zur immer
noch größten FNPR konfliktbereit, aktionsfähig und finanziell
unabhängig. Die Erbin der ehemaligen Staatsgewerkschaft ist von 70
Millionen Mitgliedern 1990 auf heute nur noch 26 Millionen geschrumpft.
Überdies gilt sie als »amorph«, undemokratisch und abhängig vom
Staatsapparat. Im sich abzeichnenden Bund aus VKT und KTR scheint die
Basis hingegen mehr Gewicht zu besitzen. Der von den Vorständen für
Mitte Oktober 2009 geplante Fusionskongreß mußte auf Anfang kommenden
Jahres verschoben werden, weil die Untergliederungen noch erheblichen
Diskussionsbedarf anmeldeten.
* Aus: junge Welt, 22. Dezember 2009
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