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Schwierige Suche nach Schnittmengen

Russland und EU wollen Startschuss für Gespräche über neues Partnerschaftsabkommen geben: Energiefrage zentrales Gipfelthema / Keine Lösung für Streitfragen

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Die Schonfrist der ersten hundert Amtstage des neuen russischen Präsidenten ist noch nicht verstrichen, da wartet der erste harte außenpolitische Brocken auf Dmitri Medwedjew: Heute beginnt im westsibirischen Chanty-Mansijsk der zweitägige Gipfel Russland -- EU. Wichtigster Tagesordnungspunkt ist die Aufnahme von Verhandlungen zum Abschluss eines neuen Rahmenvertrags über strategische Partnerschaft.

Ende Mai hatte der EU-Außenministerrat grünes Licht für die Gespräche über ein neues Kooperations- und Partnerschaftsabkommen gegeben. Vom Eis ist die Kuh damit noch lange nicht. Russlands Ständiger Vertreter bei der EU, Wladimir Tschischow, dämpfte schon am Vorabend des Treffens überzogene Erwartungen: Nicht der Beginn der Verhandlungen nach über zweijährigem Gerangel um Form und Inhalte des neuen Abkommens seien der Durchbruch, sondern deren Ende. Die Konsultationen könnten sich über Jahre hinziehen.

Die Schuld dafür suchen die Verhandlungspartner auf der jeweils anderen Seite. Wenn schon die neue »Verfassung« der EU wieder einmal durchgefallen ist, orakelte die halbamtliche Nachrichtenagentur RIA Nowosti in einem Kommentar zur Volksabstimmung in Irland, könnten die Parlamente der 27 EU-Mitglieder auch die Ratifizierung des neuen Abkommens mit Russland verweigern. Umso mehr, als die EU-Kommission darin auch Kleinkram geregelt wissen will. Vor allem aber sei unbegreiflich, warum ausgerechnet Russland ständig als Versuchslabor für eine gemeinsame EU-Außenpolitik strapaziert werden müsse.

Gemeint war mit letzterem der wichtigste außenpolitische Tagesordnungspunkt des Gipfels: Kosovo. Mehrere EU-Staaten haben dessen einseitige Unabhängigkeitserklärung so wenig anerkannt wie Moskau, das dafür vom Westen scharf angegriffen wurde. In Rage bringt russische Politiker zudem, dass die osteuropäischen EU-Neumitglieder ihre antirussischen Ressentiments ungestraft auf Kosten der Gemeinschaft ausleben dürfen: Zunächst hatte Polen wegen des russischen Stopps für Fleischimporte den Verhandlungsbeginn blockiert. Danach drohte Litauen, sein Veto einzulegen, sollte Moskau beim Streit um die Wiederinbetriebnahme seines Abschnittes der Erdölleitung »Drushba« nicht einlenken.

Gemeinsame europäische Räume für Wirtschaft, Sicherheit, Recht sowie Wissenschaft, Bildung und Kultur, wie Russland und die EU sie bereits 2003 und damit noch unter dem Dach des alten Vertrages aushandelten, der Ende 2007 ablief, sind daher, so der Tenor hiesiger Medien, nach wie vor kaum mehr als ein frommer Wunsch. Ebenso Hoffnungen, die politische Zusammenarbeit auf ein ähnlich hohes Niveau zu hieven wie die wirtschaftliche. Eben das aber hatte Medwedjew schon als designierter Präsidentschaft bei seiner ersten Begegnung mit Bundeskanzlerin Angela Merkel angeregt. Die Schnittmengen sind bisher jedoch so gering, dass beide Seiten in der ersten Runde eigene Entwürfe und kein gemeinsames Papier für das Abkommen präsentieren wollen.

Einig ist man sich bisher nur über die Fortführung der strategischen Partnerschaft. Auch in Problembereichen wie Energie. Das Thema steht in Chanty-Mansijsk erneut ganz oben auf der Tagesordnung. Zankapfel sind vor allem die Zusatzprotokolle zu der 1994 verabschiedeten Energie-Charta, deren Ratifizierung Moskau ablehnt. Denn sie würden das russische Durchleitungsmonopol für Öl und Gas aus Zentralasien beenden, worauf die EU seit langem drängt.

Eine Annäherung hält sogar Gennadi Oleinik, der für die gastgebende Region im Föderationsrat sitzt und daher zu Optimismus geradezu verpflichtet ist, für unwahrscheinlich. Russland sei ein souveräner Staat und lasse sich weder Preise und Bedingungen für Öl- und Gaslieferungen noch Lösungen für innere Probleme vorschreiben. Auch stehe es jenen, die selbst noch nicht recht zu einer gesamteuropäischen Identität gefunden hätten, nicht an, Russland ständig auf seine »genetische Tauglichkeit« für Demokratie zu testen.

Chanty-Mansijsk

Kaum war die Sonne Ende April kräftig genug, die oberen Schichten des Dauerfrostbodens anzutauen, forcierte Gouverneur Alexander Filipenko die Bautätigkeiten, um Chanty-Mansijsk, der Hauptstadt seiner Region, den Feinschliff für den Russland-EU-Gipfel zu verpassen. Der Autonome Bezirk der Chanten und Mansen ist die erste nationale Gebietskörperschaft Russlands, die als Gastgeber für ein Ereignis von internationalem Rang fungieren darf.

Ex-Präsident Wladimir Putin selbst hatte die Region im letzten Herbst als Tagungsort ins Gespräch gebracht. Aus gutem Grund: Der Bezirk steht für eine Erfolgsgeschichte. Mit 523 000 Quadratkilometern ist er knapp anderthalb Mal so groß wie Deutschland, aber mit nur 1,4 Millionen Einwohnern extrem dünn besiedelt. Üppig sprudelnde Öl- und Gasquellen haben für mehr als bescheidenen Wohlstand gesorgt und das Leben der einstigen Fischer, Pelztierjäger und Rentierzüchter gründlich umgekrempelt.

Chanten und Mansen stellen heute mit 23 000 und 8500 Menschen zwar nur noch einen geringen Anteil an der Bevölkerung. Doch ihre Alltagskultur hat der Hauptstadt Chanty-Mansijsk mit momentan 68 000 Einwohnern einen unverwechselbaren Stempel aufgedrückt. So sind avantgardistische Bauten mit Fassaden aus verchromtem Stahl und großen Glasfronten häufig so gestaltet, dass sie an einen Tschum - das Rundzelt der Nomaden in der russischen Arktis - erinnern.

Chanten und Mansen gehören zur finno-ugrischen Völkerfamilie, deren Weltkongress parallel zum Gipfel stattfindet. Auf beiden Veranstaltungen will die Region um weitere Investoren aus dem Westen werben. Nach dem Ende des Ölbooms will die Region sich als Frischwasserlieferant profilieren und dazu das bestehende Pipeline-System nutzen. Als Kunden kann sich Gouverneur Filipenko neben Zentralasien auch Westeuropa vorstellen, schließlich habe die Natur Chanten und Mansen mehr als großzügig beschenkt. In der Tat: Von Chanty-Mansijsk sind es keine 20 Kilometer bis zum Zusammenfluss von Ob und Irtysch. (wolk)

Hintergrund: Konfliktpunkte Russland - EU

Kosovo. Die Zukunft des »jüngsten europäischen Staates« bleibt zwischen Moskau und Brüssel umstritten. Russland lehnt die Umgestaltung der UN-Verwaltung (UNMIK) ab. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon hat sich dafür ausgesprochen, die EU-Mission EULEX unter dem UNMIK-Schirm agieren zu lassen, was Moskau aber ablehnt.

US-Raketenabwehr und NATO. Russland hatte im vergangenen Dezember als Reaktion auf die US-Raketenabwehrpläne in Osteuropa den Vertrag über die Begrenzung der konventionellen Rüstung in Europa gekündigt. Moskau sieht seine Sicherheit durch das Vorhaben der USA bedroht. Auch eine mögliche NATO-Osterweiterung um die Ukraine und Georgien wird von Russland strikt abgelehnt.

Partnerschaftsabkommen. Nach erheblicher Verzögerung soll ab 4. Juli zwischen EU und Russland über ein neues Abkommen verhandelt werden. Litauen und Polen, die dies über Jahre blockiert hatten, machten jetzt den Weg für Gespräche frei. In der EU sind die Meinungen geteilt, wie eng die Bindungen zu Moskau geknüpft werden sollen. Insbesondere die osteuropäischen Staaten wollen Distanz halten.

Energie. Im Westen wird russischen Energiekonzernen vorgehalten, immer wieder am Öl- oder Gashahn gedreht zu haben. Die EU-Europäer wollen daher im Partnerschaftsabkommen eine staatliche Lieferverpflichtung Russlands fixieren. Moskau möchte hingegen Garantien für Investitionsfreiheit im Westen erreichen.

Menschenrechte. Russland wird von einigen EU-Regierungen die »Verletzung von Bürger- und Menschenrechten« vorgeworfen. Zuletzt hatte die Bundesregierung den Präsidentenwahlkampf als »nicht durchgehend« demokratisch bezeichnet. (ND/dpa)



* Aus: Neues Deutschland, 26. Juni 2008


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