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Nach der Demontage des sowjetischen Kriegerdenkmals in Tallinn:

Russisch-estnisches Verhältnis: Zwischen Politik und Wirtschaft

Von Tatjana Stanowaja *

Die Demontage des sowjetischen Kriegerdenkmals in Tallinn hat den Kreml vor ein Dilemma gestellt: sich in den Konflikt einlassen und die Wirtschaftskooperation mit Estland aufs Spiel setzen oder sich über das historische Gedenken von Millionen Menschen hinwegsetzen und mit Pragmatimus die russische Wirtschaft stärken.

Die Wahl zwischen Politik und Wirtschaft ist schwer. Es gibt zwei Möglichkeiten des Herangehens an den Aufbau der russisch-estnischen Beziehungen. Das erste Herangehen ist politisch und besteht darin, die Interessen Russlands in Estland mit Härte zu verteidigen und dabei alle Hebel in Bewegung zu setzen, von der Diplomatie bis hin zu Wirtschaftssanktionen und Boykott gegen estnische Waren. Der Vorsitzende des Föderationsrates (Oberhaus des russischen Parlaments), Sergej Mironow, fordert sogar den Abbruch der Beziehungen. Dieses Herangehen hat sowohl Vor- als auch Nachteile.

Nach Ansicht der Anhänger des politischen Herangehens muss Russland eine prorussische politische Szene in Estland aufbauen, statt Beziehungen mit der jetzigen estnischen Elite zu knüpfen, die ausgesprochen anti-russisch ist. Es geht im Grunde um ein Konfrontationsszenario. Demnach soll sich Russland in eine Konfrontation mit den einflussreichsten und handlungsfähigsten Kreisen in Estland einlassen und sich auf marginale und schwache Organisationen stützen, die künstlich unterhalten werden, jedoch zu Russland stehen. Die Logik ist einfach: Wenn es nicht gelingt, die Stimmungen der estnischen Elite auf gütlichem Wege zu beeinflussen, dann muss man hart durchgreifen.

Dieses Herangehen hat jedoch bedeutende Nachteile. Erstens hat das prorussische politische Lager, bestehend aus der Verfassungspartei, mehreren Veteranenverbänden und der Organisation „Notschnoj Dosor“, im Wettbewerb mit den estnischen politischen Parteien keine Chance und kann deshalb die russischen Interessen in Estland nicht wirksam durchsetzen. Die Verfassungspartei erhielt bei den jüngsten Parlamentswahlen nur 0,99 Prozent - die russische Bevölkerung gab ihre Stimmen für die handlungsfähigeren Zentristen ab. Gegenwärtig hält sich die Verfassungspartei aus dem russisch-estnischen Konflikt weitgehend heraus - abgesehen von dem Appell an die estnische Regierung, die Gräber jener zu respektieren, „die im Krieg gefallen sind, der als das grausamste Verbrechen des 20. Jahrhunderts auf ewig im Gedächtnis bleibt.“ Somit erkennt diese prorussische Organisation - wenn auch indirekt - die Unwirksamkeit des Konfrontationsszenarios an.

Zweitens dient das Konfrontationsszenario Estland als Anlass, um dem Kreml die Einmischung in innere Angelegenheiten vorzuwerfen. Das um so mehr, als sich Russlands Präsident Wladimir Putin selbst gegen jede Einmischung aus dem Ausland in die russische Innenpolitik wehrt. Mit dieser Inkonsequenz stößt Russland Europa vor den Kopf, das sich jeder Kritik an den umstrittenen Entscheidungen der estnischen Regierung enthält.

Drittens gefährdet die Eintrübung der russisch-estnischen Beziehungen den russischen Öltransit durch das Baltikum. Da die russische Wirtschaft auf die Einnahmen aus den Ölexporten angewiesen ist, muss Russland entscheiden, was für es wichtiger ist: stabile Einnahmen kassieren und eigene Sozial- und Wirtschaftsprobleme lösen oder den historischen Stolz bewahren, der für die Wiedergeburt einer jeden Nation unentbehrlich ist.

Das zweite Herangehen ist pragmatisch und entscheidet dieses Dilemma zugunsten der Wirtschaft. Kürzlich zitierten estnische und russische Medien den Chef des Duma-Ausschusses Konstantin Kossatschow, der erklärt haben soll, er werde die Verlegung des Denkmals in Estland unterstützen, wenn die estnischen Behörden eine „würdige“ Zeremonie organisieren. Obwohl diese Erklärung sofort dementiert wurde, widerspiegelt sie die Position der Pragmatiker, die eine feierliche Umbettung der sterblichen Überreste der sowjetischen Soldaten akzeptieren, um Chancen auf konstruktive Beziehungen beizubehalten.

Dass es auch im russischen Establishment solche Pragmatiker gibt, bestätigte der estnische Außenminister Urmas Paet, dem zufolge estnische und russische Diplomaten über eine annehmbare Variante der Verlegung des Bronzesoldaten beraten. Symbolisch sind die Worte des LDPR-Chefs Wladimir Schirinowski: „Sie haben das Recht, das Denkmal abzutragen. Sie sind ein fremdes Land. Wir sollten lieber näher hinsehen, was in Russland passiert. Auch bei uns werden solche Denkmäler abgetragen.“

Mit Vorbehalten kann auch der Duma-Chef und Vorsitzende der Regierungspartei „Einheitliches Russland“, Boris Gryslow, zu den Pragmatikern gerechnet werden. Vor den Parlamentswahlen in Estland warb Gryslow mit Nachdruck für die Estnische Zentrumspartei von Edgar Savisaar, die das Gesetz über die Soldatengrabstätten unterstützte.

Doch das pragmatische Herangehen ist nicht weniger widersprüchlich als das politische. Entscheidet sich der Kreml für dieses Herangehen, kann er seine Anhänger in Estland verlieren. Diese verteidigen ihre Positionen mit mehr Konsequenz als die Zentristen und werden sich betrogen fühlen, wenn der Kreml ihnen den Rücken kehrt.

Außerdem schafft das pragmatische Herangehen einen gefährlichen Präzedenzfall. Wenn Russland den Denkmalabriss duldete, würde es den Weg für eine Reihe ähnlicher Ereignisse, auch außerhalb Estlands, und eine Revision der Geschichte freimachen. Ein weiterer wunder Punkt der Pragmatiker sind die Gefühle der russischen Kriegsveteranen, über die man sich ausgerechnet im Vorfeld des Jahrestages des Sieges hinwegsetzen will.

Es ist so, dass Russland eins von zwei Übeln wählen muss. In beiden Fällen lassen sich die Folgen kaum absehen: Weder Politik und Wirtschaft noch Vergangenheit und Zukunft können getrennt voneinander existieren. Russland kann die Beziehungen mit Estland ohne Schaden für die eigenen Wirtschaftsinteressen nicht abbrechen. Auch kann es den Denkmalabriss nicht ignorieren, ohne die Gefühle eines wesentlichen Teils der estnischen Gesellschaft, der Kriegsveteranen und der meisten Russen zu beleidigen. Dennoch muss Russland eine Wahl treffen. Das wird höchstwahrscheinlich ein Kompromiss sein. Russland muss auf das Vorgehen der estnischen Behörden mit Härte reagieren, ohne die eigenen Wirtschaftsinteressen in Gefahr zu bringen.

* Tatjana Stanowaja ist Expertin im Zentrum für Polittechnologien.
Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

Quelle: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 4. Mai 2007;
http://de.rian.ru



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