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Kein Entkommen vor dem Familiengericht

Junge Frauen aus dem Nordkaukasus leben auch in anderen russischen Regionen gefährlich

Von Bernhard Clasen *

Wenn eine Frau im Nordkaukasus von einem Familiengericht zum Tode verurteilt ist, hat sie kaum eine Chance, ihren Verfolgern zu entkommen, auch dann nicht, wenn sie in eine andere Region Russlands flieht.

Die 22-jährige Marjam Magomedowa hatte kein gutes Gefühl, als sie der Bitte ihres Vetters Chiramagomed Schamchalow nachkam, Moskau für ein paar Tage zu verlassen, um an seiner Hochzeit in ihrem Heimatdorf Netschajewka im nordkaukasischen Dagestan teilzunehmen.

Kaum in Dagestan eingetroffen, wurde der in Moskau noch so charmante Vetter denn auch sehr deutlich: Sie habe von einem fremden Mann eine anzügliche SMS erhalten und mit dem Absender wenig später sogar telefoniert. Das seien eindeutige Beweise dafür, dass sie mit ihm geflirtet habe. Dadurch habe sie die Ehre der Familie verletzt. Schamchalow forderte Marjam auf, ihre Seite im sozialen Netzwerk »Odnoklassniki. ru« (Klassenkameraden) zu löschen, und blockierte den Internetzugang ihres Mobiltelefons.

Eines Morgens nahmen Schamchalow und Marjams Onkel Kasum Magomedow die junge Frau in ihrem Wagen mit. Das war das letzte Mal, dass Marjam lebend gesehen wurde.

Sofort nach Marjams Verschwinden machte sich die Familie auf die Suche. Ihr Bruder entdeckte auf dem Friedhof ein frisches Grab ohne Grabstein und Namen. Beim Öffnen des Grabes wurde der Verdacht zur schrecklichen Gewissheit: Die Tote darin war Marjam.

Wenig später erfuhr die Familie, dass sich Kasum Magomedows Bruder Asilder mit dem Mord an der 22-Jährigen brüstete. Die Familie habe einen Schandfleck von sich abgewaschen, erzählte er einem größeren Kreis von Dorfbewohnern.

Von der Ermordung Marjam Magomedowas durch Verwandte ihres Vaters im August 2010 berichtet die russische Menschenrechtlerin Swetlana Gannuschkina. Das Einzigartige an dem Fall: Erstmals habe die Mutter des Opfers eines Ehrenmordes im Nordkaukasus Menschenrechtlern erlaubt, ihren Namen und den ihrer nach einem Todesurteil von Verwandten hingerichteten Tochter zu veröffentlichen.

»Wir beobachten in den letzten Jahren eine Zunahme der tödlichen Gewalt gegen Frauen im Nordkaukasus«, berichtet Swetlana Gannuschkina. »Diese Ehrenmorde werden in der Regel nicht verfolgt, die verschwundenen Frauen werden nicht gesucht. Die örtlichen Behörden machen mit den Verwandten, die sich durch eine grausame Hinrichtung eines ›Schandflecks‹ entledigen, gemeinsame Sache. Niemand interessiert sich für Beweise. Gerüchte über ein angebliches unmoralisches Verhalten der Getöteten reichen für einen Mord aus«, erklärt Frau Gannuschkina. »Es war sehr mutig von Muslimat Magomedowa, der Mutter der Getöteten, dass sie sich entschlossen hat, offen über den Mord an ihrer Tochter zu sprechen.«

Wenn eine Frau im Nordkaukasus erst einmal von einem Familiengericht zum Tode verurteilt ist, hat sie kaum eine Chance, ihren Häschern zu entkommen, selbst dann nicht, wenn sie in eine andere Region Russlands flieht. »Wer in eine andere Stadt, beispielsweise nach Moskau, zieht, muss sich registrieren lassen. Nach dieser Registrierung informiert die Moskauer Behörde die Meldebehörde im nordkaukasischen Heimatort der Frau. Und dann«, weiß Swetlana Gannuschkina, »ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis sich die Mörder, informiert von den heimischen Meldeämtern, auf den Weg machen.« Für Frauen aus dem Nordkaukasus, die vor einem drohenden Ehrenmord fliehen, gibt es in Russland keine sichere Zuflucht.

In einem verzweifelten Versuch, Frauen, die sie kennt, vor dem Tod zu retten, hatte sich die Menschenrechtlerin persönlich an Abgeordnete aller im Bundestag vertretenen Parteien gewandt. Man möge sich doch dafür einsetzen, dass Deutschland einigen der bedrohten Frauen und ihren Kindern Zuflucht gewährt. Seit Monaten wartet Swetlana Gannuschkina auf Post aus dem Bundestag. Nur das Außenministerium in Berlin hat ihr geantwortet – mit einer freundlichen Absage.

* Aus: neues deutschland, 22. März 2012


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