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Dagestan kommt nicht zur Ruhe

Sechs Tote bei neuerlichem Anschlag auf Polizeieinheit in Machatschkala

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Sechs Menschen starben, vierzehn weitere wurden schwer verletzt, als am Mittwochmorgen (6. Jan.) in Machatschkala, der Hauptstadt der südrussischen Republik Dagestan, ein Selbstmordattentäter eine Autobombe am Tor einer Polizeieinheit zündete.

Der Attentäter hatte offenbar vor, mit seinem »Niva«-Geländewagen den Schlagbaum vor dem Stützpunkt eines Bataillons der Verkehrspolizei zu durchbrechen, während die Milizionäre sich gerade zum Schichtwechsel versammelt hatten. Beherzte Kollegen versperrten ihm jedoch mit einem UAS-Dienstwagen den Weg - und wurden zu Opfern des Anschlags. Fünf Milizionäre und der Atttentäter kamen ums Leben. Unter den Verletzten waren offenbar auch zwei Passanten. Die Sprengkraft der Autobombe entsprach dem Äquivalent von 100 Kilogramm TNT. Gebäude und Fahrzeuge im Umkreis von 200 Metern wurden von Trümmerteilen und der Druckwelle zerstört oder beschädigt.

Der Terrorkrieg in Dagestan geht also unvermindert weiter. Nach Angaben des dagestanischen Innenministeriums wurden 2009 etwa 200 Anschläge auf Polizisten verübt, dabei kamen über 50 Milizionäre ums Leben.Die russische Öffentlichkeit, die rund um den Jahreswechsel zehn Tage arbeitsfrei hat, gewöhnt sich allmählich an die mit trauriger Regelmäßigkeit aus dem Süden eintreffenden Anschlagsmeldungen. Ziel der Terroristen sind vor allem Mitarbeiter der Rechtschutzorgane, Staatsangestellte und hochrangige Politiker.

Bei den Tätern handelt es sich um islamische Extremisten aus dem gesamten Nordkaukasus, die ihre Aktivitäten nach der Befriedung Tschetscheniens in die Nachbarrepubliken verlagert haben: nach Inguschetien und vor allem in das extrem instabile Dagestan.

In der traditionell strukturschwachen Republik, wo die Arbeitslosenrate in einigen Regionen weit über 50 Prozent liegt, leben zahlreiche Völker und Volksgruppen, deren Angehörige sich zu unterschiedlichen Schulen des Islam bekennen, mehr schlecht als recht zusammen. Kämpfe um das knappe Acker- und Weideland gerieten mehrfach bis hart an den Rand eines Bürgerkriegs. Mit ähnlichem Eifer rangeln die Ethnien um Staatsämter. Den Schlüssel zu deren Verteilung, der auf Absprachen der Stammesältesten beruht, tastete Moskau, das Dagestan erst seit den Kriegen mit Iran Anfang des 19. Jahrhunderts kontrolliert, nicht einmal in den Jahren der Sowjetmacht an. Auch Boris Jelzin hütete sich, in das fein austarierte Gleichgewicht einzugreifen. Aus dem Takt geriet es erst 2005 durch die Verwaltungsreform von Präsident Wladimir Putin. Die bis dahin direkt gewählten Verwaltungschefs von Gebieten, Regionen und nationalen Republiken werden seither faktisch vom Kreml ernannt, wenngleich sie von den jeweiligen Parlamenten bestätigt werden müssen.

In Dagestan wurde damals auch der Staatsrat aufgelöst: ein kollektives Präsidium, in dem die 14 sogenannten Staatsvölker Sitz und Stimme hatten und der Vorsitzende - gewöhnlich ein Vertreter der Darginer, der zweitgrößten Volksgruppe - lediglich Erster unter Gleichen war. Den 2006 zum Präsidenten ernannten Parlamentschef Mucha Alijew dagegen stattete der Kreml mit umfassenden Vollmachten aus. Das löste schon deshalb massive Unzufriedenheit aus, weil Alijew zum Volk der Awaren gehört, der mit Abstand größten Volksgruppe in Dagestan, der kleinere Völker traditionell vorwerfen, sie reiße die Macht an sich. Dies gilt vor allem für die Lesginen, die rein zahlenmäßig den Awaren zwar überlegen sind, deren größerer Teil jedoch im benachbarten Aserbaidshan lebt. Beim Postenschacher in Dagestan fallen für ihre Volksgruppe daher nur Brosamen ab. Entsprechend hoch schlugen die Wellen der Empörung, als Moskau auch noch das Amt des obersten Steuereintreibers, das nach lokalem Verteilungsschlüssel einem Lesginen zusteht, mit einem Russen besetzte. Der konnte sein Amt nicht antreten und warf nach Morddrohungen schließlich das Handtuch.

Jetzt kochen die Leidenschaften erneut hoch. Denn im Februar laufen die Vollmachten Mucha Alijews aus. Und noch ist nicht klar, welchem der fünf Kandidaten, die die Kremlpartei »Einiges Russland« für das Amt des Republikschefs vorgeschlagen hat, Präsident Dmitri Medwedjew den Zuschlag gibt. Er soll einen Vertreter der neuen Geschäftseliten favorisieren und sich von diesem effektives Management und Erfolge bei der Korruptionsbekämpfung versprechen. Premier Wladimir Putin unterstützt dagegen dem Vernehmen nach Alijew. Wer wird sich durchsetzen?

* Aus: Neues Deutschland, 7. Januar 2010

Letzte Meldung

Einsatzkräfte erstürmen Extremisten-Versteck in Dagestan

MACHATSCHKALA, 07. Januar (RIA Novosti). Einen Tag nach dem blutigen Selbstmordanschlag auf eine Polizeizentrale in Dagestan sind zwei bewaffnete Militante bei einem großen Feuergefecht in dieser russischen Teilrepublik getötet worden.

Einsatzkräfte erstürmten am Donnerstagmorgen (7. Jan.) das von mutmaßlichen Extremisten besetzte Privathaus im Dorf Korkmaskala. Wie ein Sprecher des Inlandgeheimdienstes FSB der Agentur RIA Novosti sagte, wurden dabei eine Kalaschnikow, eine Pistole und Munition beschlagnahmt.

Einer der getöteten Extremisten gehöre dem größten Terrorring in Dagestan an und sei eine vertraute Person von dessen Anführer, hieß es.

Zwei Verdächtige hatten sich am Mittwochabend (6. Jan.) im Haus verbarrikadiert und schossen auf die Polizisten. Die Bewohner der benachbarten Häuser mussten während des Spezialeinsatzes evakuiert werden.

Quelle: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 7. Januar 2010; http://de.rian.ru




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