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Chodorkowski gibt Hoffnung nicht auf

Urteilsverkündung ab Mitte Dezember

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Am 15. Dezember will Richter Viktor Danilkin mit der Verkündung des Urteils gegen Michail Chodorkowski und dessen Juniorpartner Platon Lebedjew beginnen. Die Verlesung dürfte angesichts der umfangreichen Begründung mehrere Tage in Anspruch nehmen.

Den einstigen Spitzenmanagern des Ölgiganten JUKOS werden Veruntreuung von 218 Millionen Tonnen Rohöl und Geldwäsche vorgeworfen. Die Staatsanwaltschaft beantragte daher für beide Ende Oktober jeweils 14 Jahre Haft. Selbst wenn auf das Strafmaß jene sieben Jahre angerechnet würden, die Chodorkowski und Lebedjew bereits abgesessen haben – wegen Betrug und Steuerhinterziehung waren sie bereits 2005 verurteilt worden – kämen sie frühestens 2017 auf freien Fuß. Kritische Beobachter im In- und Ausland vermuten für beide Verfahren politische Hintergründe: Chodorkowski hatte oppositionelle Parteien finanziell unterstützt und sich mit alternativen Bildungsprogrammen in die Erziehung künftiger Wähler eingemischt.

Der Prozess, sagt Juri Schmidt, einer der Anwälte Chodorkowskis, habe eindeutig »politische Färbung« und trage »Züge von Raubüberfall«. Schmidt meint damit die Zerschlagung des JUKOSKonzerns, der inzwischen dem staatsnahen Ölunternehmen Rosneft angegliedert wurde. Dort ist Vizepremier Igor Setschin oberster Kontrolleur. In Setschin sieht Anwalt Schmidt auch den Chef eines »Koordinationszentrums«, das »Legislative und Judikative gleichgeschaltet« habe und dafür sorge, dass die »repressive Staatsmaschinerie in der Causa Chodorkowski wie geschmiert läuft«.

Die Beweislage ist in der Tat oft bedenklich. Allein im Abschlussplädoyer der Staatsanwälte, das in keiner Weise auf die Argumente von Verteidigung und Entlastungszeugen – darunter mehrere ehemalige Minister – einging, stellten die Anwälte über 400 Fehler fest. Lebedjew unterstellte der staatlichen Anklage »bandenmäßig organisierte Kriminalität«. Chodorkowski erklärte in seinem Abschlussplädoyer letzte Woche, sein Wirtschafts- und Finanzgebaren habe in keiner Weise gegen geltendes Recht verstoßen, er sei unschuldig.

Am Montag (1. Nov.) hatte die »Nowaja Gaseta« ein erstes direktes Interview mit den beiden Angeklagten veröffentlicht. Was er Premier Wladimir Putin gefragt hätte, wenn der als Zeuge vor Gericht erschienen wäre, wollten die Interviewer von Chodorkowski wissen. Der einstige Milliardär, der sich auch aus dem Gefängnis heraus mit politischen Stellungnahmen nicht zurückhielt, erwiderte darauf, er hätte erfahren wollen, ob Putin zunächst als Premier und später als Präsident die von der Anklage behauptete Veruntreuung von 20 Prozent sämtlichen in Russland geförderten Erdöls nicht hätte bemerken müssen.

Die juristischen Aspekte des Verfahrens, kündigte Chodorkowski am Montag im verbalen Schlagabtausch mit der Anklage an, würde er jedoch in seinem letzten Wort am Folgetag ausblenden und sich voll auf das Umfeld konzentrieren, das Rechtsbeugungen dieser Art ermöglicht. Allein das sorgte dafür, dass der Gerichtssaal am Dienstag brechend voll war.

Russlands angebliche Stabilität, erkauft auch durch Exporterlöse und Steuern von JUKOS, sei in Stagnation umgeschlagen, die Gesellschaft erstarrt, rügte Chodorkowski. Hoffnungen, wie sie die Nation an die Wahl Dmitri Medwedjews zum Präsidenten knüpften, hätten sich nicht erfüllt. Der Prozess gegen ihn und Lebedjew zeige wieder einmal, dass es in Russland noch immer kein Recht auf Eigentum gibt und die Bürger beim Zusammenstoß mit dem System rechtlos sind. Man dürfe sich daher nicht wundern, dass denkende Menschen Russland den Rücken kehren. Polizisten und Tschekisten aber seien mit der Modernisierung des Landes überfordert, wie schon die Sowjetunion zeigte. Sie habe zwar Wasserstoffbomben produziert, sei jedoch außerstande gewesen, die Bürger mit modernen Fernsehgeräten zu versorgen.

Russland habe den technologischen Rückstand bis heute nicht aufgeholt, klagte Chodorkowski, der im Interview für die »Nowaja Gaseta« auch die Frage beantwortet hatte, welchen Herausforderungen sich der russische Präsident des Jahres 2012 ausgesetzt sehen werde: Es sei vor allem »der wachsende Widerspruch zwischen dem Sinken des Potenzials einer nicht modernisierten Wirtschaft zum ersten, der Habgier der Bürokratie zum zweiten und den Erwartungen der Bevölkerung zum dritten«. Irgendwann um 2015 erwarte er die nächste Krise.

Regierungsvertreter verweisen inzwischen stereotyp auf die Unabhängigkeit der Justiz im Fall Chodorkowski. »Das Gericht wird entscheiden«, erklärte Außenminister Sergej Lawrow am Montag nach dem Treffen mit Bundesaußenminister Guido Westerwelle. »Niemand glaubt an einen Freispruch, aber wir geben die Hoffnung nicht auf«, sagte Chodorkowski tags darauf.

* Aus: Neues Deutschland, 3. November 2010


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