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Ruf aus der "Matrosenstille"

Yukos-Affäre in Russland: Der Kreml holte sich zurück, was er an strategischen Ressourcen braucht

Von Kai Ehlers*

Michail Chodorkowski konnte jüngst nach längerer Zeit wieder einen Erfolg verbuchen - ein Moskauer Gericht verkürzte die erstinstanzlich gegen ihn verhängten neun Jahre Haft auf acht. Die allerdings muss der Verurteilte nunmehr im sogenannten "offenen Lagervollzug" verbüßen. Bei guter Führung kann er nach vier Jahren entlassen werden. Für die russische Justiz scheint der Fall damit erledigt, jedenfalls wurde Chodorkowskis amerikanischer Anwalt, Robert Armstrong, gleich nach der Berufungsverhandlung des Landes verwiesen. Protest dagegen regte sich kaum, wie überhaupt die Chodorkowski-Solidarität an Schwung verloren hat. Und das, obwohl der Angeklagte noch kurz vor seinem Berufungsverfahren den flammenden "Appell an die Linke" gerichtet hatte, in einer Zeit "des allgemeinen Linkstrends" Präsident Putin Paroli zu bieten.

Es handelte sich um den zweite Aufruf Chodorkowskis seit seiner Verhaftung im August 2003; den ersten hatte er nach der Wiederwahl Putins im März 2004 unter dem Schlagwort "Krise des Liberalismus" verbreiten lassen. Auch da schon sollten sich die "liberalen und demokratischen Kräfte" gegen den Kreml verbünden. Inzwischen scheint Chodorkowski von der Auffassung beseelt, Russland stehe als Reaktion auf die Jahre der räuberischen Privatisierung und der folgenden autoritären Modernisierung Putinschen Typs nunmehr ein Linksschwenk bevor. Der gestrauchelte Milliardär ruft die verbliebenen Liberalen, die Neu- und Alt-Linken dazu auf, unter Führung der National-Linken von Rodina (Heimat) und der Kommunistischen Partei eine Front gegen Putins Regiment zu bilden. Chodorkowski scheut es nicht, Oligarchen wie sich selbst als Räuber und Betrüger zu verurteilen, die nach dem Ende der Sowjetunion in krimineller Weise auf Kosten des Volkes Reichtümer angehäuft hätten - denen sei jetzt soziale Verantwortung abzuverlangen.

Man mag von Chodorkowski halten, was man will, seine Analyse der vergangenen 14 Jahre ist zutreffend. Sowohl die Ära Jelzin mit den archaischen Privatisierungen nach 1991 als auch die autoritäre Disziplinierung unter dem Patronat Putins sind kenntnisreich beschrieben, nur überschätzt der Verfasser das Potenzial der Linken, die bei der Duma-Wahl im Dezember 2003 (s. Übersicht) fast marginalisiert worden ist, auch wenn sich die von Chodorkowski diagnostizierte soziale Polarisierung der russischen Gesellschaft in eine von der "Putinschen Büroklatur" profitierende Mitte und eine radikalisierte Peripherie nicht übersehen lässt.

Bei den linken Parteien artikulieren sich neue Führungsfiguren wie der national und sozialistisch argumentierende Gennadij Glasjew; andere Linke sammeln sich in informellen Zirkeln wie dem "Sozialforum". Die Liberalen - die Union Rechter Kräfte (SPS) und die Jawlinski-Partei Jabloko, bisher erbitterte Rivalen - haben soeben beschlossen, ihre Differenzen zugunsten eines gemeinsamen Auftritts bei den Moskauer Kommunalwahlen ruhen zu lassen. Und ein Komitee um Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow empfiehlt sich als pro-westliche Alternative für die Präsidentenwahlen 2008.

Yukos-Dossiers vom BND?

Die von Chodorkowski ersehnte Linkswende bleibt freilich illusionär, solange es der Regierung gelingt, Renten-, Stipendien- und andere Fürsorge-Ansprüche mit den momentan reichlich fließenden Einnahmen aus dem Öl- und Gas-Exporten zu bedienen. Der Kreml hat dafür gesorgt, dass die Ausfuhrerlöse mehr als je zuvor seit 1991 wieder dem Staat zugute kommen - eine Konsequenz seines Vorgehens gegen die Raub-Privatisierer, Steuerbetrüger und Offshore-Spekulanten vom Schlage Chodorkowskis. Von daher entpuppt sich der Aufruf des gefallenen Tycoons unversehens als Argumentation in eigener Sache, der es angesichts der Vorgeschichte des Autors an Glaubwürdigkeit fehlt.

Ohne Zweifel war mit der Zerschlagung des Yukos-Imperiums ein weiteres Kapitel im Konflikt um die Verfügungsgewalt über Russlands Gas- und Ölressourcen zu erleben. Denn nahezu zeitgleich zum Urteil gegen Chodorkowski wurde der Öl-Multi Sibneft an den halbstaatlichen Gasgiganten Gasprom verkauft. Ursprünglich hatte Roman Abramowitsch, der Sibneft-Eigner, dem Yukos-Management ein Angebot unterbreitet, dies aber prompt zurückgezogen, als Chodorkowski im Spätsommer 2003 die Moskauer Strafanstalt "Matrosenstille" bezog. Mit dem jetzigen Verkauf, der - wie es heißt - in bestem Einvernehmen mit der Staatsmacht erfolgte, entledigte sich Abramowitsch all seiner russischen Besitztümer, um künftig als wohlbestallter Privatier im Ausland zu leben.

Wladimir Putin betrachtet die Revision fragwürdiger, teilweise ungesetzlicher Eigentumstransfers der Jelzin-Ära als unabdingbar, um Russland zu "re-stabilisieren". Als der Yukos-Konzern ausgelöst wurde, konnte damit der Versuch des Westens, besonders der USA, zurückgewiesen werden, über den Umweg einer "Internationalisierung" dieses Unternehmens, dem russischen Staat definitiv die Verfügung über strategische Ressourcen zu entreißen. Chodorkowski hatte kurz vor seiner Verhaftung begonnen, mit den US-Konzernen Exxon und Texaco eine Übernahme von Yukos auszuhandeln. Es bleibt bislang ungeklärt, inwieweit Chodorkowski dabei noch Herr des Verfahrens oder bereits ein Spielball fremder Interessen war. Es gibt Spekulationen, man habe ihn jahrelang aufgebaut und in seinen illegalen Finanztransfers bestärkt, um im Falle eines Zugriffs der russischen Justiz die Aktienmehrheit im Konzern zu übernehmen. In den Statuten der Moskauer Finanzgruppe Menatep, in der die Yukos-Eigentümer ihren Besitz organisiert hatten, gab es die Klausel, wonach Chodorkowski im Falle seines Todes, einer Entführung, einer Verhaftung oder bei Verlust eines wichtigen Yukos-Teilbetriebes seine Rechte an den Gesamtkonzern abzugeben habe, berichtete die Moskauer Wirtschaftszeitung Wedemosti. Belastendes Material, das gegen Chodorkowski wie andere Oligarchen ausreichend vorlag, habe man der russischen Regierung zu einem Zeitpunkt zugespielt, als der Konzern seine größte Ausdehnung gefunden habe. Als Überbringer des "Kompromats" - sprich: der kompromittierenden Dossiers - habe der Bundesnachrichtendienst (BND) fungiert. Motiv der Operation: Die russische Regierung zum Handeln und zur Teilenteignung von Yukos treiben, um - möglicherweise - die Interessen der westeuropäischen Gas- und Ölkunden Russlands gegenüber den engagierten US-Konzernen zu wahren. Putin, so Wedemosti, habe diese Pläne insofern durchkreuzt, als er den Prozess gegen Chodorkowski so lange verzögern ließ, bis seine Regierung genügend Zeit hatte, Yuganskneftegas, den wichtigsten Teilbetrieb von Yukos, durch eine fingierte Auktion zu übernehmen. Der bei Chodorkowski verbleibende Rest des Konzerns sei nur noch eine wertlose Hülle gewesen.

Danach erst sei die Gerichtverhandlung gegen Chodorkowski beschleunigt worden. Einiges spricht dafür, dass es so gewesen sein könnte, schließlich sind die Interessen in der Yukos-Affäre so offenkundig, dass nur ein Fazit bleibt: Putin wollte strategische Potenziale "re-nationalisieren", wozu allerdings einschränkend anzumerken wäre, der russische Staat hat sich lediglich als Mehrheitsaktionär in die eigene Öl-Gas-Branche eingekauft. Von Re-Nationalisierung im Sinne einer vollständigen Korrektur der Privatisierung aus den frühen neunziger Jahren kann keine Rede sein. Im Gegenteil, Putin erklärt bei jeder Gelegenheit, die privaten Besitzrechte seien in Russland gewahrt - und das werde auch künftig so bleiben.

Mit chinesischem Kapital

Ein zweiter Yukos-Effekt ist die faktische Bewältigung der russischen Budgetkrise, die Oligarchen haben die Warnung verstanden und bezahlen ihre Steuern. Inzwischen wies der Präsident die Regierung sogar an, über eine Amnestie für frühere Steuersünder nachdenken. Statt sich über die "Internationalisierung" von Yukos den Zugriff auf russische Rohstoff-Reserven und damit mehr Einfluss auf die russische Politik zu verschaffen, mussten die USA nun mit ansehen, wie die schnell gegründete und vom Kreml protegierte Baikal-Finanz-Gruppe Yuganskneftegas ersteigerte und zu diesem Zweck mit chinesischen Krediten ausgestattet wurde. Im Gegenzug konnte sich der chinesische Staat für die kommenden Jahre einen privilegierten Zugang zu russischen Erdöllieferungen sichern. Alles in allem ist Wladimir Putin seit Mitte 2003 eine entscheidende Weichenstellung im neuen Spiel um die eurasischen Ressourcen gelungen, die ihm genügend Spielraum verschafft, seine autoritäre Modernisierung fortzusetzen und Russland als unabhängige Kraft zwischen Ost und West zu verankern - eine nächste Phase mit vermutlich härteren Konfrontationen um Eurasiens Reichtümer dürfte folgen.

Die Dumawahl 2003

Partei2003 (Ergebnis in %)1999 (Ergebnis in %)
Einiges Russland (Präsidentenpartei)37,636,7
KP Russlands (Sjuganow)12,624,3
Liberaldemokratische Partei (Schirinowski)11,45,9
Bewegung "Rodina" (Glasjew)9,0nicht angetreten
"Jabloko" (Jawlinski)4,45,9
Union Rechter Kräfte (SPS)4,08,5


* Aus: Freitag 42, 21. Oktober 2005


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