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Opfer eines politischen Schauprozesses in Russland oder Objekt einer politischen Kampagne gegen Russsland?

Yukos-Gründer Michail Chodorkowski zu neun Jahren Haft und Straflager verurteilt. Ein Kommentar

Am 31. Mai berichteten die Nachrichtenagenturen über das Urteil im Fall Chodorkowski:

Nach knapp einem Jahr ist das umstrittene Gerichtsverfahren gegen den früheren russischen Ölunternehmer und Yukos-Gründer Michail Chodorkowski mit einem Schuldspruch zu Ende gegangen: Wegen Betrugs, Steuerhinterziehung und weiterer Vergehen sollen Chodorkowski und sein ehemaliger Geschäftspartner Platon Lebedew für neun Jahre in Haft. Chodorkowskis Anwälte kündigten Berufung an; der 41-Jährige warf der russischen Regierung vor, das Urteil diktiert zu haben.
Das Moskauer Gericht folgte mit seinem Urteil nahezu vollständig dem Antrag der Staatsanwaltschaft und blieb beim Strafmaß nur ein Jahr unter den geforderten zehn Jahren Haft. Ihre Strafe sollen Chodorkowski und der 48-jährige Lebedew in einer Strafkolonie im normalen Strafvollzug verbüßen. Sie wurden außerdem dazu verurteilt, umgerechnet rund eine halbe Milliarde Euro an die Staatskasse zu zahlen.
Die russische Staatsanwaltschaft kündigte nach der Verurteilung weitere Klagen gegen Chodorkowski und Lebedew an. Die Ermittler würden im Zusammenhang mit Geldwäsche-Vorwürfen in Kürze "neue Anschuldigungen" präsentieren, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft. Eine Sprecherin wies gegenüber der Nachrichtenagentur ITAR-TASS Anschuldigungen zurück, für die Ermittlungen gegen die ehemaligen Yukos-Manager gebe es politische Beweggründe.
Chodorkowskis Anwälte kündigten Berufung an. "Wir stimmen der Entscheidung nicht im Geringsten zu", sagte sein Anwalt Genrich Padwa.
Chodorkowski zeigte sich nach dem Urteil kämpferisch. "Ich weiß, dass meine Verurteilung im Kreml beschlossen wurde", betonte er in einer Erklärung, die sein Anwalt Anton Drel vor dem Gerichtsgebäude verlas. "Einige im Umfeld des Präsidenten (Wladimir Putin)" hätten ihn ins Gefängnis stecken wollen, damit er keine Möglichkeit mehr habe, für die Freiheit zu kämpfen.
Prozessbeobachter sahen das Verfahren als Racheakt der russischen Regierung, weil Chodorkowski Oppositionsparteien sowie Bürger- und Menschenrechtsgruppen finanziell unterstützt und sich offen gegen die Politik von Präsident Putin gestellt hatte. "Dieses Urteil erschüttert massiv das Vertrauen in Russland", erklärte die Berichterstatterin des Europarates, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Mit dem Urteil hätten "die Feinde des Rechtsstaats und der unabhängigen Justiz gesiegt". (AFP, 31. Mai)

Und es gab in der Folge jede Menge geharnischte Proteste aus dem Ausland:
  • US-Präsident George W. Bush hat Kritik an dem Prozess gegen den früheren Chef des russischen Ölkonzern Michail Chodorkowski geäußert. "Wir hatten den Eindruck, dass er schon vor dem Prozess als schuldig angesehen wurde", sagte Bush im Rosengarten des Weißen Hauses. Er habe dem russischen Präsidenten Wladimir Putin seine Besorgnis darüber zum Ausdruck gebracht. (dpa, 31. Mai)
  • CSU-Generalsekretär Markus Söder forderte Bundeskanzler Gerhard Schröder auf, sich beim russischen Präsidenten Wladimir Putin für Chodorkowski einzusetzen. Der Kanzler müsse zeigen, ob ihm Menschenrechte wichtiger seien als eine "oberflächliche Männerfreundschaft".
  • Die Führungsspitze der Grünen sah sich in ihren von Anfang an gehegten Befürchtungen bestätigt. Es sei in dem "politischen Schauprozess" nicht um Steuerhinterziehung gegangen, sondern um die Ausschaltung eines politischen Gegners. Die russische Justiz habe mit den gleichen unsauberen Mitteln gearbeitet, die sie Chodorkowski vorgehalten habe.
  • Der Vorsitzende des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft, Klaus Mangold, nannte das Strafmaß "unerwartet hoch und sehr hart". Er sagte dem "Handelsblatt" (Ausgabe vom 1. Juni), zwar sei der Vorwurf der Steuerhinterziehung gerechtfertigt, das Strafmaß allerdings werde "sicher in der Welt beachtet" werden. (AP, 31. Mai)
  • Nach der Verurteilung des russischen Öl-Unternehmers Michail Chodorkowski zu neun Jahren Lagerhaft hat die Union eine Überprüfung der deutschen Russland-Politik gefordert. "Ein offenes Wort des Bundeskanzlers gegenüber Präsident Putin ist überfällig", sagte der außenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Friedbert Pflüger, der "Berliner Zeitung". "Schröder ist doch immer für offene Worte unter Freunden. Bisher hat der Kanzler aber zu allem geschwiegen." Schröder müsse Putin klarmachen, dass Deutschland zwar mit Russland zusammenarbeiten wolle, Russland aber kein Ausnahme-Partner sein dürfe, der eigene Regeln aufstellen könne. Das Verfahren gegen Chodorkowski habe "nichts mit der Diktatur des Rechtsstaats zu tun, die Putin versprochen hat, sondern ist Willkür", sagte Pflüger.
Im Folgenden veröffentlichen wir einen Artikel, der versucht, etwas mehr Licht in den Prozess und die Verurteilung Chodorkowskis zu bringen.

Anmerkungen zum Prozess gegen Chodorkowski

Von Kai Ehlers

Kein Zweifel, der Prozess und das zu erwartende Urteil im Verfahren gegen den russischen Ölmagnaten Michail Chodorkowski sind nicht nur „politisch motiviert“, wie Chodorkowskis Verteidiger bei den Grünen und im Europarat meinen, sie sind zentraler Ausdruck einer strategischen Auseinandersetzung zwischen der russischen Staatsmacht und dem privaten Kapital, das sich im Zuge der Privatisierung in Russland herausgebildet hat. Es geht um die Frage, wer die Verfügungsgewalt über die russischen Öl- und Gas-Ressourcen hat, die immerhin zu 40% das russische Staatsbudget füllen und 55 Prozent der Exportgewinne betragen. Mit dem Vorgehen gegen Chodorkowski werden die Auswüchse der russischen Privatisierung exemplarisch zurück geschnitten. Das ist erklärte Politik Wladimir Putins. Gut 70% der Bevölkerung sind nach aktuellen Umfragen damit einverstanden.

Kein Zweifel auch, dass die Art und Weise des Verfahrens – angefangen bei der martialischen Verhaftung Chodorkowskis durch vermummte Sonderkommandos bis hin zur gegenwärtigen Farce einer Urteilsverkündung auf Raten – nicht den wünschenswerten Standards der von den UN deklarierten Menschenrechte oder dem Wertekanon der Europäischen Union entsprechen. Folgerichtig hat Amnesty International Chodorkowski nach anfänglicher Weigerung inzwischen zum politischen Gefangenen erklärt.

Wenn der Grüne Europa-Abgeordnete Milan Horaĉec nach seinem Besuch bei dem Prozess allerdings erklärt „etwas derart Gespenstisches wie die Umstände der Moskau Verhandlung habe er noch nie erlebt“ (FAZ, 20.5.2005) und verkündet „Das ist nicht Europa“, dann muss man ihn wohl unter anderem an die Schauprozesse gegen die RAF erinnern, die in den 80er Jahren mitten in Europa stattfinden konnten.

Auch die überlange U-Haft, die amnesty mit Recht beklagt, sowie das selektive Vorgehen gegen Chodorkowski, sind keineswegs besondere russische Unzivilisiertheiten. In dem von der Sache her durchaus vergleichbaren Verfahren gegen den Deutschen Alexander Falk musste der Angeklagte ganze zwei Jahre in U-Haft verbringen, bis er kürzlich auf Kaution und mit strengen Auflagen bis zur Urteilsfindung auf freien Fuß gesetzt wurde. Falk hatte das Glück, in deutschen und nicht in russischen Gefängnissen sitzen zu können. Das ist ein erheblicher Unterschied; russische Gefängnisse sind mehr als reformbedürftig. In der Sache allerdings nimmt sich die deutsche Justiz dasselbe Recht auf Inhaftierung Beschuldigter wie die russische und nicht anders als die russische geht auch die deutsche dabei selektiv vor, wenn sie denn überhaupt etwas gegen Wirtschaftskriminelle unternimmt.

Mit dieser Feststellung könnte man den Fall Chodorkowski zu den Akten legen und dem Gefangenen persönlich wünschen, dass er nicht allzu lange zwischen den Mauern sitzen muss, so wie man jedem geständigen Angeklagten Milde zubilligt.

Bedauerlicher Weise jedoch, inzwischen möglicherweise sogar zu seinem eigenen Leidwesen, ist Chodorkowski Objekt einer politischen Kampagne, die Töne des kalten Krieges gegen Russland neu auflegt. Beobachter wie Joachim Klopfer von der Dresdener Studiengemeinschaft Sicherheitspolitik (DSS) charakterisieren sie zutreffend als „das jüngste anti-russische Feldgeschrei“: Es begann wieder einmal mit einem Artikel Zbigniew Brzezinskis: Unter der Überschrift „Der Moskauer Mussolini“. („The Wall Street Journal, 20.9.2004) verbreitete er im September 2004 nach der Wiederwahl Putins zum Präsidenten die Ansicht, Putin versuche, in Russland einen Faschismus nach dem Muster Mussolinis aufzubauen. „In Brzezinskis Verleumdungsskala“, so Klopfer, „erhält Russland das Prädikat eines `faschistischen Erdölstaates“`.

Brezinskis Stichwort des „faschistischen“ Russland wurde von der neo-konservativen Amerikas aufgegriffen. Bruce Jackson, Reisender in Sachen „Project on Transsitional Democracies“ griff zusätzlich noch zum Knüppel des Antisemismusvorwurfs: Wörtlich: „Seit Putin gewählt wurde, waren alle führenden Figuren, die wegen Wirtschaftsverbrechen exiliert oder arrestiert wurden, jüdisch. In Dollar gerechnet, sind wir Zeugen der größten illegalen Enteignung von jüdischem Kapital seit der Nazi Beschlagnahmung in den 30gern.... „ Und weiter zu Chodorkowski: „Die Inhaftierung eines Mannes hat uns das Signal gegeben, das unsere gut gemeinte Russland Politik gescheitert ist. Wir müssen nun erkennen, das eine massive Unterdrückung von Menschenrechten stattgefunden hat und die Errichtung einer Administration in Moskau vom Typ eines de-facto kalten Kriegs.“ (Washington Post, 28.10. 2003)

Es folgte der „Offene Brief“ an die Führungen von NATO und EU am 28.9.2004, der von 150 Personen aus Europa und den USA, u.a. der Führung der Grünen, unterzeichnet wurde. Unter Benutzung von Menschrechtsrhetorik griff er direkt in die russische Politik ein und forderte die Unterstützung der „demokratischen Kräfte“ in Russland. Unter den Unterzeichnern waren eine Reihe bekannter Neo-Konservativer Amerikaner. Am 5. Oktober legte die Grüne Böllstiftung mit einem weiteren „Aufruf für Rechtstaatlichkeit und Gerechtigkeit im Fall Chodorkowski“ und der Durchführung einer Solidaritätsveranstaltung für Chodorkowski in Berlin nach, ebenfalls mit unterzeichnet und getragen von einer Reihe von US Neo-Konservativen.

Zum besseren Verständnis ist schließlich nur noch daran zu erinnern, dass Chodorkowski, allen patriotischen Beteuerungen zum Trotz, drauf und dran war, den Öl-Giganten Yukos durch die Fusion mit Sibneft und anderen vor allem US-dominierten Konzernen zu einem Multinationalen Konzern zu erweitern, der sich dem Zugriff der russischen Staatlichkeit zu entziehen anschickte. Die politischen Verbindungen in die USA sind daher nicht zufällig. In der International Herald Tribune wurde derzeit berichtet, Chodorkowski versuche mit viel Geld, sich Zutritt zu den geschlossenen Zirkeln Washingtons zu verschaffen. Dafür soll er seit 2001 jedes Jahr 50 Millionen Dollar aufgewendet haben, davon eine Million für die Kongressbibliothek und 500.000 Dollar für die Carnegie-Stiftung – die ihrerseits NGOs in Russland davon finanzierte. Chodorkowski verteilte großzügige Spenden an neokonservative US-Institutionen und öffnete den Verwaltungsrat seiner eigenen Stiftung für einflussreiche US-Amerikaner wie den ehemaligen demokratischen Senator Bill Bradley und Hernry Kissinger oder den britischen Bankier Lord Rothschild. In den Auseinandersetzungen um den Irak-Krieg agierte er im Interesse der Yukos-Expansion gegen die Schröder-Chirac-Putin-Ablehnungs-Front für eine russisch-amerikanische Kriegs-Allianz. Im Fall Chodorkowski, lässt sich an diesen Hinweisen erkennen, geht es keineswegs um einen Rivalen für Putin. Als Oligarch mit US-Orientierung hätte er kaum die Chance gehabt, eine Mehrheit für sich zu gewinnen. Es geht darum, wer die eurasischen Öl-Vorkommen in Zukunft kontrolliert. Putin hat für Russland eine Runde gewonnen; entschieden ist die Frage jedoch noch nicht.

Homepage unseres Autors: www.kai-ehlers.de


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