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Chodorkowski bleibt im Exil

Pressekonferenz in Berlin: Ex-Oligarch will auf Machtkampf mit Putin verzichten *

Der russische Regierungsgegner Michail Chodorkowski will nach der Begnadigung durch Präsident Wladimir Putin auf eine politische Karriere verzichten. Dies kündigte der 50jährige bei seinem ersten öffentlichen Auftritt am Sonntag in Berlin an. Er wolle sich aber gesellschaftlich engagieren. Auf einen neuen Rechtsstreit um seinen früheren Konzern Jukos will es der Exmilliardär nicht mehr ankommen lassen.

Die nächsten Tage will Chodorkowski weiter in Berlin verbringen. Er wohnt derzeit im Hotel »Adlon« am Brandenburger Tor. Die Entscheidung über seinen künftigen Aufenthaltsort ließ er offen. »Wo wir leben werden, das werde ich mit meiner Frau besprechen.« Für Deutschland hat er eine Aufenthaltserlaubnis von einem Jahr.

Chodorkowski machte deutlich, daß er sich eine Rückkehr nach Rußland derzeit nicht vorstellen kann. Der ehemals reichste Mann des Landes begründete dies damit, daß er keine Garantien habe, auch wieder ausreisen zu dürfen. Ausdrücklich bedankte er sich bei Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) für die deutsche Unterstützung bei seiner Freilassung aus russischer Lagerhaft. Daß sein Flug nach Berlin ging, habe er am Freitag erst in der Luft erfahren. An seiner Freilassung wirkte auch der ehemalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) mit.

Zahlreiche Fernsehsender aus dem In- und Ausland übertrugen die Pressekonferenz live. Als Chef des größten russischen Ölkonzerns Jukos war der Unternehmer mit zweifelhaften Geschäften zum Milliardär geworden. Nach öffentlicher Kritik an Putin fiel er in Ungnade und kam 2003 in Haft. In einem Strafverfahren wurde festgestellt, daß er durch Unterschlagung und Steuerhinterziehung gegenüber dem russischen Staat einen Gesamtschaden in Höhe von über einer Milliarde Dollar verursacht habe. Zu seinen Vermögensverhältnissen äußerte sich Chodorkowski nicht näher. Anders als zu Jukos-Zeiten sei er nicht mehr in der Lage, als Geldgeber für die Opposition aufzutreten, sagte er.

* Aus: junge Welt, Montag, 23. Dezember 2013


Kein »geistiger Führer« für Russland

Der freigelassene Chodorkowski enttäuscht Hoffnungen der Opposition / Deutschland nur Zwischenstation?

Von Irina Wolkowa, Moskau **


Während russische Oppositionelle auf Chodorkowski hofften, will der von Putin Freigelassene künftig politische Abstinenz üben.

Er, so der am Freitag von Russlands Präsident Wladimir Putin begnadigte kremlkritische Oligarch Michail Chodorkowski, werde weder um Rückgabe der Aktiva eines 2006 zerschlagenen und danach quasi verstaatlichten Ölkonzerns Jukos kämpfen noch sich politisch betätigen. Das habe er dem Kremlchef schon in einem persönlichen Schreiben mitgeteilt, das er diesem zusammen mit seinem Gnadengesuch Anfang November zukommen ließ, sagte Chodorkowski der Zeitschrift »The New Times«. Sie ist das Sprachrohr der liberalen Opposition in Russland, ihr gab Chodorkowski das erste große Interview als freier Mann.

Sein Gnadengesuch an Putin ist demzufolge sehr kurz ausgefallen und besteht aus einer einzigen Zeile: In dem persönlichen Schreiben an den Kremlchef, das er dem Gesuch beifügte, sei es vor allem um seine Mutter gegangen. Marina Filippowna Chodorkowskaja ist 80 Jahre alt und hat ein Krebsleiden. Sie, Chodorkowskis Vater Boris und Sohn Pawel trafen Samstag in Berlin ein, wo Chodorkowski im Nobel-Hotel »Adlon« Quartier bezogen hat.

Russische Medien schreiben, Deutschland sei für Chodorkowski nur Zwischenstation. Er wolle sich in der Schweiz oder in den USA niederlassen und sich von dort aus für politische Häftlinge in Russland einsetzen. Vor allem für seinen ehemaligen Juniorpartner und Mitangeklagten Platon Lebedjew. Dieser war im Sommer 2003 verhaftet worden – drei Monate, bevor die Handschellen für Chodorkowski zuschnappten – und später wegen Wirtschaftsvergehen zu ähnlich hohen Haftstrafen verurteilt worden wie Chodorkowski.

Regimekritiker im In- und Ausland vermuten politische Hintergründe: Chodorkowski hatte die Opposition unterstützt und war Geschäftsinteressen von Putins Umgebung in die Quere gekommen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verweigerte ihm jedoch die Anerkennung als Häftling aus Gewissensgründen und rügte lediglich die unfairen Prozesse. Anders als Chodorkowski richtete Lebedjew kein Gnadengesuch an Putin und hat das auch nicht vor, wie es auf seiner Website heißt. Er käme ohnehin 2014 frei.

Chodorkowskis politische Abstinenzerklärung ist eine herbe Niederlage für die außerparlamentarische Opposition in Russland. Seit Jahren von inneren Grabenkämpfen zermürbt und ohne charismatische Führer, hofften vor allem die Liberalen, Chodorkowski werde sich an die Spitze stellen, die heterogenen Gruppen einen und die Macht zu politischen und wirtschaftlichen Reformen zwingen.

Einige besonders weltferne Demokraten jubelten ihn bereits zum »geistigen Führer« der Nation hoch. Auch der deutsche Russland-Experte Alexander Rahr zog Parallelen zu Literatur-Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn, der aus westlicher Sicht den Niedergang von Sowjetmacht und Kommunismus erheblich beschleunigt hat.

Von Rahr erfuhr die russische Öffentlichkeit auch, was bei der Freilassung Chodorkowskis hinter den Kulissen lief. Chodorkowski sei Freitag um zwei Uhr nachts vom »Direktor des Konzentrationslagers« – gemeint war die Strafkolonie in Karelien, wo Chodorkowski seine Strafe verbüßte – geweckt und gefragt worden, ob er bereit sei, ins Ausland zu gehen. Das sagte Rahr in einem Exklusiv-Interview für den TV-Kanal RT´VI – Nischensender der Demokraten, der seine Programme aus Israel abstrahlt und vor allem per Internet und im Kabel verbreitet – Stunden bevor bekannt wurde, dass Putin den Gnadenerlass unterzeichnet hat. Chodorkowski habe zugestimmt, sei per Helikopter nach St. Petersburg geflogen worden und habe dort die Cessna bestiegen, die ihn nach Deutschland brachte.

Die Freilassung sei ein Ergebnis »deutscher Geheimdiplomatie«, so Rahr. Gott sei Dank habe Berlin noch »halb verschüttete« Zugangskanäle zu Spitzenpolitikern in Moskau, über die andere westliche Staaten schon längst nicht mehr verfügen würden.

** Aus: neues deutschland, Montag, 23. Dezember 2013


Nicht Sacharow noch Solschenizyn

Klaus Joachim Herrmann gegen eine Überschätzung Chodorkowskis ***

In den ersten 36 Stunden nach der Freilassung blieben Michail Chodorkowski und sein Unterhändler Hans-Dietrich Genscher diplomatisch zurückhaltend. Doch sprießen nach seiner Begnadigung und Ausreise einige Legenden. Dafür sorgen näher oder ferner Beteiligte, auch zeitweilige Nutznießer plötzlicher Aufmerksamkeit. Was als ganz große Politik beginnt, landet letztlich doch beim Boulevard.

Ob der Öl-Magnat und Kreml-Kritiker politisch oder wegen schwerer Wirtschaftskriminalität verurteilt worden sei, darüber konnten sich selbst Amnesty International und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht einigen. Doch keinesfalls kam er als Andrej Sacharow aus der Verbannung oder als Alexander Solschenizyn, Lew Kopolew oder Sergej Kowaljow aus dem Archipel Gulag. Sie widmeten sich anderen Menschen und ihren Rechten – ungeachtet der Gegner und Folgen.

Wird der Begnadigte bei ihnen eingereiht, ist das eine klare Überschätzung. Ein Funktionär des kommunistischen Jugendverbandes entstieg den Wirren des Unterganges der Sowjetunion als knallharter und übermenschlich reicher Kapitalist. Zwar Oligarch, unterlag er doch Mächtigeren. Das aber macht aus ihm keinen Menschenrechtler oder eine moralische Institution.

*** Aus: neues deutschland, Montag, 23. Dezember 2013 (Kommentar)


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