Chodorkowski-Mythos entschleiert
Viktor Timtschenko beleuchtet Aufstieg und Fall des vermeintlichen Putin-Opfers
Von Detlef D. Pries *
Nein, ein »gewöhnlicher« Verbrecher
ist er nicht! Michail Chodorkowski,
Russlands meistbeschriebener Strafgefangener,
ist ein durchaus ungewöhnlicher
Krimineller. Aber darf
man das überhaupt sagen?
Für Ljudmila Alexejewa, die
»Grand Dame« der russischen
Menschenrechtsbewegung, ist Michail
Chodorkowski zweifelsfrei
ein politischer Gefangener. Viktor
Timtschenko, Ukrainer aus Markleeberg,
hatte die Chefin der Moskauer
Helsinki-Gruppe um eine mit
Fakten belegte Begründung gebeten.
Doch Alexejewa beschied ihn:
»Ich kann Ihnen keine Details zum
Verfahren liefern, die kenne ich
nicht.«
Die ehrwürdige Dame ist nicht
die einzige, die Russlands berühmtesten
Strafgefangenen als
Opfer staatlicher Willkür darstellt.
Chodorkowski wurde schon mit
Andrej Sacharow verglichen, mit
Nelson Mandela und Mahatma
Gandhi. Fehlte nur noch ein Tipp
an das Nobelpreiskomitee in Oslo.
Nur haben sich offenbar die
wenigsten derer, die den einst
reichsten Mann Russlands zum
»Gewissensgefangenen« Wladimir
Putins erklären, mit besagten
»Details« beschäftigt. Weil das zu
mühsam wäre? Oder weil Chodorkowski
als politischer Häftling
besser in ihr Russlandbild passt?
Viktor Timtschenko jedenfalls
hat sich in die Einzelheiten vertieft,
er hat Fakten gesammelt und
hinter die Legenden geleuchtet, die
um den früheren Chef des Ölkonzerns
Jukos gewoben werden.
»Endlich! Endlich hat es jemand
gewagt und auch die Mühen nicht
gescheut«, schreibt Gabriele Krone-
Schmalz, ehemalige Korrespondentin
im ARD-Studio Moskau
im Vorwort zu Timtschenkos Buch
– und fällt damit zugleich ein wenig
schmeichelhaftes Urteil über
manche ihrer Nachfolger(innen).
Da gibt es die Legende vom
Wohltäter Chodorkowski: Als der
ehemalige stellvertretende Energieminister
(!) die Ölförderfirma
Jukos übernahm, setzte er zwei
Drittel der Mitarbeiter vor die Tür
und stieß die sozialen Einrichtungen
des Unternehmens ab. Man
kann das unter »gewöhnlicher
Kapitalismus« verbuchen, erklärt
damit aber auch, warum 2003, als
Chodorkowski verhaftet wurde, in
der Jukos-Hauptstadt Neftejugansk
niemand auf die Straße ging,
um den »wohltätigen« Konzernchef
gegen die Willkür des Staates
zu verteidigen.
Oder die Legende von der einzigartigen
Transparenz in Chodorkowskis
Unternehmen: Timtschenko
zählt auf einer ganzen
Seite seines Buches 150 teils sehr
exotisch klingende Namen von
Firmen auf, die zu diesem Imperium
gehörten. Und die Aufzählung
ist nicht etwa vollständig. Da gab
es Scheinfirmen mit Scheindirektoren,
die Scheinauktionen veranstalteten,
wie sie Timtschenko anschaulich
beschreibt.
Als die »bedeutsamste Idee auf
dem Weg Chodorkowskis nach
oben« bezeichnet der Autor die
Erfindung der »Bohrlochflüssigkeit
«. Jukos förderte nämlich gar
kein Öl, sondern eben diese minderwertige
Flüssigkeit, die sich allerdings
– sobald sie zu lächerlichem
Prozentsatz versteuert war –
in Öl verwandelte, das über Firmen
und Zwischenfirmen schließlich
zu Weltmarktpreisen verkauft
wurde. Öl lässt sich also durchaus
nicht nur in Kanistern stehlen.
Diebstahl, Steuerhinterziehung,
Betrug nicht nur am russischen
Staat, sondern auch an ausländischen
Investoren, selbst
Morde, die nachweislich im Auftrag
von Jukos-Mitarbeitern begangen
wurden – dies alles pflasterte
den Weg des »Gutmenschen«
Chodorkowski noch oben, »oder
nach unten. Wie man's nimmt«,
ironisiert Timtschenko.
Sind dafür 13 Jahre Haft ein
»drakonisches Strafmaß«, wie allerorts
verbreitet wird? Der USamerikanische
Milliardenbetrüger
Bernard Madoff wurde zu 150
Jahren Freiheitsentzug verurteilt.
Timtschenko will 100 US-Dollar
für denjenigen aussetzen, »der einen
Artikel findet, in dem diese
Strafe ›drakonisch‹ und ›den Menschenrechtsstandards
der UNO
nicht entsprechend‹ genannt
wird«.
Und dennoch schlägt er vor,
Chodorkowski freizulassen und
ihn zum Betriebsdirektor zu ernennen,
am besten in einem Lebensmittelbetrieb.
Denn zweifelsohne
wäre in Russland viel zu tun
für einen Mann mit seinen Talenten
und Erfahrungen, der – wie
Timtschenko glaubt – im Lager eine
neue Perspektive auf das Leben
gewonnen hat. Allerdings scheint
es dem Autor, als gäbe es mancherorts
– und nicht nur im Kreml
– großes Interesse daran, dass
Chodorkowski seine Strafe bis zum
Schluss absitzt. Auch an der Verteidigung
des Gefangenen und an
der Mythenbildung lässt sich
nämlich gut verdienen.
Politiker und Journalisten, die
sich künftig zum Fall des einstigen
Ölmagnaten äußern, sollten dieses
mit Witz geschriebene Buch gelesen
haben. Andernfalls liefen sie
Gefahr, ihre Glaubwürdigkeit in
den Augen der »Normalleser« vollends
zu verspielen.
Übrigens schreibt Timtschenko
durchgehend »Chodorkowskij«,
mit »j« am Ende, weil er das für die
genauere Schreibweise hält. Kenner
des Russischen wissen, worum
es geht, müssen dem aber nicht
unbedingt folgen. Timtschenko ist
eben ins Detail verliebt.
Viktor Timtschenko: Chodorkowskij.
Legenden, Mythen und andere
Wahrheiten. Herbig-Verlag
München, 335 S., 19,99 Euro.
* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 18. April 2012
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