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Dummheit, Aggression oder beides?

Ein Offener Brief an den russischen Präsidenten Putin und eine Antwort

Ein offener Brief von mehr als 100 Politikern aus den USA und Europa mit scharfer Kritik am russischen Präsidenten Wladimir Putin und an der westlichen Russland-Politik hat Ende September 2004 einen Streit in der rot-grünen Koalition ausgelöst. Prominentester deutscher Unterzeichner ist Grünen-Chef Reinhard Bütikofer. Außerdem gehört Friedbert Pflüger, außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, zu den Unterzeichnern. Er warf Schröder vor, bei Treffen mit Putin kein Wort über die "Besorgnis erregende Entwicklung" in Russland zu verlieren. Russland dürfe "kein Ausnahmepartner für den Westen sein".

SPD-Fraktionsvize Gernot Erler kritisierte den Grünen-Vorsitzenden Reinhard Bütikofer wegen dessen Unterschrift unter den Brief. Er habe dafür "überhaupt kein Verständnis", sagte Erler gegenüber Medienvertretern. "Damit wird auch ein Konflikt in die Regierungskoalition hineingetragen."

In dem von US-Politikern initiierten Brief an Regierungen der EU- und NATO-Staaten kritisieren die Unterzeichner autoritäre Tendenzen in Putins Politik. Eine "Diktatur" könne nicht die Antwort auf die Probleme sein. "Er hat systematisch die Freiheit und Unabhängigkeit der Presse beschnitten, die wechselseitigen Kontrollmechanismen im föderalen System Russlands zerstört, willkürlich reale und eingebildete politische Rivalen ins Gefängnis gesteckt, legitime Kandidaten von Wahlzetteln gestrichen, Führer von Nichtregierungsorganisationen eingeschüchtert und verhaften lassen und Russlands politische Parteien geschwächt", heißt es in dem Brief.

Westlichen Staatsführern werfen die Unterzeichner vor, Putin zu "umarmen", obwohl immer deutlicher werde, dass sich das Land in die falsche Richtung bewege. "Die Politiker des Westens müssen erkennen, dass unsere derzeitige Strategie gegenüber Russland scheitert", heißt es in dem Brief. "Die gegenwärtige russische Führung bricht mit den demokratischen Kernwerten der euro-atlantischen Gemeinschaft", zitierte die "Financial Times Deutschland" (Mittwochausgabe) aus dem offenen Brief, der gestern veröffentlicht worden ist.

Die Autoren geißeln auch das aus ihrer Sicht aggressive Auftreten Russlands nach außen. "Die Außenpolitik von Präsident Putin ist zunehmend gekennzeichnet von einem drohenden Ton gegenüber Russlands Nachbarn und Europas Energiesicherheit, von einer Rückkehr einer Rhetorik von Militarismus und Imperium und von einer Weigerung, sich Russlands internationalen Vertragsverpflichtungen zu unterwerfen."

Der offene Brief wurde unter anderem von den Außenpolitikern im US-Senat, dem Demokraten Joseph Biden und dem Republikaner John McCain, unterzeichnet. Unterschrieben haben auch der frühere US-Botschafter Richard Holbrooke, der als aussichtsreichster Kandidat für den Posten des Außenministers unter einem demokratischen US-Präsidenten John Kerry gilt. Zudem unterschrieben eine große Zahl früherer Staats- und Regierungschefs aus Europa wie der Tscheche Václav Havel, der Schwede Carl Bildt und der Italiener Giuliano Amato.

Quelle: Der Stern-online, 30.September 2004


Wir dokumentieren im Folgenden
  1. den Offenen Brief in Englisch (Open Letter to the Heads of State and Government of the European Union and NATO)
  2. sowie eine Antwort von Kai Ehlers (veröffentlicht in der Wochenzeitung "Freitag)

Offener Brief an die Regierungen der NATO- und EU-Staaten

Gemeinsam mit einer Reihe von Personlichkeiten aus Wissen-schaft und Politik hat ZEI-Direktor Prof.Dr.Ludger Kuhnhardt einen Offenen Brief an die Staats- und Regierungschefs der EU und der NATO verfasst. Der auf Initiative des "German Marshall Fund of the USA" zustandegekommene Brief warnt vor einem weiteren Abbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Russland.

An Open Letter to the Heads of State and Government of the European Union and NATO

September 28, 2004

As citizens of the Euro-Atlantic community of democracies, we wish to express our sympathy and solidarity with the people of the Russian Federation in their struggle against terrorism. The mass murderers who seized School No. 1 in Beslan committed a heinous act of terrorism for which there can be no rationale or excuse. While other mass murderers have killed children and unarmed civilians, the calculated targeting of so many innocent children at school is an unprecedented act of barbarism that violates the values and norms of our community and which all civilized nations must condemn.

At the same time, we are deeply concerned that these tragic events are being used to further undermine democracy in Russia. Russia’s democratic institutions have always been weak and fragile. Since becoming President in January 2000, Vladimir Putin has made them even weaker. He has systematically undercut the freedom and independence of the press, destroyed the checks and balances in the Russian federal system, arbitrarily imprisoned both real and imagined political rivals, removed legitimate candidates from electoral ballots, harassed and arrested NGO leaders, and weakened Russia’s political parties. In the wake of the horrific crime in Beslan, President Putin has announced plans to further centralize power and to push through measures that will take Russia a step closer to authoritarian regime.

We are also worried about the deteriorating conduct of Russia in its foreign relations. President Putin’s foreign policy is increasingly marked by a threatening attitude towards Russia’s neighbors and Europe’s energy security, the return of rhetoric of militarism and empire, and by a refusal to comply with Russia’s international treaty obligations. In all aspects of Russian political life, the instruments of state power appear to be being rebuilt and the dominance of the security services to grow. We believe that this conduct cannot be accepted as the foundation of a true partnership between Russia and the democracies of NATO and the European Union.

These moves are only the latest evidence that the present Russian leadership is breaking away from the core democratic values of the Euro-Atlantic community. All too often in the past, the West has remained silent and restrained its criticism in the belief that President Putin’s steps in the wrong direction were temporary and the hope that Russia would soon return to a democratic and pro-Western path. Western leaders continue to embrace President Putin in the face of growing evidence that the country is moving in the wrong direction and that his strategy for fighting terrorism is producing less and less freedom. We firmly believe dictatorship will not and cannot be the answer to Russia’s problems and the very real threats it faces.

The leaders of the West must recognize that our current strategy towards Russia is failing. Our policies have failed to contribute to the democratic Russia we wished for and the people of this great country deserve after all the suffering they have endured. It is time for us to rethink how and to what extent we engage with Putin’s Russia and to put ourselves unambiguously on the side of democratic forces in Russia. At this critical time in history when the West is pushing for democratic change around the world, including in the broader Middle East, it is imperative that we do not look the other way in assessing Moscow’s behaviour or create a double standard for democracy in the countries which lie to Europe’s East. We must speak the truth about what is happening in Russia. We owe it to the victims of Beslan and the tens of thousands of Russian democrats who are still fighting to preserve democracy and human freedom in their country.

Feindbild Russland

Von Kai Ehlers

OFFENER BRIEF GEGEN PUTIN: Dummheit, Aggression oder beides?

Es wird gezündelt: "Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens" haben einen Offenen Brief an die Europäische Union und die NATO verfasst, um dem russischen Präsidenten vorzuhalten, er habe den "demokratischen Weg verlassen" und wolle sein Land einer Diktatur unterwerfen. Die Initiatoren dieses Schuldspruchs sitzen in den Vereinigten Staaten, doch unterschrieben haben auch etliche Europäer wie der Grünen-Vorsitzende Bütikofer, der CDU-Politiker Friedbert Pflüger oder der notorische Russlandhasser André Glucksmann.

Die Führer des Westens, heißt es, müssten erkennen, dass ihre Strategie gegenüber Russland gescheitert sei, und sollten daher umdenken. Wörtlich: "In diesen kritischen Zeiten der Geschichte, da der Westen sich rund um die Welt für demokratische Veränderungen einsetzt, einschließlich des im weiteren Sinne Mittleren Ostens, ist es ein Imperativ, dass wir Russlands Verhalten nicht mit anderen Maßstäben messen ..." - Was auch immer die Motive der Verfasser im einzelnen sein mögen, ihr Verdikt zeugt von wenig Bereitschaft, sich auf die tatsächliche Lage Russlands einzulassen.

Putins politischer Kurs lässt sich mit dem Begriff "autoritäre Modernisierung" beschreiben und hat in der Tat mit Demokratie im westlichen Sinne wenig zu tun. Schon vor dem Massenmord von Beslan trieb den Kreml die Frage um, wie das politische System weiter "stabilisiert" werden könnte. Im Gespräch war eine Reform des Parteien- und Wahlsystems nach dem Raster der Zwei-Parteien-Demokratie westlicher Länder, ebenso der Selbstverwaltung und des föderalen Systems - eine Revision im Interesse des Zentralstaates. Der Terroranschlag von Beslan hat diesen Prozess erheblich beschleunigt, nur bezeugt er eben weniger die Stärke als vielmehr die Schwäche zentralisierter Macht. So triumphal die Wiederwahl Putins im März auch gewesen sein mag, sie hat doch nicht überspielen können, dass im heutigen Russland eine tief gespaltene Gesellschaft existiert. Es gibt keine effiziente Rückkoppelung mehr zwischen der herrschenden "Elite" und den äußerst heterogenen Interessen der besitzenden und weniger besitzenden Bevölkerung - die Kommunikation scheint gestört.

Aber deshalb von einer Zerstörung der Demokratie zu reden, erscheint absurd. Was nach dem Ende der Sowjetunion unter Boris Jelzin entstand, war keine Demokratie, sondern ein autoritärer Liberalismus, der einer in Clans zerfallenden Führungsschicht zugute kam und auf ein formaldemokratisches Aushängeschild Wert legte. Unter Putin wurde aus dem autoritären Liberalismus ein liberaler Autoritarismus, der gleichfalls auf die formaldemokratische Fassade nicht verzichtet und parlamentarische Gremien wie die Duma gern durch regierungsloyale Konsenszirkel ersetzt. Ein in dieser Hinsicht typisches Beispiel ist die vom Kreml jüngst vorgeschlagene zentrale Menschenrechtskommission, die künftig zur Kontrolle der Geheimdienste herangezogen werden soll. Das mag weniger auf ein demokratisches Verfahren nach westlichen Normen, sondern mehr auf eine patriarchal gefärbte Teilhabe auf der Basis traditioneller Kollektivstrukturen hinauslaufen - es ist aber keine Diktatur.

Natürlich stellt sich die Frage, ob dieser korporative Weg geeignet sein kann, die Kräfte zu mobilisieren, die Putin für eine Modernisierung Russlands unweigerlich braucht. Nur ist auch dies für die innere Verfasstheit des Landes im Moment sehr viel weniger entscheidend als der Krieg in Tschetschenien, der längst kein interner Konflikt mehr ist, sondern Ausdruck einer Konfrontation um die Vorherrschaft auf dem Eurasischen Kontinent. Russland verteidigt sich und seine historischen Ansprüche gegen Westeuropa, die Türkei, Iran, Indien und China - vor allem jedoch gegen die Vereinigten Staaten. Deren strategische Köpfe setzen im Amerikanischen Komitee für Frieden in Tschetschenien auf eine Sezession der Kaukasus-Republik, um endlich jenen Präzedenzfall zu haben, der an der Trennlinie zwischen Europa und Asien die strategische Balance unwiderruflich verändert.

Darauf bezog sich Putin nach dem Inferno von Beslan, als er in seiner Fernsehansprache erklärte, die kaukasischen Terroristen würden von ausländischen Mächten benutzt, um sich die "besten Filetstücke" aus der Russischen Föderation heraus zu schneiden. Weil Russland als Nuklearmacht weltpolitisch auch weiterhin in Betracht komme, solle es anderweitig geschwächt werden. Der Terrorismus sei ein Mittel, dies zu erreichen. Die dadurch ausgelösten Befürchtungen erklären zu einem nicht geringen Teil die Pendelbewegungen der russischen Außenpolitik zwischen einer kraftmeierischen Imitation des amerikanischen Anti-Terror-Krieges und den verdeckten Warnungen an die NATO, Russlands Gegner zu unterstützten. Das Interesse der USA, Moskau im Kaukasus zurück zu drängen, hat nicht das Geringste mit Putins Innenpolitik zu tun: es ist rein strategischer Natur.

Wer all das bei seinen Angriffen auf den russischen Staatschef ausblendet, ist entweder ignorant oder verfügt über höchst begrenzte analytische Fähigkeiten. Das Resultat ist eine Sprache der Aggression und der mentalen Aufrüstung, die alte Feindbilder heraufbeschwört. Das sollten sich besonders jene Europäer klar machen, die meinten, diesen Offenen Brief unterschreiben zu müssen und sich dabei möglicherweise von jener Passage beeindrucken ließen, die suggeriert, Moskau werde seine Garantien für die Energiesicherheit Europas und die entsprechenden Handelsverpflichtungen in Frage stellen. Eine Unterstellung, die angesichts des seit Jahrzehnten funktionierenden Ressourcentransfers von Ost nach West demagogischer kaum sein kann. Es erstaunt doch sehr, dass Menschen mit politischem Verstand auf dieses provokative Zündeln hereinfallen.

Aus: Freitag 42, 8. Oktober 2004


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