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"Rußland hat reagiert"

Gespräch mit Vladimir V. Kotenev, Botschafter der Russischen Föderation in der Bundesrepublik Deutschland

Teil 1: Die jüngste Krise im Kaukasus und die Berichterstattung der westlichen Medien



Herr Botschafter, wie ist es Ihrer Einschätzung nach um das Verhältnis zwischen Rußland und der BRD bestellt? Besteht die »strategische Partnerschaft« zwischen beiden Staaten weiter, von der Sie im Mai 2005 in Berlin anläßlich des 60. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus sprachen?

Ja, die strategische Partnerschaft besteht weiter, und sie wird ausgebaut. Das haben auch die mittlerweile 10. zwischenstaatlichen Konsultationen in St. Petersburg am 2. Oktober vor Augen geführt. Manche Partner Deutschlands in der EU und in der NATO, die nach der Kaukasus-Krise zu behaupten pflegen, es könne kein »Business as usual« mit Rußland geben, waren nicht gerade glücklich darüber, daß die Konsultationen planmäßig stattfanden.

Bei den Gesprächen wurde kein Thema ausgespart, das beide Nationen bewegt. Ob internationale Politik, Finanzkrise, Jugend- und Kulturaustausch – überall wurde ein breites Feld für Kooperation festgestellt. Eine Reihe wichtiger Verträge wurde unterzeichnet, darunter ein Abkommen zwischen den Konzernen Gasprom und E.ON, das letzterem den Zugang zur Gasförderung auf dem Erdgasfeld Jushno-Rußkoje sichert. Zeitgleich fand dort auch die Tagung des Forums Petersburger Dialog statt, wo die Vertreter der Zivilgesellschaft aus Rußland und Deutschland miteinander Klartext reden konnten. Es ist vielleicht eine der wichtigsten Eigenschaften der russisch-deutschen Beziehungen, daß wir – auch wenn wir nicht immer gleicher Meinung sind – miteinander statt aneinander vorbei sprechen.

»Strategisch« bedeutet, daß eine Partnerschaft über die politische Konjunktur erhaben ist und auch Krisen standhält. Für uns als die beiden bevölkerungsreichsten Nationen in Europa mit einer besonderen Verantwortung für die Zukunft dieses Kontinents ist eine solche Partnerschaft unabdingbar. Alles andere wäre fahrlässig.

Die BRD-Regierung will einerseits Geschäfte der deutschen Wirtschaft mit Rußland anbahnen, andererseits schwingt sie sich zur Richterin über Moskaus Politik auf. Empfinden Sie das als doppelzüngig?

So weit würde ich in der Beurteilung nicht gehen. Im Gegenteil – die Bundesrepublik gehört neben Frankreich zu den Staaten im Westen, die die ausgewogenste Position gegenüber Rußland vertreten. Allerdings gibt es in einigen Fragen unterschiedliche Meinungen.

Man muß auch bedenken, daß die Bundesrepublik als NATO- und EU-Mitglied nicht immer eine nationale politische Linie verfolgen kann. Obwohl Berlins Auftreten auf der Weltbühne im neuen Jahrhundert deutlich selbstbewußter geworden ist und Deutschland zweifelsohne in den genannten Organisationen ein gewichtiges Wort mitzureden hat.

Es gibt zudem verschiedene Kräfte in Deutschland. Für die einen – ich glaube, diese Einschätzung überwiegt in der Bundesregierung und in der Wirtschaftselite – ist die russisch-deutsche strategische Partnerschaft eine Selbstverständlichkeit. Wir hören aber auch Töne, die das in Frage stellen. Die Werte seien ganz verschieden, heißt es da, die Russen teilten die deutschen oder westeuropäischen Werte nicht und gehörten deswegen nicht zu den strategischen Partnern Deutschlands. Das wird auch in der Diskussion hierzulande deutlich.

Ein bestimmter Flügel hat erkannt, daß sich die Rolle der NATO und die der transatlantischen Beziehungen im Zeitalter der Globalisierung ändert. Insbesondere nach den Ereignissen in Südossetien hat sich das Scheitern des NATO-zentrischen Modells gezeigt. Diese Kräfte in Deutschland suchen nach anderen Modellen, nach Auswegen aus dieser Situation. Andere wiederum haben Angst, daß ihre alten Methoden, die sich bewährt haben, nun über den Haufen geworfen werden müssen. Die haben Angst vor dem Neuen. Sie verharren auf ihren Positionen und arbeiten dabei eng mit den Medien zusammen. Kurzum: Dieser Flügel hätte Rußland lieber draußen und denkt, man könne die Herausforderungen, mit denen die EU konfrontiert ist, nicht mit Rußland, sondern ohne oder gar gegen Rußland bewältigen. Gerade diese Kräfte schwingen dann bei jedem Anlaß die Moralkeule.

Wie beurteilen Sie die Berichterstattung über den jüngsten Kaukasus-Konflikt in den hiesigen Medien?

In Ihrem Medium als sehr gründlich. Ansonsten kann man kein eindeutiges Urteil über die hiesige Berichterstattung zu diesem Konflikt fällen. Es ist schon gut, daß man Saakaschwili hierzulande erst gar nicht als »Fackelträger der Demokratie« präsentiert hat. Mir wurde auch Gelegenheit gegeben, in zahlreichen Interviews unseren Standpunkt vorzutragen. Mit der Zeit ist auch die eigene Berichterstattung der Medien differenzierter geworden. Manche Journalisten sind nach Südossetien gereist und haben die Aussagen der dortigen Bewohner veröffentlicht, die Zeugen von Greueltaten der georgischen Armee geworden sind.

Am Anfang bot sich jedoch ein anderes Bild. Am 8. August, als auf Saakaschwilis Befehl Südossetien mit schweren Waffen angegriffen wurde und die georgische Soldateska auf den Straßen von Tschinwali wütete, herrschte in den meisten Medien Funkstille. Dabei konnte man genau wissen, was passiert war: Rußland hat ja auch deutsche Satelliten ins All geschossen, darunter auch Spionagesatelliten. Die beobachten die Lage an praktisch jedem Ort der Erde. Außerdem umkreisen haufenweise US-Satelliten den Erdball.

Man wußte also sehr genau, wer den Krieg begonnen hat, und von wem die massiven Angriffe gegen die schlafende Stadt ausgingen. Erst am nächsten Tag, als Rußland gezwungen wurde einzugreifen, wurde das Geschehen in den westlichen Medien ruckartig zum Titelthema, und zwar als Krieg des »imperialen Rußlands« gegen das »kleine Georgien«. Daß dieses »kleine Georgien« zuvor 12 000 Soldaten gegen 500 russische Friedensstifter losschlagen ließ, wurde erst viel später erwähnt.

Die georgischen Soldaten waren übrigens von amerikanischen Instrukteuren ausgebildet und mit offensiven Waffen ausgestattet worden, auch solchen aus der Ukraine. Wir sind noch dabei, die näheren Umstände zu klären.

Es gab Bilder im Fernsehen von zerstörten Häusern, es wurden Flüchtlingsströme gezeigt, gefolgt von russischen Panzern. Oft wurde dabei erst gar nicht erwähnt, daß es sich um ossetische Flüchtlinge handelte, die nicht vor Russen, sondern vor Georgiern flohen. Es gab aber auch objektive Stimmen, wie die der ARD-Korrespondentin Christina Nagel, die zu Beginn des Konflikts sehr ausgewogene Kommentare lieferte. Nach einigen Tagen wurde aber merkwürdigerweise nichts mehr von ihr ausgestrahlt.

In jenen Tagen ist aber auch deutlich geworden, daß die öffentliche und die veröffentlichte Meinung nicht unbedingt deckungsgleich sind. Ich habe sehr viele Zuschriften von einfachen deutschen Bürgern bekommen, in denen die Absender ganz frei und offen, mit vollem Namen und Anschrift, ihre Meinung gesagt haben: Wir schämen uns für unsere Medien! Die waren mit dieser einseitigen Berichterstattung nicht einverstanden und sehr empört. Und ich bin sicher, daß die große Mehrheit der Deutschen sich darüber im klaren ist, wer der Aggressor war – egal, wie sich Medien und Politiker bemühen, Saakaschwili schönzureden.

Zur Zeit überwiegt in den Medien ein anderes Bild. Jetzt sagt man: »Ja, die Georgier waren auch nicht unschuldig, beide Seiten haben schlimme Dinge getan«. Mit solch einer Gleichsetzung können wir uns aber keineswegs zufriedengeben. Es muß klar gesagt werden, wer der Aggressor war und wer zum Reagieren gezwungen wurde.

Hat die russische Seite die Medienvertreter denn hinreichend über ihre militärischen Operationen informiert?

Was die Informationspolitik angeht, so müssen wir uns – vermutlich zum ersten Mal – keine Vorwürfe machen, denn der stellvertretende Generalstabschef Anatoli Nogowizyn hat den internationalen Journalisten täglich auf einer Pressekonferenz das Vorgehen der russischen Armee im Detail erläutert sowie über Ziele, Operationen etc. aufgeklärt. Er hat alle Fragen beantwortet; falls ihm das nicht möglich war, hat er versprochen, die gewünschten Informationen am folgenden Tag nachzuliefern. Was er dann auch stets getan hat. Ich habe seine Konferenzen und Briefings intensiv verfolgt und fand bemerkenswert, daß bei den letzten Treffen die westlichen Journalisten fast keine Fragen gestellt haben. Es waren die Russen, die dies gezielt und sehr professionell taten. Die haben sehr scharfe und kritische Fragen gestellt und Nogowizyn immer wieder ganz schön ins Schwitzen gebracht.

Thomas Roth, Moskau-Korrespondent der ARD, führte Ende August ein ausführliches Interview mit Rußlands Ministerpräsidenten Wladimir Putin. Das am 29. August ausgestrahlte Gespräch hatte eine Länge von etwa zehn Minuten, zentrale Aussagen Putins wurden allerdings weggelassen. Wie empfanden Sie den Vorgang? Haben Sie Reaktionen des deutschen TV-Publikums erreicht? Und hat diese offenkundige Manipulation zu Konsequenzen gegenüber dem ARD-Studio in Moskau geführt?

Was sollten die Konsequenzen sein? Jedes Medium in Deutschland wäre scharf auf einen Bericht, daß die Russen die ARD-Leute ausweisen oder dergleichen. Nein, sie und Herr Roth arbeiten nach wie vor in Rußland – »sehr erfolgreich«, wie es heißt.

Das Interview hat 27 Minuten gedauert. Herr Roth hat nach dem Interview sogar noch eine halbe Stunde persönlich mit Putin gesprochen.

Ich glaube, daß die Art und Weise, wie diese Sendung gemacht wurde, sicherstellen sollte, daß die Aussagen des russischen Ministerpräsidenten bei den Zuschauern erst gar nicht ankommen. Aus dem Interview wurden nicht nur wichtige Passagen herausgeschnitten – die Niederschrift der gekürzten Fassung wurde auf der ARD-Home­page sogar noch als »Wortlaut« ausgegeben. Das Interview wurde fast um Mitternacht ausgestrahlt, ein Zeitpunkt, zu dem sich kaum noch jemand politische Sendungen anschaut. Auch auf die übliche Praxis wurde verzichtet, daß die Übersetzung von einem professionellen Sprecher verlesen wird.

Die Redaktion hat jedoch die Mündigkeit des deutschen Publikums unterschätzt. Sie hat wohl auch nicht damit gerechnet, daß hierzulande jemand den Text des Originalinterviews lesen würde – geschweige denn, daß er auf Deutsch veröffentlicht wird, wie es Ihre Zeitung gemacht hat. Die Abschrift wurde auch in voller Länge auf der Homepage der russischen Regierung veröffentlicht.

Folglich ist Herr Roth in Erklärungsnot geraten und mußte in einem Deutschlandfunk-Interview sowie zahlreichen Internet-Nutzern im Tagesschau-Webblog Rede und Antwort stehen, die ihn mit sehr kritischen Fragen konfrontierten.

Es ist schon bezeichnend, daß manche Medien, die über unsere Botschaft ihr Interesse an Interviews mit russischen Politikern signalisiert haben, ihre Anfrage u. a. damit begründeten, daß sie das Gespräch »fair und nicht wie Thomas Roth« führen wollten.

Der Aggressionskurs des georgischen Präsidenten Saakaschwili gibt Rätsel auf. Der Krieg gegen Südossetien war für ihn nicht zu gewinnen – hat er aus Dummheit oder aus Kalkül gehandelt?

Beides. Die Ausrottung der südossetischen Bevölkerung wurde seit langem vorbereitet. In ­Georgien war schon zu Beginn des Jahres zu hören, daß Saakaschwili einen »kleinen und siegreichen Krieg« führen möchte, um sein Ansehen wieder aufzupolieren, das spätestens nach dem gewaltsamen Vorgehen gegen die Demonstrationen der Opposition und den manipulierten Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr beschädigt worden war.

Die georgische Operation trug die Bezeichnung »reines Feld« und war ein Beispiel der sogenannten »Shock and awe«-Strategie. Das Kalkül bestand darin, durch ausufernde Gewalt gegen die Zivilbevölkerung Angst zu verbreiten und einen Massenexodus von Osseten aus der Republik zu erzwingen. Ähnliches wurde für Abchasien geplant. So wollte man ein Ossetien ohne Osseten schaffen. Auf den Karten, die bei gefangenen Georgiern beschlagnahmt wurden, wurden die Regionen als ehemalige Republik Südossetien und ehemalige Republik Abchasien bezeichnet.

Es war aber auch Dummheit, denn mit seiner Aggression hat Saakaschwili die territoriale Integrität seines Landes bedroht und wahrscheinlich auch seine politische Zukunft aufs Spiel gesetzt. Wir haben uns 17 Jahre lang zur territorialen Integrität Georgiens bekannt. Wir haben versucht, die dortigen Konflikte auch in der UNO im Sinne der territorialen Integrität Georgiens zu lösen. Selbst nach der einseitigen Unabhängigkeitserklärung des Kosovo waren wir von unserem Standpunkt nicht abgewichen.

Nach dem 8. August, als auf Saakaschwilis Befehl eine schlafende Stadt mit Mörsern und Raketenwerfern beschossen und Zivilisten und Blauhelmsoldaten ermordet wurden, gab es aber kein Zurück mehr. Ganz gleich, wie viele Staaten letztlich die Unabhängigkeit Südossetiens und Abchasiens anerkennen – nach den begangenen Verbrechen werden diese Völker nie mehr in einem Staatsverband mit Georgien leben wollen.

Über welche Kriegsverbrechen der georgischen Seite wurde hierzulande nicht berichtet?

Es gab etliche. Besonders haarsträubend sind die zahlreichen Morde an Kindern. Nach vorläufigen Angaben haben 700 Kinder infolge des georgischen Angriffs ihr Leben verloren. Augenzeugen berichteten, daß georgische Soldaten auch schwangere Frauen auf der Straße erschossen haben. Georgische Panzer haben PKW mit Flüchtlingen unter Beschuß genommen, die die Stadt verlassen wollten. Da verbrannten ganze Familien bei lebendigem Leibe in ihren Autos. Man hat auch Kirchen angezündet, in denen Menschen Zuflucht suchten. All das war von Anfang an in den russischen Medien zu erfahren, wurde hier aber nicht rübergebracht.

Hatte die georgische Bevölkerung Zugang zur russischen Berichterstattung?

Seit dem 9. August nicht mehr: Der Empfang aller russischen Sender wurde gestört, der Zugang zu russischen Internetportalen gesperrt. Der US-Sender CNN konnte dagegen ungehindert sein Programm ausstrahlen und hat dabei natürlich versucht, die Georgier nachhaltig und einseitig zu beeinflussen.

Wie wurden und werden nach Ihrer Kenntnis in Georgien Kritiker des Saakaschwili-Kurses behandelt?

Es ist wiederholt vorgekommen, daß oppositionelle Politiker verhaftet wurden. Das neue georgische Gesetz »über Strafverfolgung« hat außerdem Abhör- und andere Verfolgungsmaßnahmen ohne Haftbefehl legitimiert. Oppositionelle Sender wie Rustawi 2 oder TV202 wurden geschlossen, kritische Journalisten eingeschüchtert. All das wurde von Nichtregierungsorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International dokumentiert. Einige Morde an bedeutenden Politikern wie Zurab Schwanija blieben bis heute unaufgeklärt.

Am 3. Oktober gab es einen Autobombenanschlag in der südossetischen Hauptstadt Tschinwali, dem sieben russische Soldaten zum Opfer fielen. Und am vergangenen Wochenende wurde von Georgien aus ein südossetischer Polizeiposten beschossen. Deutet sich hier eine Destabilisierungsstrategie an?

Nach unseren Erkenntnissen trifft Ihre Einschätzung zu: Ziel der Anschläge ist es, die Lage zu destabilisieren. Man hofft, daß Rußland die Nerven verliert und russische Einheiten zuschlagen. Dann hätte Tiflis die Gelegenheit, uns den Bruch der Vereinbarungen mit der EU vorzuwerfen und uns als Aggressor darzustellen. Wir haben das jedoch durchschaut und lassen uns nicht provozieren. Es sind Ermittlungen eingeleitet worden. Sobald die Täter gefaßt sind, werden sie vor Gericht gestellt.

Zur Zeit hält sich eine OSZE-Beobachtergruppe in der Konfliktregion im Kaukasus auf. Wie beurteilen Sie deren Rolle – auch mit Blick auf Erfahrungen, die in Belarus mit der OSZE gemacht worden sind?

Die OSZE- und UN-Beobachter haben ihre Arbeit getan und den Verlauf des Konflikts genau dokumentiert. Das Problem ist jetzt, daß ihre Meldungen unter Verschluß gehalten werden. Deren Veröffentlichung wird verhindert, weil sie eindeutig die Schuld Saakaschwilis am Ausbruch des Krieges belegen. Gleiches geschah mit den Berichten von Vertretern verschiedener internationaler Organisationen, die Südossetien nach der Beendigung der Kampfhandlungen besucht haben und mit den Hinterbliebenen der Opfer sprechen konnten. Sie alle haben das Ausmaß der Verbrechen an der ossetischen Zivilbevölkerung festgestellt. Doch nichts davon ist an die Öffentlichkeit gelangt.

Ist die OSZE neutral?

Das ist eine schwierige Frage. Die Rolle dieser Gruppe von OSZE-Beobachtern in der tragischen Nacht vom 7. auf den 8. August konnten wir bis heute nicht abschließend klären. Alles deutete ja auf die Vorbereitung eines Krieges hin – trotzdem ist die OSZE nicht eingeschritten. Haben die Beobachter nichts gemerkt? Wohl kaum. Wurde ihren Berichten keine Aufmerksamkeit geschenkt? Oder hat man die Dinge bewußt so laufen lassen?

Es gab auch Anzeichen, daß die OSZE-Beobachter frühzeitig über den bevorstehenden Angriff informiert und dann abgezogen wurden. Auch das georgische Friedensstifter-Bataillon wurde einige Stunden vor dem Angriff aus den gemeinsamen Stellungen und aus dem gemeinsamen Stab abgezogen. Diese »Friedensstifter« haben sich dann an den Kämpfen beteiligt und ihre russischen Kollegen getötet. Da gibt es offene Fragen. Aber insgesamt ist und bleibt die OSZE wichtig als Beobachtermission.

Nach dem zwischen Medwedew und Sarkozy ausgehandelten Plan geht es jetzt darum, daß die EU eigene Beobachter in die Sicherheitszonen an den Grenzen von Südossetien und auch Abchasien schickt, die dann unbewaffnet die Situation beobachten werden. Aber auch das wird jetzt in den deutschen Medien verzerrt dargestellt.

In der Ursprungsversion ging es bei dem in Moskau ausgehandelten Plan Medwedew-Sarkozy um die Sicherheit von Südossetien und Abchasien. Als Sarkozy dann nach Tiflis weitergeflogen war, setzte Saakaschwili willkürlich das Wort »in« Südossetien und Abchasien in den Text. Diese Version haben wir nie unterzeichnet, denn Rußland geht es um die Sicherheitszonen hinter der Grenze von Südossetien und Abchasien und nicht auf diesen Territorien. Das sind unabhängige Staaten, wir haben sie anerkannt.

Man hört jetzt häufig, daß der Leiter dieser Beobachtermission, der deutsche Diplomat Hansjörg Haber, angeblich fordert, daß die russischen Soldaten den Bezirk Achalgori verlassen. Das ist ein Gebiet in Südossetien und nicht in Georgien. Da täuscht sich Haber, und wahrscheinlich täuscht er damit auch Brüssel – absichtlich oder unabsichtlich. Es muß klar gesagt werden: Dieses Gebiet gehört seit Urzeiten zu Südossetien. Dort bleiben jetzt die Osseten und die Russen – nicht die Georgier.

Es geht um eine umfassende Regelung für den Kaukasus. Und nicht nur alleine um den Rückzug von russischen Truppen und um weitere Forderungen an Rußland. Wir müssen nach dem Ursprung des gegenwärtigen Konflikts fragen, also: Wer war Aggressor? In dem mit Sarkozy vereinbarten Plan wurde klar festgestellt, daß zuerst einmal die georgischen Truppen in ihre Kasernen zurückkehren müssen. Das war die erste und wichtigste Forderung der russischen Seite. Sarkozy hat dem entsprochen, es wurde also in den Text aufgenommen.

Jetzt aber versucht man, das so umzuinterpretieren, daß lediglich die Russen abziehen müssen. Und in der Tat sind unsere Truppen aus Georgien abgezogen, einen Tag früher als vereinbart. Am 9. Oktober gab es keinen russischen Soldaten mehr auf georgischem Territorium.

Grundsätzlich bleibt immer die Frage, was die georgische Regierung vorhat. Weder Saakaschwili noch seine Mitstreiter haben sich mit dem Verlust von Südossetien und Abchasien abgefunden.

Und was die Neutralität der OSZE angeht – da muß man zwischen der OSZE an sich und einzelnen ihrer Strukturen unterscheiden. Zum Beispiel hat sich das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) darauf spezialisiert, mit Argusaugen auf den Ablauf von Wahlen zu schauen. Allerdings nur dann, wenn diese östlich der EU-Grenze stattfinden.

"Wir brauchen Helsinki II"

Teil 2: Über eine neue internationale Sicherheitsarchitektur, Rußlands Bündnispolitik und den Konfrontationskurs der USA



Die in Genf angesetzten ersten Verhandlungen über den Georgien-Konflikt1 sind am 15. Oktober gescheitert. Was war der Grund?

Wir bezeichnen die Verhandlungen in Genf als internationale Diskussion über die Gewährleistung der Sicherheit für Südossetien und Abchasien. Sie sind diejenigen, deren Sicherheit bedroht wurde und scheinbar immer noch bedroht wird, wenn man die zunehmende Konzentration der georgischen Spezialeinheiten in den Grenzgebieten bedenkt.

Die erste Diskussionsrunde ging so schnell zu Ende, weil die georgische Delegation auf stur schaltete und nicht an einer gemeinsamen Sitzung mit allen Beteiligten teilnehmen wollte. Es ist aber schon ein Fortschritt, daß solche Gespräche begonnen wurden. Wichtig ist auch, daß die Vertreter von Südossetien und Abchasien dort zum ersten Mal die Gelegenheit hatten, mit den Vertretern der EU, der OSZE und, wenn auch informell, mit den amerikanischen Unterhändlern direkt in Kontakt zu treten.

Die Gespräche werden fortgeführt. Wir hoffen, daß die nächste Runde am 18. November stattfinden wird.

Es scheint, als würde Georgien gleichsam als Belohnung für die Aggression nun beschleunigt in die NATO aufgenommen werden.

Wir hoffen, daß es nicht dazu kommt. Wir wissen zwar, daß einige NATO-Mitglieder Georgien lieber heute als morgen in der Allianz sehen würden. Dann muß die Allianz entscheiden: Will sie einen Staatschef zum Bündnispartner haben, der bereit ist, sein Land in einen Krieg zu stürzen? Dessen Machtambitionen stärker sind als sein Selbsterhaltungstrieb? Zum Glück besitzen andere Staaten genug Verstand, dies nicht herbeizusehnen.

Bei früheren Erweiterungsrunden pflegte man in Brüssel stets zu sagen, die Ausdehnung der NATO bringe mehr Sicherheit und Stabilität. Im Falle des heutigen Georgien ist jedoch klar: Hier wird nur Unsicherheit gemehrt. Nicht umsonst hat die NATO in der Vergangenheit darauf geachtet, daß Beitrittskandidaten keine Streitigkeiten mit Nachbarländern und keine ungelösten Konflikte in ihrem Inneren haben dürfen.

Man sagt uns, wäre Georgien schon heute in der Allianz, wäre alles glimpflicher ausgegangen. Da sind jedoch große Zweifel angebracht: Hätten die anderen NATO-Staaten etwa mäßigend auf Saakaschwili eingewirkt? Wohl kaum. Er hat sich offenbar auch jetzt für die bewaffnete Lösung der ossetischen und abchasischen Frage entschieden, weil er sicher zu sein glaubte, Rußland werde mit Rücksicht auf die Schutzmächte Georgiens nicht einschreiten. Das Problem Nordzypern zeugt übrigens davon, daß die NATO nicht imstande ist, territoriale Streitigkeiten zwischen den eigenen Mitgliedern zu regeln.

Die sogenannten westlichen Länder haben Georgien am Mittwoch (22. Okt.) eine »Aufbauhilfe« in Höhe von 3,4 Milliarden Euro zugesagt – weit mehr als ursprünglich geplant war. Wie geht Rußland damit um? Das Geld wird von Saakaschwili doch sehr wahrscheinlich in die Rüstung gesteckt.

Das ist in der Tat bizarr: Man läßt schlafende Städte und Dörfer überfallen, Zivilisten und Friedensstifter töten und wird dafür mit 3,4 Milliarden Euro belohnt. Dabei geben selbst die NATO-Experten zu, daß diese Summe, die übrigens beinahe einem Drittel des georgischen Bruttoinlandsprodukts im vergangenen Jahr entspricht, den realen Wiederaufbaubedarf deutlich übersteigt und daß die – wohlgemerkt von Saakschwili selbstverschuldeten – Zerstörungen überwiegend militärische Objekte betreffen. Es überrascht auch, in welcher Eile die Summe ermittelt wurde. Medienberichten zufolge war selbst Deutschland vor vollendete Tatsachen gestellt worden, was die Höhe seines Beitrags anbelangt.

Vor kurzem hat die angesehene NGO Transparency International Zweifel an der zielgerechten Nutzung der Aufbaugelder durch die georgische Führung angemeldet. Auch die georgische Opposition hat die internationale Gemeinschaft aufgerufen, die Verwendung dieser Mittel zu überwachen. Denn es ist nicht auszuschließen, daß Tiflis diese großzügige Geste als Ermutigung versteht und eine Revanche versucht.

Saakaschwili hat immer noch keine rechtlich bindenden Garantien der Nichtanwendung von Gewalt abgegeben. Gleichzeitig hat er aber die Wiederherstellung und den weiteren Ausbau des Angriffspotentials georgischer Streitkräfte angekündigt. Auch die Konzentration der georgischen Spezialeinheiten an der Grenze zu Südossetien und Abchasien nimmt zu.

Das Argument, in der jetzigen Situation verbiete der gesunde Menschenverstand ein weiteres militärisches Abenteuer, gilt hier kaum. Denn mit gesundem Menschenverstand ist Herr Saakaschwili nicht gesegnet. Daher sind unserer Meinung nach die Geberländer dazu angehalten, mit Argusaugen zu kontrollieren, daß das Geld ihrer Steuerzahler wirklich dem georgischen Volk, das größtenteils immer noch in sehr bescheidenen Verhältnissen lebt, zugute kommt und nicht zu einem neuen Blutvergießen führt.

Neben Georgien soll auch die Ukraine in das NATO-Militärbündnis aufgenommen werden. Repräsentiert der Regierungskurs in dieser Frage den Willen der dortigen Bevölkerung? Wie beurteilt die russische Regierung entsprechende Pläne des Westens? Würde Rußland den NATO-Beitritt Kiews – wenn auch zähneknirschend – akzeptieren?

Die Umfragen ergeben stets, daß die Mehrheit der Ukrainer gegen einen NATO-Beitritt ist. Alle Versuche der von der Allianz großzügig subventionierten Propaganda, die behauptet, Mitgliedschaft in der Allianz sei die beste Lösung für die Ukraine, schlugen bisher fehl. Wegen starker Proteste der Bevölkerung mußte die NATO vor ein paar Jahren ein Manöver im Schwarzen Meer, vor der Krim, abblasen. Die Strategen der Allianz haben sehr schnell reagiert und dann überall in der Ukraine NATO-Büros eingerichtet, um Propaganda mit entsprechenden Mitteln zu treiben. Den Willen der Bevölkerungsmehrheit, die von all dem nichts wissen will, sollte man aber sowohl in Brüssel als auch in Kiew respektieren.

Uns besorgt, daß das Werben der ukrainischen Führung um die NATO-Mitgliedschaft oft von antirussischer Rhetorik und von Handlungen begleitet wird, die alles andere als rußlandfreundlich sind. Russisch ist dort für viele Einwohner Muttersprache – es wird jedoch bewußt aus dem öffentlichen Raum verdrängt, russische Schulen werden geschlossen.

Wir machen kein Hehl daraus, daß ein NATO-Beitritt der Ukraine eine tiefgreifende Krise in den russisch-ukrainischen Beziehungen nach sich ziehen wird. Das sind jetzt keine Drohungen – ich spreche von realen Folgen, die unvermeidbar sein werden. So wird mit der Aufnahme der Ukraine in die Allianz zunächst der bilaterale Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und Partnerschaft in Frage gestellt. Gemäß Artikel 6 dieses Abkommens verpflichten sich beide Seiten, eigenes Territorium nicht zu Lasten der Sicherheit der anderen Vertragspartei zu nutzen.

Auch die russischen Aufträge an die ukrainische Rüstungsindustrie müßten gekündigt werden. Die Anpassung dieser Betriebe an die NATO-Standards wird sehr viel Zeit in Anspruch nehmen– sie haben aber einen beachtlichen Anteil am ukrainischen Bruttoinlandsprodukt. Negative Folgen für die ukrainische Wirtschaft werden sich da wohl nicht vermeiden lassen.

Es liegt also am Westen, eine Wahl zu treffen. Und zwar eine strategische Wahl: Will man die Ukraine zu einer Pufferzone zwischen Europa und Rußland degradieren? Oder will man mit Rußland und der Ukraine gemeinsam die Zukunft unseres Kontinents gestalten? Wir sind für die zweite Möglichkeit.

Was sind Ihrer Ansicht nach die Pläne der NATO-Strategen gegenüber Rußland – besonders hinsichtlich des in Tschechien und Polen stationierten Raketenabwehrsystems?

Wenn Sie von NATO-Strategen sprechen, muß man zunächst folgende Fragen beantworten: Was ist die NATO heute? Wer hat dort die Hausmacht? Wie wird dort über die wichtigen Sicherheitsfragen entschieden?

Unmittelbar nach dem Ausbruch des jüngsten Kaukasus-Konflikts hat Polen beschlossen, nicht nur diese Raketenabwehrstellung, sondern auch noch einen US-Stützpunkt auf seinem Territorium bauen zu lassen. Bei der deutschen Wiedervereinigung und bei der ersten NATO-Osterweiterung wurde aber etwas ganz anderes versprochen!

Dieser Beschluß der polnischen Regierung kam so schnell, daß es selbst das Weiße Haus nicht schaffte, rechtzeitig eine Pressemitteilung vorzubereiten. Dieses Vorgehen spricht Bände darüber, wie zwei Regierungen willkürlich über die Sicherheit aller Bürger der Europäischen Union entscheiden.

Der Zeitpunkt, zu dem dieser Beschluß gefällt wurde, zeugt außerdem davon, gegen wen die amerikanische Raketenabwehr (NMD – d. Red.) in Europa tatsächlich gerichtet ist. Früher pflegte man uns zu beruhigen, man wolle mit der NMD von Iran und Nordkorea abgeschossene Interkontinentalraketen bekämpfen. Aber grenzen Polen und Tschechien etwa an Iran oder Nordkorea? Es wäre dann doch logischer, die Anlagen in Südeu­ropa oder in der Türkei zu stationieren.

Mit Blick auf einen drohenden Angriff des Westens gegen Teheran: Wird Georgien möglicherweise als »Flugzeugträger« für Angriffshandlungen dienen?

Wenn ein Flugzeugträger solch einen Kapitän hat, ist der Schiffbruch vorprogrammiert. Im übrigen beruht unsere Position in der Iran-Frage auf folgenden Prämissen: Erstens ist der Iran als kernwaffenfreier Staat dem internationalen Nichtweiterverbreitungsvertrag beigetreten. Daher darf dieser Staat keine Atomwaffen besitzen und ist verpflichtet, mit der Internationalen Atomenergiebehörde IAEO ohne Vorbehalte zu kooperieren. Zweitens hat der Iran nach demselben Vertrag das Recht auf uneingeschränkte Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken. Dieses Recht muß respektiert werden.

Von den genannten Grundsätzen lassen wir uns in unserer Politik gegenüber Iran in der »Atomfrage« leiten. Als unmittelbarer Nachbar dieses Landes sind wir über die Risiken, die eine nukleare Bewaffnung Irans mit sich bringen würde, nicht weniger besorgt als die EU. Wobei man bedenken muß, daß die iranische Führung selbst stets gesagt hat, daß sie keine solchen Pläne hegt.

Daher ist es im Moment am wichtigsten, Teheran dazu zu bewegen, mit der IAEO uneingeschränkt zu kooperieren und deren Inspektoren alle noch offenen Fragen zu beantworten. Die Klärung dieser Fragen ist das eigentliche Ziel der internationalen Gemeinschaft.

Wir sind fest überzeugt, daß man das nur auf diplomatischem Wege erreichen kann. Und zwar mit Nachdruck und Geschlossenheit, aber auch mit Respekt gegenüber den legitimen Wünschen Irans.

Was hat Rußland der auf Konfrontation hinauslaufenden US-Strategie entgegenzusetzen?

Wir schlagen vor, die künftige Sicherheitsarchitektur in Europa neu zu verhandeln. Gerade die jüngsten Ereignisse haben gezeigt, daß keiner der heute existierenden Mechanismen zu einer wirklichen Konfliktprävention taugt. Deswegen hat der russische Präsident Dmitri Medwedew bei seinem Berlin-Besuch im Juni eine Art »Helsinki II«2 vorgeschlagen, nämlich eine gesamteuropäische Konferenz unter Einbeziehung der USA und Kanadas. In dieser Konferenz sollte der völkerrechtliche Rahmen für einen gemeinsamen Sicherheitsraum von Vancouver bis Wladiwostok erarbeitet werden. Auch völkerrechtliche Zweideutigkeiten müssen geklärt werden. So wie – das ist ja ein ganz aktuelles Beispiel – das Verhältnis zwischen dem Recht auf territoriale Integrität und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker. Im Ergebnis sollten für alle gleiche, klare und verbindliche Regeln gelten.

Bei seinem jüngsten Frankreich-Besuch hat unser Präsident in Evian viele dieser Dinge konkretisiert. Es ist erstaunlich, daß die westeuropäischen oder EU-Regierungen diese Initiative und diese konkreten Vorschläge noch nicht aufgegriffen haben; es wundert mich, daß sie das nicht genau prüfen und keine eigenen Ideen entwickeln. Man ist erstarrt, weil die Reaktion aus Wa­shington wieder sehr negativ ist. Die USA wittern nämlich einen Anschlag auf die NATO und auf ihre führende Rolle in diesem Bündnis.

Zur Zeit sprechen alle zwar von gemeinsamen Werten – jeder spielt aber sein eigenes Spiel. Wir möchten jedenfalls, daß alle Staaten über die künftige Sicherheitsarchitektur mit offenem Visier und auf gleicher Augenhöhe verhandeln. Ausgehend von den eigenen und klar definierten Interessen und möglichst frei von der Zwangsjacke des Blockdenkens.

In den USA stehen demnächst Wahlen an. Glauben Sie, daß Sie mit einem eventuellen Präsidenten Barack Obama eher eine solche neue Architektur durchsetzen können, als es mit Bush möglich gewesen wäre?

Ich möchte jetzt nicht über den Ausgang der US-Wahlen spekulieren. Obama scheint gegenwärtig in den Umfragen vorn zu liegen – mit ihm verbinden viele Amerikaner ihre Hoffnungen. Aber wenn Sie die Geschichte der USA und auch die jetzigen politischen Verhältnisse in diesem Lande genauer betrachten, werden Sie feststellen, daß auch die nächste Regierung die amerikanischen Interessen verfolgen wird – egal, welche Partei sie stellt, egal, wie sie zusammengesetzt ist. Sie wird weder die Interessen von Obama vertreten, noch die von McCain, noch die eines Flügels oder einer Fraktion im Kongreß oder im Senat.

Zu einem anderen Thema: Auch mit Blick auf einen Kooperationsvertrag zwischen den russischen und venezolanischen Energieunternehmen Gasprom und PDVSA sprach Fidel Castro unlängst von einem »wichtigen Schritt in Richtung einer multipolaren Welt«. Rußland baut nicht nur seine politischen, sondern auch seine militärischen Beziehungen zu Venezuela aus. Im November finden dort gemeinsame Seemanöver statt – besinnt man sich in Moskau auf die Rolle einer Weltmacht?

Wir betreiben keine Machtspiele. Es geht uns um den Ausbau der Beziehungen mit Lateinamerika, einer aufstrebenden Region, deren Rolle in der Weltwirtschaft und -politik künftig zunehmen wird.

Die russisch-venezolanischen Beziehungen haben eine lange und traditionsreiche Geschichte. Kürzlich wurde ihr 150. Jahrestag begangen. Heute gehören Rußland und Venezuela zu den größten Ölproduzenten weltweit und haben allein aus diesem Grunde das Bedürfnis, ihre Politik zu koordinieren. Wir haben auch zu vielen weltpolitischen Fragen wie der Demokratisierung internationaler Beziehungen oder der Rolle der UNO ähnliche Positionen.

Die militärisch-technische Zusammenarbeit verläuft absolut transparent und gemäß den internationalen Verpflichtungen, die beide Staaten übernommen haben. Was die gemeinsamen Manöver anbelangt, genauso wie die Wiederaufnahme der Langstreckenflüge der russischen strategischen Luftstreitkräfte, so sind diese nichts anderes als ganz gewöhnliche Maßnahmen zur Aufrechterhaltung unserer Verteidigungsfähigkeit. Früher mußten diese Maßnahmen wegen der Knappheit des Verteidigungsetats ausgesetzt werden – wir hatten nicht einmal genügend Kerosin für die Bomber. Jetzt kehren wir sozusagen zur Normalität zurück und sind imstande, wie früher wieder global präsent zu sein.

Warum richtet Rußland keine Stützpunkte auf Kuba oder in Venezuela ein?

Wir hatten bereits eine Radaranlage auf Kuba, in Lourdes. Kurz nach den Ereignissen vom 11. September 2001 haben wir sie von dort abgezogen. Wir dachten ja, daß sich Rußland und die USA auf die Bekämpfung des gemeinsamen Feindes – des internationalen Terrorismus – konzentrieren sollten, statt einander auszuspähen. Als »Dankeschön« wurden wir mit Plänen für eine amerikanische Radaranlage in Tschechien konfrontiert.

Jetzt heißt es aber nicht, daß man das Ruder herumreißen und der Logik der Eskalation folgen soll. Ich bin mir sicher, manche notorischen »kalten Krieger« würden sich ungemein freuen, wenn wir genau so vorgehen würden. Dann könnte man aus ihrer Sicht Rußland in eine neue globale Konfrontation treiben und die russische Wirtschaft ausbluten lassen, so, wie es mit der Sowjetunion geschah.

Das gönnen wir ihnen nicht. Wir lassen uns nicht in eine Konfrontation hineinziehen, sondern werden weiterhin auf eine positive Entwicklung der internationalen Situation einwirken.

Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang die Arbeit der Schanghaier Kooperationsgruppe (SCO)? Entsteht im asiatischen Raum ein Gegengewicht zur vermeintlichen Übermacht des Westens?

Die neueste Konzeption der russischen Außenpolitik, die von Präsident Medwedew Ende Juli verkündet wurde, sagt auch etwas über die Ausrichtung unserer Außenpolitik in verschiedenen Teilen der Welt aus. Ich erwähne nur die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union oder unsere Beziehungen zu den unmittelbaren Nachbarn, den GUS-Ländern. Wir möchten zusammen mit den USA und der EU eine Sicherheitsarchitektur aufbauen.

Die USA sind und bleiben eine Supermacht. Wir müssen aber begreifen, daß diese Macht im Alleingang nichts mehr erreichen kann. In Rußland kursiert ein Witz: Den Vereinigten Staaten ist zu wenig Demokratie geblieben, sie haben fast alles davon bereits exportiert. Es ist wahr: Die USA haben ihre Kraft verpulvert, auch ihre militärische. Wir dachten, die Welt würde sich nach dem 11. September 2001 verändern, wir erwarteten, daß die Attentate für das Land ein Schock von nie gekanntem Ausmaß gewesen seien, viel schlimmer als Pearl Harbor. Und wir hofften, die USA würden endlich ihr Blockdenken aufgeben. Aber was dann kam, war der Irak-Krieg – schon wieder fast im Alleingang, lediglich mit einer kleinen »Koalition der Willigen«. Der Fall Georgien hat uns erneut gezeigt, wie in Washington Politik gemacht wird.

In Anbetracht seiner territorialen Größe will Rußland auch Verbündete, sehr gute Nachbarn und Partner in Asien haben, nicht nur in Zentralasien, auch im Fernen Osten, China zum Beispiel. Die 2001 gegründete SCO ist politisch, eine offene Einrichtung, die gegen niemanden gerichtet ist, sie ist kein Block. Sie ist nicht die Antwort auf die NATO, sondern eine Gemeinschaft, die von politischen Zielen und Perspektiven für diese Weltregion getragen wird. An zweiter Stelle steht die wirtschaftliche Kooperation und an dritter der Kampf gegen die Herausforderungen und Gefahren der Globalisierung, wie Terrorismus, Rauschgifthandel, Infektionskrankheiten und vieles mehr. Sinn und Zweck dieser Organisation ist es, gemeinsam Probleme und Herausforderungen wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Natur in einer Region zu meistern, die ein Fünftel der Erdoberfläche umfaßt und in der ein Viertel der Weltbevölkerung lebt. Gerade während der weltweiten Finanzkrise hat diese Vereinigung ihre Effizienz unter Beweis gestellt.

Die SCO ist also nicht als Gegenpol gedacht. Sie ist offen für Kooperation mit der EU und anderen weltpolitischen Akteuren. Übrigens gibt es immer mehr Länder, die der SCO beitreten möchten.

Die Finanzkrise erschüttert gegenwärtig nicht nur die Börsen und das Bankensystem der USA und Westeuropas, sie droht vielmehr die gesamte Weltwirtschaft ins Wanken zu bringen. Auch an der Moskauer Börse hatte dies bereits Konsequenzen. Wie gedenkt Rußland die Krise zu bewältigen, seine Ökonomie und seine Bevölkerung vor den Gefahren zu schützen?

Wir sind auch von der Krise betroffen, es sieht im Moment nicht gut aus. Aber es ist auch nicht dramatisch. Die Rohstoffpreise werden weiter fallen, aber bei der Knappheit der Reserven werden sie über kurz oder lang auch wieder in die Höhe gehen. Die Situation in Rußland ist dadurch gekennzeichnet, daß wir noch nicht so verflochten sind mit dem internationalen Börsengeschäft. Daher wird diese amerikanische Krise keine so tiefgreifende Wirkung auf unser Bankensystem und unsere Börse haben, wie wahrscheinlich auf die deutsche, englische oder irgendeine andere, die seit Jahrzehnten mit dem Finanzmarkt in den USA verwoben ist. Das ist der eine Punkt. Der andere ist, daß wir die Einnahmen aus dem Verkauf von Rohstoffen und Energieträgern nicht verpulvert, sondern sehr gründlich angelegt haben. Wir haben große Valuta- und Goldreserven geschaffen. Das ist ein Sicherheitskissen, das es uns ermöglicht, nicht nur das Bankensystem zu erhalten, sondern auch die Wirtschaft zu unterstützen.

Die Regierung hat eine Reihe von Maßnahmen eingeleitet, die nicht nur das Bankenwesen, sondern auch die Realwirtschaft unterstützen. Die vorgesehenen Mittel belaufen sich derzeit auf umgerechnet 150 Milliarden Euro.

Rußlands Präsident Medwedew sprach kürzlich davon, daß die US-Ökonomie endgültig als Führungsmacht der Weltwirtschaftsordnung ausgespielt hat. Was wäre die Alternative: ein gemeinsamer Block mit dem Kern Rußland/China/Lateinamerika?

Ich würde nicht von Blöcken sprechen, das Blockdenken hat ausgedient. Die Wirklichkeit der heutigen globalisierten Welt ist so, daß man entweder gemeinsam nach Lösungen sucht oder gemeinsam verliert.

Unser Ansatz ist, daß Sicherheit unteilbar ist. Dies betrifft die finanzielle Sicherheit genauso wie die militärisch-politische. Selbstverständlich werden die USA und der Euro-Raum weiter eine wichtige Rolle in der Weltwirtschaftsordnung spielen. Aber ohne die Einbeziehung der BRIC-Staaten (Brasilien, Rußland, Indien, China– d. Red.), ohne die Mitsprache der wichtigen Schwellenländer ist eine stabile Weltwirtschaft nicht mehr denkbar.

Anmerkungen der Redaktion
  1. Bei den »Genfer Gesprächen« sollten zwei Monate nach dem Kaukasus-Krieg Delegationen Rußlands, Südosse­tiens, Abchasiens, Georgiens sowie Vertreter der EU, der UNO und der OSZE über Lösungen für Sicherheit und Stabilität in der Region verhandeln.
  2. »Helsinki«, seit 1975 oft als Synonym für die »Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« (KSZE) in Gebrauch. Vom 3.7.1973 bis 1.8.1975 tagten in der finnischen Hauptstadt und in Genf Vertreter von 33 europäischen Staaten sowie der USA und Kanadas. Die Initiative zur wichtigsten internationalen Beratung seit der Potsdamer Dreimächtekonferenz (»Potsdamer Abkommen«) von 1945 war von den Warschauer Vertragsstaaten ausgegangen. Nach zähem Widerstand des Westens unterzeichneten schließlich am 1. August 1975 in Helsinki die höchsten Repräsentanten von acht sozialistischen, zwölf blockfreien und 15 kapitalistischen Staaten die »Schlußakte« der KSZE. Ihr Kernstück waren zehn Prinzipien für die Beziehungen der Teilnehmerstaaten. Die »Schlußakte« bildete ein Ganzes und konnte nur als Ganzes durchgesetzt werden. In ihr wurden Vereinbarungen über die Menschenrechte, die Zusammenarbeit in Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Umwelt, Sicherheitsfragen sowie Fragen der Zusammenarbeit in humanitären Angelegenheiten getroffen.

    Mit der Charta von Paris vom November 1990 wurde der Ost-West-Konflikt auf der offiziellen Ebene beendet. Damit hatte auch die KSZE ihre bisherige Funktion verloren. Beim KSZE-Gipfeltreffen am 5. und 6. Dezember 1994 in Budapest wurde beschlossen, die KSZE in eine Vereinigung umzuwandeln und mit Wirkung vom 1. Januar 1995 in »Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« (OSZE) umzubenennen.

Interview: Stefan Huth und Peter Wolter

* Das Interview erschien in zwei Teilen am 25. und 27. Oktober 2008 in der Tageszeitung "junge Welt", Teil 1 unter dem Titel "Rußland hat reagiert", Teil 2 unter dem Titel "Wir brauchen Helsinki II"


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