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Ehemalige Weltmacht vor dem Comeback?

Russlands Asienpolitik bietet große Chancen, sich als Global Player zurück zu melden

Von Wolfgang Grabowski*

Die Asien-Dimension russischer Außenpolitik hat an Bedeutung gewonnen. Präsident Putin und sein Expertenstab sind sich sehr wohl der realen Kräfte- und Interessenlage sowie dem gewaltigen Konfliktpotential im asiatischen Raum bewußt, von dem heute keiner sagen kann, wie und wohin es sich entwickeln wird. Wird China den Riesenspagat zwischen Marktwirtschaft und sozialem/sozialistischem Anspruch auf Dauer aushalten? Wird die politische Demokratisierung Chinas unter Leitung und Kontrolle der KP nachhaltig gelingen? Wird China beim möglichen Aufstieg zur Supermacht (schon 2020 könnten die USA eingeholt sein, befürchten US-amerikanische Politologen und Wirtschaftswissenschaftler) auch weiterhin den Ausgleich suchen, oder andere Töne als Reich der Mitte anschlagen? Wie werden die USA mit ihrer übermächtigen Kriegsmaschine reagieren, sollten ihnen die Fälle davon schwimmen, wie ernst zu nehmende Politwissenschaftler (Paul Kennedy, In Vorbereitung auf das 21.Jahrhundert) prognostizieren? Kann Japan die Abhängigkeit von den USA abschütteln, oder wird es die latente Krisenlage nicht überwinden können? Werden Indien und China die Bevölkerungsexplosion tatsächlich in den Griff bekommen? Wird eine strategische Triangelbeziehung zwischen China, Indien und Russland Realität werden können, von der Rajiv Gandhi in seinem letzten Jahr geträumt hatte, als schon klar wurde, dass die Sowjetunion sich nicht mehr halten würde? Wie kann die hochbrisante Lage in und um Zentralasien und Afghanistan entschärft, tragfähige Konflikt- und Problemlösungen gefunden werden und somit dem internationalen Terrorismus der Nähr-und Wirkboden entzogen werden?

Die Hauptsorge Moskau ist gegenwärtig jedoch viel irdischer ausgelegt: den gigantischen, sehr unterschiedlichen und widersprüchlichen Herausforderungen stehen die mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion drastisch reduzierten Einflussmöglichkeiten Russlands gegenüber. Der riesige asiatische Teil Russlands ist äußerst dünn besiedelt. So leben im Fernen Osten lediglich vier Mio. Einwohner, im chinesischen Gegenüber 200 Mio. Der chinesische Markt dort boomt und platzt aus allen Nähten. Harte Winter haben den russischen Teil des fernen Osten fast zum Kollabieren gebracht, alle Schwächen des Niedergangs in Wirtschaft und sozialer Lebenssphäre seit der Wende offenbart. Die geschrumpften und verschlissenen Streitkräfte in der Region sind kaum noch in der Lage, das Minimum des Nötigen an der riesenlangen Grenze zu schultern. Hinzukommt, dass die regionale Elite dort die Aufforderung Jelzin's Anfang der neunziger Jahre, „nehmt Euch so viel Freiheit, wie Ihr verdauen könnt“ besonders ernst genommen hat und ihr Heil in vielen sehr eigenständigen Aktionen auch auf dem internationalen Parkett suchte. Das hat nicht nur die Beziehungen mit der Zentrale überstrapaziert, sondern die Lage vor Ort noch weiter verschlechtert. Russland kann sich derartige Extravaganzen nicht leisten, die nur jenen Wasser auf die Mühle gießen, die von einer Zerstückelung Russlands träumen und ernsthaft Gedankenspiele darüber anstellen (nicht nur Brzesinski ).

Asien ist Aktionsfeld hauptsächlicher „Globalplayer“ - der Supermacht USA, der aufstrebenden Großmacht China und Japan. Zwischen ihnen hat sich ein gewaltiges Spannungsfeld von Rivalität und Zusammenarbeit entwickelt. Die Gefahr ist groß, dem nicht gewachsen zu sein. Aber es bietet Russland trotz aller Schwäche ebenso Raum zum Manövrieren. Der Kreml hat in den letzten Jahren viel Kraft darauf verwand, den gegebenen Spielraum nüchtern auszuloten und auszuschöpfen.
Und Russland hat dafür einiges Interessante zu bieten, vor allem die riesigen Energieressourcen und andere natürliche Reichtümer, die in Japan fast vollständig fehlen und in China immer knapper werden. Aber auch die Qualität der Rüstungsgüter und die in ihnen steckenden wissenschaftlich-technischen Hochleistungen, sowie der gewaltige, fast menschenleere, potente Siedlungs- und Investitionsraum sind attraktiv.

Gemeinsame Interessen mit China

Das kommt besonders in den Beziehungen mit China zur Geltung, denen in Moskau ganz besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Wenn auch vieles im Verhältnis für die Zukunft unbestimmt bleibt - trotz von beiden Seiten erklärter strategischer Partnerschaft -, so fällt doch die Zielstrebigkeit auf, mit der beide Seiten ihre Beziehungen konstruktiv ausgestalten wollen. Präsident Putin kann sich darauf stützen, dass man in Peking an einem weiteren Auflösungsprozess des nördlichen Nachbarn - mit dem Blick auf die Bewahrung seiner eigenen staatlichen Einheit und Stabilität - kein Interesse hat, und dass seit 1989 (Gorbatschow hatte mit dem Abbau der “drei Hindernisse“ - Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan, der vietnamesischen aus Kambodscha und Verringerung der sowjetischen Militärpräsenz an den nördlichen Grenzen - die Wende in den Beziehungen eingeleitet) über Jahre ein Niveau der Beziehungen erreicht wurde, dass Jiang Zemins schon 1997 als „neuen Typ zwischenstaatlicher Beziehungen“(Beijing-Rundschau, 34, 1997), bezeichnet hatte. Die neue Qualität unter Putin besteht darin, dass die chinesischen Pragmatiker einen ähnlich pragmatisch Gesinnten nun vorfinden, der ebenso wie sie berechenbar und konsequent die Interessen des eigenen Landes vertritt und wohlwollend die Beziehungen ausgestalten will, ohne dass Probleme unter den Teppich gekehrt werden. Peinlichkeiten, wie die plumpen und nichtssagenden Jelzinschen Kernwaffendrohungen an die Adresse der USA während eines chinesisch-russischen Gipfels werden sie nicht mehr ertragen müssen.

Die Übereinstimmung bzw. Parallelität der Interessen ist beeindruckend.

Auch wenn der Außenhandelsumsatz Russland–China auf Grund der Schwäche der russischen Wirtschaft sich im Vergleich zu jenem, den China mit den USA (100 Mrd.$), mit Japan (60 Mrd.$) und mit Deutschland (52 Mrd.DM), oder insgesamt (474 Mrd.$) bereits 2000 realisiert hat, mit seinen 6,3 Mrd.$ eher bescheiden ausnimmt, ist das Interesse beider Seiten an den Wirtschaftsbeziehungen ausgeprägt. Überdies gehen die Partner davon ausgehen, dass mittelfristig 20 Mrd. $ möglich sein müssten.

Bei dem Wirtschaftsboom ist für China ein Riesenproblem entstanden - die eigenen Energieressourcen reichen bei weitem nicht mehr, China ist in wachsenden Maße auf den Import von Energieträgern angewiesen. Was liegt da näher als der russische Osten mit seinen immensen Ressourcen! Im November 1997 wurde ein 12-Mrd.-Dollar-Vertrag über eine Erdgasleitung in die Provinz Shandong, sowie ein 3-Mrd.-Dollar-Vertrag über den Bau des Kernkraftwerkes Lianyungang unterzeichnet. Eine Erdölleitung aus Ostsibirien nach Nordostchina ist geplant sowie die russische Beteiligung am Drei-Schluchten-Staudamm.

Die Entwicklung der Wirtschaftszusammenarbeit beinhaltet die Gründung gemeinsamer Unternehmen, die Schaffung gemeinsamer Wirtschaftssondergebiete, Projekte in der Landwirtschaft und im Transportwesen, chinesische Handelshäuser in verschiedenen russischen Städten, sowie die Teilnahme an multilateralen Projekten in Ost- und Nordostasien. Der russische Beitritt zum Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsforum (APEC) fand die Unterstützung Pekings. Der „kleine Grenzhandel“ hat ein beträchtliches Ausmaß angenommen. Erzeugnisse der chinesischen Leicht-und Lebensmittelindustrie spielen eine wichtige Rolle bei der Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen im Fernen Osten und in Sibirien insgesamt. Der riesige chinesische Markt nimmt russische Waren auf, die auf anderen Märkten nur schwer Absatz finden, und das stabil in großen Mengen. Von großer Bedeutung für beide Seiten ist die wachsende wissenschaftlich-technische Kooperation von Maschinenbau bis Raumfahrt.

Eine zentrale Frage in der Annäherung betrifft den militärischen Sektor, für Russland eine wichtige Valutaquelle, für China sicherer Zugang zu moderner und wenig störanfälliger Technik und zu wissenschaftlichem Knowhow. China erhält moderne Kampfflugzeuge, Kriegsschiffe und Panzer, an eine Fabrik zur Montage russischer Kampfflugzeuge ist gedacht. Dies ist aber auch zweischneidig für Russland. Zum einen sind bei den erreichten Ausmaßen Nachbarländer( u.a. Japan ) beunruhigt, mit denen Russland ebenfalls die Beziehungen dauerhaft ausbauen will. Zum anderen muss man natürlich aufpassen, dass eingedenk der wissenschaftlich-techischen Potenzen China's, die rasch anwachsen, der Vorsprung und damit das Interesse nicht verloren geht. Ähnliches gilt für die Raumfahrttechnik und andere Hightech-Bereiche, für die natürlich auch westliche Konkurrenten ebenso wie bei der Militärtechnik um den Zuschlag kämpfen. In Moskau betrachtet man dies unaufgeregt und investiert seit dem Präsidentenwechsel wieder in diesen Bereich und das in Größenordnungen.

Ein wichtiger Stabilisator ist die einvernehmliche Regelung des Grenzverlaufs (zu 99%) und des Grenzregimes. Was zu Sowjetzeiten nicht für möglich gehalten wurde und nicht gelang, ist - bis auf wenige Ausnahmen (Abgabe einiger Flussinseln an China und deshalb nicht geregelter Grenzverlauf an diesem verhältnismäßig sehr kleinen Abschnitt; die mit Japan strittige Frage der Kurilen-Inseln engt den Handlungsspielraum Russlands hier stark ein) - gelöst. Eine strategisch neue Lage ist entstanden. Die etwa 4.300 km lange Grenze bedeutete –als gute Nachbarschaft fehlte - einen immensen Aufwand für ein zuverlässiges Grenzregime, die Konzentration von Streitkräften. Der Wegfall dieser Belastungen hat für Russland beträchtliche Erleichterungen gebracht.

Die Shanghaier Organisation

Von großer Bedeutung ist auch, dass die neuen Nachbarstaaten Chinas - Kasachstan, Kirgistan und Tadshikistan in die Grenzregelung einbezogen sind, und dass die fünf Staaten die Shanghaier Gruppe zum Schutz ihrer gemeinsamen Interessen in der Region gebildet haben. Mit dieser Vereinigung wächst eine Regionalorganisation mit Zukunft, die weit über die Regelung der Grenzfragen Bedeutung erlangt. Usbekistan hat sich als Vollmitglied angeschlossen. Indien und die Mongolei haben als Beobachter begonnen, aktiv mitzuarbeiten. Dieser Zusammenschluss wird für Russland eine Säule in der Auseinandersetzung mit moslemischen Fundamentalisten und Terroristen in Zentralasien und im Kaukasus und mit deren ausländischen Sponsoren, für die Stabilisierung der Zentralgewalt in Russland generell (Moskau hat sich damit auseinanderzusetzen, dass diese Gefahr nicht nur von der südlichen Peripherie droht, sondern Nährboden ebenso im Zentrum hat, in Tartarstan und Bashikistan vor allem). In Moskau betrachtet man die Abwehr dieser Gefahr, die ja außerdem mit Rauschgifthandel und organisierter Kriminalität in gewaltigen Dimensionen daherkommt, als prioritär in der Asienpolitik. Russland kommt entgegen, dass China durch eigene separatistische Probleme in Tibet, im Nordosten und durch die Taiwan-Frage sicher für lange Zeit an der Kooperation mit Russland interessiert ist und es auch künftig international unterstützen wird (Vorgehen in Tschetschenien, gegenüber Afghanistan). In Moskau weiß man zu schätzen, dass China die russischen Bemühungen, seine staatliche Einheit und territoriale Integrität zu sichern und den Staat zu stärken, begrüßt, in Peking, dass Russland mit Jelzin-Ukas von 1992 sich verpflichtet hat, keine offiziellen Beziehungen mit Taiwan herzustellen und China in der sogenannten Menschenrechtsfrage zur Seite steht.

Russland und China treten nachdrücklich für eine multipolare Welt ein und fördern die Kooperation mit Indien, eine Triade bildet sich heraus. Sie weisen die hegemonialen Ansprüche der USA zurück. Sie wenden sich konsequent gegen die USA- Pläne zur Schaffung eines neuen Anti-Raketen-Systems. Die russische Verurteilung der NATO-Osterweiterung wird mitgetragen, gemeinsam engagierte man sich gegen den NATO-Krieg in Jugoslawien und die Verletzung des Völkerrechts und der UNO-Charta, gegen die Terrorakte der USA im Irak. Gemeinsam will man die Stärkung der UNO und in jedem Fall die Beibehaltung des Veto-Rechts im Sicherheitsrat.

Das russische Streben nach Akzeptanz seines Status als eine Weltmacht seitens der westlichen Länder erfährt durch das chinesische Agieren Auftrieb. Die Partnerschaft erhöht das Gewicht Russlands gegenüber Japan und den USA, aber auch in Europa.

Die heutige gegenseitige Interessenlage ist für den überschaubaren Zeitraum eine solide Grundlage, die eine weitere Ausgestaltung der Beziehungen möglich macht. Und beide Partner wollen das. Das vergangene Jahr hat das unter Beweis gestellt. Aber es gibt auch eine andere Seite: teilweise gravierende Unterschiedlichkeiten und anders geartete Interessenlagen, wodurch Probleme, gar Konfliktsituationen gegeben sind oder entstehen können.

Allein ein Blick auf die geografische und demografische Situation vermittelt eine ungefähre Vorstellung davon. Auf der einen Seite rasanter Wirtschaftsaufschwung mit Zuwachsraten, die dem Westen Furcht einflößen, auf der anderen hat man gerade erst den freien Fall in Zerstörung und Chaos gestoppt und erste Anzeichen für eine Stabilisierung erreicht. Die Entwicklungsschere, selbst bei optimistischer Prognose wird noch längere Zeit weiter auseinandergehen.

Wird es auch künftig gelingen, das gewaltige demographische Übergewicht Chinas in dieser Region unter Kontrolle zu behalten. Unter der russischen Bevölkerung gibt es im Prinzip Verständnis dafür, dass gute Beziehungen mit China für Russland lebensnotwendig sind. Aber der Alltag ist komplizierter. Alte, tief sitzende Ressentiments kommen wieder zum Vorschein und vergällen die Atmosphäre. Regionalpolitiker, auch hohe Militärs waren und sind versucht, dies aus sehr unterschiedlichen Motiven heraus zu instrumentalisieren. Das wird unter Putin schwieriger, aber das Problem bleibt ernst. Wichtig für Moskau, dass auch die chinesische Seite sich für Beruhigung und Ausgleich stark macht. Aber was passiert, wenn in Folge der umfangreichen Privatisierungsmaßnahmen in China die Zahl der Arbeitssuchenden drastisch wächst und die Gegenmaßnahmen nicht ausreichend greifen. Wird die Interessenübereinstimmung auch künftig so stark sein, dass vielleicht sogar ein visionelles Jahrhundertprojekt einer gemeinsamen, friedlichen Nutzung des riesigen, jetzt fast menschenleeren ostsibirischen Raumes verwirklicht werden kann, die Umsiedlung einer großen Zahl chinesischer Bürger eingeschlossen?

Chinas Interessen leiten sich vor allem aus asiatisch-pazifischen Gegebenheiten ab, Russland ist auch ein asiatisches Land( und wird es auch bleiben ), aber vor allem ein europäisches. Die konsequente Befolgung eines realpolitischen, pragmatischen Kurses führte dazu, dass unter Putin( vorher schon mit Primakow ) Europa, das Verhältnis zur EU/Deutschland erste Priorität erlangt hat.

Unterschiedliche Interessen in Asien

Natürlich ist Peking nicht entgangen, dass Russland gute Beziehungen zu Japan nicht nur zur Stärkung Russlands, zum Ausbau des wirtschaftlichen und wissenschaften Potentials, vor allem im Fernen Osten braucht, sondern auch zum Ausbalancieren des Schwergewichts China. Nicht entgangen ist natürlich ebenso das russische Dilemma in der Inselfrage, was es Russland im überschaubaren Zeitraum nicht gestattet, mit Japan eine Lösung für die Kurilenfrage auszuhandeln. Aber das ist die Voraussetzung für den an und für sich von beiden Seiten angestrebten Durchbruch in den Beziehungen, der als Nebenprodukt Japan größeren Spielraum gegenüber den USA geben würde (was nun wiederum ebenso China entgegenkommen könnte).

China dürfte mit großer Wachsamkeiten verfolgen, dass Russland auch in den Beziehungen mit Indien, Vietnam, den beiden koreanischen Staaten und der Mongolei sehr aktiv geworden ist, also in besonderen Interessensphären Chinas.

Die Beziehungen zu Indien, die sich in beiden Ländern auf traditionell freundschaftliches Wohlwollen stützen können, sind das zweite Standbein russischer Asienpolitik.

„Der Staatsbesuch des russischen Präsidenten Wladimir Putin vom 2. bis 5. Oktober 2000 in Indien könnte den bilateralen Beziehungen durch die vereinbarte strategische Partnerschaft zwischen Moskau und New Delhi eine qualitatv neue Dimension hinzufügen“( Dr. Voll, Vertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Delhi, 9.10.2000 ). Indien, das einmal der wichtigste Partner der Sowjetunion war, hatte nach deren Zerfall beträchtliche Mühe, die erforderliche radikale Kurskorrektur zu vollziehen. Mit dem Russland unter Jelzin kam es zu einem sehr ambivalenten, störungsanfälligen Verhältnis. Beide Seiten waren in den neunziger Jahren gezwungen, sich vor allem auf den Abbau der Erblasten und die belastende Verrechnung von Ansprüchen zu konzentrieren, die insbesondere Russland geltend zu machen hatte. Und das waren keine „peanuts“.

Putin hat nun eine neue Seite im russisch-indischen Verhältnis aufgeschlagen. Das Abkommen über strategische Partnerschaft reflektiert nationale Interessen als Reaktion auf Globalisierung und wachsenden Wettbewerb in wirtschaftlichen, technologischen und wissenschaftlichen Sphären, aber auch im militärischen Bereich.

Das Abkommen ist auf gemeinsame Interessen in Zentralasien, die verstärkte Zusammenarbeit in der Terrorismusbekämpfung gerichtet. Putin sieht in Indien einen Mitstreiter im Kampf gegen den internationalen Terrorismus und Fundamentalismus und betont die russische Anerkennung der Line of Control in Kaschmir. Die indische Seite unterstreicht, dass Russlands Probleme in Tschetschenien und diejenigen Indiens in Kaschmir sich aus der selben Quelle speisen. Beide Seiten gehen davon aus, dass die Intensivierung der russisch-indischen Beziehungen weder die wachsende Annäherung zwischen Indien und den USA noch die Arbeitskontakte zwischen Moskau und Islamabad, die den Wandel der russischen Politik gegenüber Südasien insgesamt verdeutlichen, beeinträchtigen. Zugleich sind sich beide Länder einig gegen eine unilare, für eine multipolare Weltordnung. Übereinstimmung besteht in der Ablehnung des NATO-Krieges gegen Jugoslawien und der Verletzung von Völkerrecht und UN-Charta. Russland unterstützt Indiens Wunsch, ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates zu werden.

In Tamil Nadu wird mit russischer Hilfe ein Atomkraftwerk mit 2000 MW gebaut. Es sollen Gemeinschaftsunternehmen in den Bereichen Informatik, Mikroelektronik, Wasserkohlenstoff- und Ölerforschung, Thermalenergie, Metallurgie, Pharmazeutik und Biotechnlogie geschaffen und gefördert werden

Präsident Putin versucht, unter Jelzin abgebrochene bzw. vernachlässigte Verbindungen zu reaktivieren. Dabei beeindruckt Moskau wenig, dass sich darunter auch von den USA als „Schurkenstaaten“/“Problemstaaten“ denunzierte Länder gehören. Die Aktivitäten gegenüber Nordkorea und Iran, die konsequente Zurückweisung des Vorgehens der USA gegen den Irak sind treffliche Beispiele dafür.

Wenige Wochen vor dem ersten russisch-amerikanischen Gipfel nach dem Präsidentenwechsel in Washington wurden mit dem „Erzfeind“ der USA, Iran, Waffenlieferungen im Werte von jährlich 300 Mio.$ vereinbart. Den Protest des Weißen Hauses wies Außenminister Iwanow postwendend zurück. Angeboten wurde der Bau weiterer Kernkraftwerke. Sehr wichtig ist, dass das Einvernehmen hinsichtlich der Kaspi-Problematik vertieft wurde, Moskau kam der iranischen Führung in der Frage der endgültigen Grenzziehung (faktisch Aufteilung der Erdölgründe; Aufschub bis zu einer völkerrechtlich verbindlichen Regelung) entgegen, beide Seiten sprachen sich klar und deutlich gegen die militärische Präsenz von Nichtanrainerstaaten, also gegen entsprechende Ambitionen und Aktivitäten der USA und NATO aus. Putin sprach gar von einem „zweiten Frühling“ in den Beziehungen mit dem Iran.

Mit dem Besuch des russischen Präsidenten wurden den Beziehungen mit Vietnam starke Impulse vermittelt. Die Auslandsschulden sollen nicht zurückgezahlt, sondern in Form von Beteiligungen russischer Firmen an Industrieprojekten umgesetzt werden, so im gemeinsames Unternehmen „Vietsawpetro“, das 80% der Erdölförderung Vietnams bringt und dem russischen Budget jährlich etwa 300 Mio.$ zuführen soll. Vorgesehen ist der Bau eines Erdölverarbeitungswerkes. In diesem pragmatischen Sinne wurde in Vietnam eine „Deklaration über strategische Partnerschaft“ unterzeichnet. Vietnam als Mitglied der ASEAN kann für Russland zum Mittler in der Region werden, wobei vor allem die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Unternehmen aus diesen Ländern gefördert werden kann.

Putin hob hervor, dass den etwa 200.000 Absolventen sowjetischer/russischer Hochschulen, die gegenwärtig in Vietnam, Laos und Kambodscha leben, große Bedeutung bei der Vertiefung der Beziehungen zukommt.

* Wolfgang Grabowski, Berlin, Botschafter a.D., Rosa-Luxemburg-Stiftung


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