Putin besteht auf nuklearer Parität
Misstrauen zwischen Moskau und Washington ist nicht überwunden
Von Irina Wolkowa, Moskau *
Russlands Regierungschef Wladimir Putin, in einer Umfrage gerade wieder
als populärste Persönlichkeit in seiner Heimat - mit einigem Vorsprung
vor Präsident Dmitri Medwedjew - ausgemacht, will die Entwicklung
eigener Offensivwaffen vorantreiben. Angesichts laufender
Abrüstungsverhandlungen überraschte diese Ankündigung im Westen.
Russland müsse offensive Waffensysteme entwickeln, um den
US-amerikanischen Plänen für eine Raketenabwehr etwas entgegensetzen zu
können. Anderenfalls, so sagte es Premier Wladimir Putin am Dienstag im
fernöstlichen Wladiwostok gegenüber der Nachrichtenagentur ITAR-TASS,
würden »unsere Partner sich mit einem derartigen Schirm vollkommen
sicher fühlen und machen, was sie wollen, wodurch das Gleichgewicht
zerstört wäre«.
Westliche Politiker waren unangenehm berührt, russische Experten wie
Sergej Rogow, Chef des USA-Kanada-Instituts, nicht einmal überrascht.
Damit die nukleare Abschreckung funktioniert, müsse, wenn eine Seite
(die USA) ihre Raketenabwehr verstärkt, die andere (Russland) ihre
Angriffswaffen aufstocken. Den Zusammenhang zwischen Offensiv- und
Defensivwaffen, erklärte Rogow in einem Rundfunkinterview, hätten die
Sowjetunion und die USA bereits vor vierzig Jahren festgestellt, als die
Verhandlungen über Rüstungskontrolle begannen. Die Begründung lautete:
Strategische Raketenabwehr leistet einem Präventivschlag Vorschub, weil
sie mit der »Antwort« des dergestalt geschwächten Gegners problemlos
fertig würde. Eben deshalb habe Russland sich 2002 mit Händen und Füßen
gegen den von den USA beschlossenen einseitigen Austritt aus dem 1972
von beiden Seiten geschlossenen ABM-Vertrag zur Begrenzung der
strategischen Raketenabwehr gesperrt. Das dadurch entstandene
juristische Vakuum müsse Moskau daher in einem Folgeabkommen für den
Anfang Dezember ausgelaufenen START-1-Vertrag zur Begrenzung
strategischer Offensivwaffen ausgleichen. Durch juristisch wasserdichte
Formulierungen. Washington dagegen will dazu nur Allgemeinplätze. Vor
allem deshalb tritt die letzte Runde der Verhandlungen über ein
Nachfolgeabkommen für START 1 seit Wochen auf der Stelle.
Als weltweit größte Atommächte sind Russland und die USA jedoch zum
Kompromiss verdammt, um den Kernwaffensperrvertrag und die dazu für Mai
geplante zweite Verifizierungskonferenz zu retten. Denn die erste
scheiterte vor allem an Differenzen zwischen Moskau und Washington.
Sergej Rogow schließt deshalb nicht aus, dass beide sich 2010 über eine
Zusammenarbeit bei der Raketenabwehr bis hin zu einer Beteiligung
Moskaus an dem modifizierten Schild, dessen Installierung Barack Obama
für die Zeit nach 2015 plant, verständigen werden. Denn dessen Kernstück
sind flexible, seegestützte Systeme zur Abwehr von Kurz- und
Mittelstreckenraketen. Die aber nimmt Moskau, das taktische Kernwaffen
an seinen Westgrenzen eingemottet hat, als Bedrohung wahr. Diese
Materie, glaubt Rogow, könne jedoch nicht im START-Folgeabkommen
geregelt werden, weil es dort nur um Langstreckenraketen geht. Gebraucht
werde vielmehr ein neuer ABM-Vertrag.
Unabhängige Militärexperten wie Alexander Goltz erklären Putins
Wladiwostoker Erklärung allerdings nicht mit Sicherheits- sondern mit
übergeordneten Interessen Russlands. Moskau wie Washington hätten bis
zum erfolgreichen Ende der START-Folgeverhandlungen strikte Funkstille
zu Verlauf und Differenzen vereinbart. Der Grund ist das Misstrauen, das
trotz des vereinbarten Neustarts in den bilateralen Beziehungen nicht
überwunden ist. Putins Äußerungen würden es neu befeuern, die
Verhandlungen würden sich dadurch in die Länge ziehen und das sei
durchaus beabsichtigt. Je länger das Gezerre um Obergrenzen für
Sprengköpfe oder Kontrollmechanismen nämlich dauert, desto länger könne
Moskau Washington und dem Rest der Welt beweisen, dass Russland erneut
zu ähnlicher Stärke wie die Sowjetunion aufgelaufen ist. Das, sagt
Goltz, würde auch perfekt zu der noch von Putin als Präsident in Kraft
gesetzten Konzeption der erweiterten Abschreckung passen. Diese
Konzeption erklärt die nukleare Parität zur Voraussetzung dafür, dass
Moskau auch wirtschaftliche und außenpolitische Probleme - vor allem,
was die Beziehungen zu den anderen UdSSR-Nachfolgestaaten angeht - mit
größtem Gewinn für Russland lösen kann.
* Aus: Neues Deutschland, 31. Dezember 2009
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