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Schatten der Gewalt

Auch mehr als zwanzig Jahre nach dem Genozid sind die Ereignisse in Ruanda präsent. Das kleine Land in Ostafrika pendelt zwischen Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte und der Verdrängung von deren Auswirkungen

Von Simon Loidl *

Hinter den letzten Hügeln, auf denen sich Kigali ausbreitet, beginnt eine tropisch-grüne Ebene. Die Straße führt über den Nyabarongo, einen der Quellflüsse des Nils, der ruhig durch die sumpfige Landschaft südlich der ruandischen Hauptstadt fließt. Die idyllische Umgebung gibt keinen Hinweis auf die Ereignisse des Jahres 1994, als unzählige Menschen von den Interahamwe-Milizen hier ins Wasser geworfen wurden – lebende wie bereits ermordete.

Der Bus fährt bis Nyamata, eine etwa 30 Kilometer südlich von Kigali gelegene Stadt mittlerer Größe. Die Frage nach der Kirche von Nyamata beantwortet einer der Buspassagiere mit dem Hinweis, dass es dort mehrere Kirchen geben würde; auch die Präzisierung der Frage nach einer Gedenkstätte führt zu keiner Antwort. Obwohl es in dem kleinen Land 20 Jahre nach dem Genozid viele Orte des Erinnerns und ein modernes Museum zu den Ereignissen gibt, ist der Umgang damit alles andere als selbstverständlich. Dafür sind die Greueltaten noch zu präsent.

Am zentralen Busbahnhof von Nyamata warten, wie in allen ostafrikanischen Städten, Dutzende »Boda-boda« genannte Motorradtaxis auf Kundschaft. Ein Fahrer weiß Bescheid. Die Kirche steht in einem Vorort von Nyamata. Für umgerechnet knapp 40 Eurocent fährt er zur Nyamata Church – jenem Gotteshaus, in dem im Frühjahr 1994 mehrere tausend Menschen umgebracht wurden. Der Guide bei der Kirche, die nunmehr als Erinnerungsstätte dient, bittet um einige Minuten Geduld und verschwindet mit drei Besucherinnen hinter dem Kirchengebäude. Eine Polizistin sitzt vor dem Eingang zur Gedenkstätte und blickt gelangweilt ins Leere. Leise treten wir in den Innenraum. Der Anblick ist erschütternd und verwirrend. Berge schmutziger Kleidung türmen sich auf den Kirchenbänken. An einem Ende des Gotteshauses liegen Knochen. In einem tiefer liegenden, hell beleuchteten Raum sind Schädel aufgeschichtet.

Nach etwa zehn Minuten kommt die kleine Gruppe mit dem Guide zurück, der sich von seinen Zuhörern verabschiedet. Er begrüßt uns und beginnt seine kurzen Ausführungen. Die Überreste von mehr als 45.000 während des Genozids Ermordeten sind im Nyamata Memorial zur letzten Ruhe gebettet – mehr als 10.000 wurden in der Kirche und in deren unmittelbarer Umgebung ermordet. Viele waren vor ihren Schlächtern in das Gotteshaus geflohen, doch es bot ihnen keinen Schutz.

Wir hören still zu. Das Grauen ist durch die unzähligen Kleidungsstücke der Opfer präsent. Hinter der Kirche befindet sich ein Massengrab, ein kleiner Teil davon ist offen. Der Guide führt uns hin. Wir stehen in einem engen Gang, in dem Särge, Knochen, Schädel fein säuberlich aufgereiht sind. Nach wenigen Augenblicken steigen wir die steilen Stufen hinauf ins Freie. Der Guide bittet uns, den eben gewonnenen Eindruck niemals zu vergessen und auch anderen davon zu erzählen. Die Geschichte der Ereignisse des Frühjahrs 1994 müssen überall auf der Welt erzählt werden, mahnt er. Wir gehen noch ein paar Schritte auf dem Gelände.

Orte des Mahnens

Anschließend fahren wir mit dem Boda-boda weiter nach Ntarama. Das Dorf liegt zwischen Nyarama und Kigali. Auch hier steht eine Kirche, in der 1994 ein Massaker stattgefunden hat und die heute ein Ort des Mahnens ist. Ein weiterer von vielen; mehr als 400 Genozidgedenkstätten gibt es in Ruanda, erklärt die Betreuerin derjenigen von Ntarama. Die Nebengebäude der Kirche wurden nach dem Massenmord nicht verändert. In den Wänden sind Einschlusslöcher zu sehen. Teile einer Hausmauer sind eingestürzt. Die Angreifer gingen mit Granaten gegen die in die Kirche Geflohenen vor. In einem Regal liegen persönliche Gegenstände der Opfer – Brillen, Bücher, Kugelschreiber. Und wieder Berge von Kleidungsstücken. Wir gehen über das auf einem Hügel gelegenen Areal. Die Gedenkstättenbetreuerin zeigt auf eine Fackel in einem Glaskasten in der Mitte. Die Fackel symbolisiere die Hoffnung auf ein besseres Ruanda. Allerdings sei das Gas zu teuer, um diese Flamme während des ganzen Jahres brennen zu lassen. Nur anlässlich der alljährlichen offiziellen Gedenktage im April werde sie deshalb entzündet. In diesem Monat hatte vor 21 Jahren das Morden begonnen, genaugenommen allerdings schon lange zuvor: Bereits viele Wochen vor dem April 1994 war es immer wieder zu Massakern und Übergriffen gegen die Volksgruppe der Tutsi gekommen. Zeitungen und Radiosender hatten eine Pogromstimmung angeheizt, die im Frühling dann eskaliert war.

Am 6. April 1994 wurde ein Flugzeug, in dem der ruandische Präsident Juvénal Habyarimana und sein burundischer Amtskollege Cyprien Ntaryamira saßen, beim Landeanflug auf Kigali abgeschossen. Bis heute ist unklar, wer für das Attentat verantwortlich ist, bei dem alle Insassen des Flugzeuges getötet wurden. Radikale aus dem Hutu-Volk behaupteten, Tutsi-Rebellen von Paul Kagames Ruandischer Patriotischer Front (RPF) hätten den Hutu-Präsidenten Habyarimana getötet. Ebenso plausibel ist jedoch die Version, dass Teile der Armee den Anschlag durchführten, die Friedensverhandlungen zwischen Habyarimana und der RPF zur Beendigung des seit 1990 währenden Bürgerkriegs ablehnten. Fest steht, dass noch in derselben Nacht die Massenmorde an Tutsi und oppositionellen Hutu begannen. Mitglieder der Präsidentengarde, Soldaten, Polizeiangehörige und Hutu-Milizen begannen ihren Feldzug zunächst nach bereits zuvor angefertigten Listen, auf denen zu beseitigende Personen standen. Im Verlauf der folgenden Wochen breitete sich die Gewalt aber über das ganze Land aus. Wahllos wurden Zehntausende Kinder, Frauen und Männer erschlagen.

Gleichzeitig nahm auch die RPF ihren Kampf wieder auf und konnte Anfang Juli 1994 die Armee aus der Hauptstadt vertreiben. Der Widerstand gegen den Völkermord vermischte sich mit dem Aufstand der Rebellen, was zu merkwürdigen Konstellationen führte. So erzählten viele später zurückgekehrte Tutsi, dass sie zusammen mit den Mördern ihrer Angehörigen aus Ruanda geflohen seien, da sie nicht wussten, was das Vorrücken der RPF mit sich bringen würde.

Die Ursprünge des Konflikts zwischen Hutu und Tutsi gehen – wie so viele Konflikte des afrikanischen Kontinents – auf die Zeit der europäischen Kolonialherrschaft zurück. Die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert nach Ostafrika vordringenden deutschen Kolonialisten interessierten sich als erste für die Unterschiede zwischen den auf dem Gebiet des heutigen Ruanda heimischen Bevölkerungsgruppen. Die soziale Differenzierung der miteinander lebenden Ethnien führten die Deutschen auf »rassische« Unterschiede zurück. Die zumeist den höheren Schichten angehörenden Tutsi wurden als den Europäern verwandt eingestuft und gegenüber den Hutu bevorzugt. Soziale und ethnische Unterschiede wurden von den Kolonialherren gnadenlos in »Rasse«-Kategorien übersetzt und zur Spaltung der indigenen Gesellschaft verwendet. Die nach dem Ersten Weltkrieg nachrückenden belgischen Besatzer übernahmen die von den Deutschen etablierten Kategorien und bevorzugten jahrzehntelang die Tutsi.

Erst mit dem Beginn der Entkolonialisierung änderte sich dies – im Lauf der 1950er Jahre war eine Hutu-Führungsschicht entstanden. Diese konnte die Machtkämpfe, die mit der im Juli 1962 offiziell erlangten Unabhängigkeit einhergingen, für sich entscheiden. Die belgischen und französischen Neokolonialherren wechselten einfach die Seiten und unterstützten jetzt die so lange unterdrückten Hutu. Statt einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit den durch die Europäer eingeführten Ungerechtigkeiten folgten nun Jahre der Diskriminierung von Tutsi – und immer wieder auch Massaker an den Angehörigen dieser Ethnie. Aus dieser repressiven Politik erwuchs schließlich der Widerstand von Tutsi-Gruppen – 1990 brach der Bürgerkrieg aus. Die RPF zwang durch ihre militärischen Erfolge die Regierung an den Verhandlungstisch. Gleichzeitig war aber die »Hutu-Power«-Bewegung entstanden, die eine endgültige Vertreibung der Tutsi aus Ruanda anstrebte. Ihr zentraler ideologischer Bestandteil war die Vorstellung, dass die Hutu von den nach der Macht strebenden Tutsi bedroht seien und sich gegen diese zur Wehr setzen müssten. Die Zeitung Kangura oder der Radiosender Radio-Télévision Libre des Mille Collines standen an vorderster Front bei der Hetze gegen Tutsi und Oppositionelle. Anfang der 1990er Jahre wurde die Interahamwe-Miliz gegründet, die von den Sicherheitskräften unterstützt wurde. Zehntausende junge Männer lernten dort, mit primitiven Waffen wie Knüppeln und Macheten Menschen zu erschlagen.

Das ganze Ausmaß der Ereignisse vom Frühjahr und Sommer 1994 in Ruanda ist bis heute nicht geklärt. Zwischen 800.000 und einer Million Menschen sollen in dem kleinen Land ermordet worden sein, in dem heute etwa 11,5 Millionen Menschen leben. Wenige Monate nach dem Ende der Greueltaten begannen die Überlebenden und die zurückkehrenden Flüchtlinge, Erinnerungsstätten einzurichten. Die in den Feldern und auf den Straßen verwesenden Leichen wurden geborgen, gewaschen und in Massengräbern beerdigt. Die Orte des Grauens wurden in Orte des Erinnerns verwandelt. Viele menschliche Schädel und Gebeine wurden nicht beerdigt, sondern aufgebahrt – eine für europäische Touristen bizarr wirkende Form der Bestattung, die an mittelalterliche Beinhäuser erinnert. Allerdings verirren sich ohnehin nur wenige ausländische Besucher in die Gedenkstätten Ruandas. In diese Region Afrikas kommen sie, wenn überhaupt, vor allem wegen der Gorillas und Schimpansen, die es in den Wäldern im Nordwesten des kleinen Landes zu sehen gibt. Diese Naturromantik wollen sie sich nicht durch eine Auseinandersetzung mit den hässlichen Seiten der jüngsten Geschichte verderben lassen.

Dabei ist diese Geschichte noch lange nicht zu Ende. Der Genozid in Ruanda löste bewaffnete Auseinandersetzungen in anderen Ländern der Region – insbesondere in der benachbarten Demokratischen Republik Kongo – aus, die Millionen weitere Todesopfer forderten. Im Februar dieses Jahres flammten die Kämpfe in Ostkongo erneut auf. Bis heute operieren in den dichten Regenwäldern der Grenzregion die »Demokratischen Kräfte zur Befreiung Ruandas« (FDLR). Die Gruppe besteht zu einem wesentlichen Teil aus Hutu, die nach dem Sieg der RPF aus Ruanda geflohen waren. Die Aktivitäten von Hutu-Milizen, deren Angehörige am Genozid beteiligt waren, dienten zudem Ruanda unter der Präsidentschaft Paul Kagames immer wieder als Vorwand, im Osten des Kongo militärisch einzugreifen und Präsenz zu zeigen. Dabei dürfte es nicht immer nur um die Zurückdrängung von Hutu-Milizen gegangen sein. Viele Kenner der Region gehen davon aus, dass dem wirtschaftlichen Aufschwung Ruandas während der vergangenen zwei Jahrzehnte der illegale Abbau und Verkauf von Rohstoffen aus dem Osten des Kongo zugrunde liegt. Die mutmaßliche Unterstützung von dort aktiven Rebellengruppen wie der M23 durch Kigali ist in Zusammenhang mit diesen Aktivitäten zu sehen.

Im Genocide Memorial Centre in der ruandischen Hauptstadt ist über diese aktuellen Zusammenhänge freilich nichts zu erfahren. Die staatlich kontrollierte Aufarbeitung der Geschichte lässt dies nicht zu. Dennoch ist das dortige Museum sehenswert; die 2004 anlässlich des zehnten Jahrestages des Völkermordes eröffnete Ausstellung rekonstruiert die Vorgeschichte der Ereignisse. Mit einer ausgewogenen Mischung aus historischer Erzählung, Dokumenten und Augenzeugenberichten ist es den Gestaltern gelungen, die Monstrosität des Massenmordes greifbar zu machen. Das Museum ist aber nur ein Teil der Gedenkstätte. Auch an diesem Ort sind Tausende Menschen in Massengräbern bestattet. Auf den Betonflächen der Gräber legen Besucher Rosen nieder. Neben dem Museum gibt es mehrere thematisch gestaltete Gärten zu »Zwietracht« oder »Versöhnung«, welche die gewaltvolle Geschichte des Landes symbolisieren. Ein kleiner künstlicher Bach plätschert durch die Anlage.

Zu Fuß gehen wir ins das etwa drei Kilometer von der Gedenkstätte entfernte Zentrum von Kigali zurück. Auf der Straße marschiert eine Kolonne Soldaten. Auch auf Kreuzungen der Hauptstadt sind stets Armeeangehörige präsent, in der Nacht patrouillieren sie durch die Straßen. Auch mehr als zwanzig Jahre nach dem Genozid liegen die Schatten der Gewalt über Ruanda.

* Aus: junge Welt, Samstag, 6. Juni 2015


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