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"Wir sind eine US-Kolonie"

Das populäre Rapduo "Calle 13" aus Puerto Rico hat einen Song herausgebracht, bei dem auch die Stimme von Julian Assange zu hören ist. Ein Gespräch mit René Pérez *


Am 13. November erschien »Multi Viral«, der neueste Titel von »­Calle 13«. Darin ist die Stimme von Wikileaks-Gründer Julian Assange zu hören, der sagt: »Wir leben in einer Welt, die aus eurer Propaganda besteht. In der ihr euch für stark haltet, aber schwach seid. Eure Lügen erzählen uns die Wahrheit, die wir gegen euch wenden. Euer Geheimhaltungswahn zeigt uns, wo wir zuschlagen müssen. Eure Waffen führen uns allen eure Angst vor Augen. Von Kairo bis Quito entsteht eine neue Ordnung: Die Macht des Volkes, bewaffnet mit der Wahrheit.« Außer Julian Assange wirkten auch Tom Morello von »Rage Against the Machine« und die palästinensische Sängerin Kamilya Jubran mit. Am 15. November interviewten Amy Goodman und Juan Gonzales für das US-Internetradio Democracy Now! René Pérez von »Calle 13«:


Amy Goodman: Wie kam es dazu, »Multi Viral« mit Julian Assange zu machen?

Nun, es war ein wenig schwierig, das hinzukriegen. Aber am Ende haben wir es geschafft, und ich habe Julian getroffen. Er ist ein echt cooler Typ und sehr nett. Bevor ich ihn besuchte, hatte ich die ganze Presse gelesen, und die schrieben, er sei arrogant ist, aber in Wirklichkeit ist er echt nett. Er war sehr offen für eine Zusammenarbeit mit uns. Also machten wir uns in der ecuadorianischen Botschaft in London, in der Julian seit Juni 2012 politisches Asyl genießt, ans Werk. Zuerst haben wir eine Menge Leute interviewt, und dann haben wir auf der Basis ihrer Antworten den Song geschrieben. Konkret habe ich den Leuten E-Mails geschickt, und die haben uns darauf ein paar Worte zurückgeschrieben. Die habe ich dann wie ein Puzzle zusammengesetzt, um den Song zu bauen. Am Ende war der Text so etwas wie die Stimmen aus dem Volk. Deshalb steht der Song auch frei zum Herunterladen im Netz, weil er fürs Volk ist.

Juan Gonzales: Ihre Band hat einen erstaunlichen Aufstieg hingelegt, was die Popularität betrifft, die Sie in kurzer Zeit erreicht haben. Aber Sie haben von Anfang an sehr politische Songs gemacht. Warum hielten Sie das für notwendig?

Das lag nahe. Ich bin umgeben von Politik. Zunächst mal komme ich aus Puerto Rico, wir sind eine Kolonie der USA, da ist man sowieso schnell mittendrin in der Politik. Deshalb hieß unser erster Song auch »Querido F.B.I.«, also »Liebes F.B.I.«. Im Text geht es darum, daß die US-Bundespolizei Filiberto Ojeda Ríos umgebracht hat. Das fand ich so daneben, so ungerecht, und da hab’ ich das einfach so runtergeschrieben. Ganz entscheidend ist für uns als Gruppe die Mischung. Wir hatten zuvor »Atrévete!« (»Trau dich!« – d. Red.) gemacht, das ist einfach ein Lied, das gute Laune verbreitet, und dann haben wir »Querido F.B.I.« rausgebracht. Weil wir auf diese Weise eine Balance halten, stecken uns die Leute nicht in eine bestimmte Schublade. (…)

Amy Goodman: Ich würde gern noch mal auf Filiberto Ojeda Ríos zurückkommen. Er war die führende Figur des Kampfes um die Unabhängigkeit Puerto Ricos und gegen die US-Kolonialherrschaft und wurde vom FBI seit 1983 wegen seiner Rolle bei einem Überfall auf eine Geldtransportfirma gesucht. 2005 erschossen ihn FBI-Agenten in Puerto Rico, nachdem sie das Haus, in dem er wohnte, umzingelt hatten. Die Autopsie ergab, daß der 72jährige von einer einzigen Kugel getroffen worden war und verblutete, weil die Polizisten noch Stunden warteten, bis sie in das Haus eindrangen. Ursprünglich hatte Ojeda Ríos das »Movimiento Independentista Revolucionario Armado« (MIRA – Bewaffnete Revolutionäre Unabhängigkeitsbewegung – d. Red.) gegründet, später dann die Ejército Popular Boricua (Volksarmee Boricua), genannt »Los Macheteros«. Was hat Sie an diesen Ereignissen so inspiriert, daß Sie daraus den Song »Dear F.B.I.« machten?

Zunächst empfand ich nur Trauer. Auch deshalb, weil der Tag, an dem das FBI Filiberto umbrachte, der einzige Tag ist, den wir als unseren »Tag der Freiheit« feiern. An diesem denkwürdigen Tag unserer Geschichte als Puertoricaner waren wir wenigstens für acht Stunden einmal frei. (Jährlich erinnert die Unabhängigkeitsbewegung am 23. September an den »Grito de Lares«, den »Aufschrei von Lares«, zum Gedenken an den Aufstand gegen die spanische Kolonialmacht im Ort Lares am 23. September 1868 – d. Red.) Die haben Filiberto genau an unserem Feiertag erschossen, um uns damit eine Botschaft zu schicken: Da habt ihr euren Acht-Stunden-Freiheitstag; wir legen ihn genau an dem Tag um! Aber wen kümmerte das? Viele glaubten der Propaganda, daß da ein »Terrorist« erschossen wurde. Das ging mir an die Nieren. Deshalb habe ich noch am selben Tag den Song geschrieben und ihn bei Indymedia Puerto Rico gepostet. Das Problem war, daß wir parallel »Atrévete« gemacht hatten und kurz davor standen, einen Vertrag mit einem Independent Label zu unterzeichnen. Die vom Label haben dann plötzlich kalte Füße gekriegt, weil in Puerto Rico normalerweise niemand so etwas öffentlich anspricht. Wenn du dich nämlich traust, offen über die Unabhängigkeit Puerto Ricos zu reden, dann gehörst du zu einer Minderheit und kriegst den Wind von vorn. Aber diesmal war es anders, weil die Leute den Song mochten. Es war das erste Mal, daß die Leute im Barrio, im Viertel, anfingen, sich solche Songs anzuhören. Darüber war ich sehr froh. (…)

Amy Goodman: Es wurde in den letzten Monaten viel über Dokumente berichtet, die der NSA-Whistleblower Edward Snowden veröffentlicht hat. Daraus geht auch hervor, daß die NSA und die CIA die nahe der puertoricanischen Hauptstadt San Juan gelegene US-Marinebasis Sabana Seca (inzwischen geschlossen – d. Red.) zu einer gemeinsamen Operation nutzten, mit der die Satellitenkommunikation mit anderen NSA-Teams in Brasilien, Bogotá, Caracas, Mexico City und Panama City überwacht wurde. Sie haben sich sehr engagiert in der Unterstützung von Snowden, beispielsweise haben Sie gerade einen Tweet losgeschickt, daß Sie einen Prominenten suchen, der kostenlos einen Jet zur Verfügung stellt, mit dem Sie Edward Snowden gern ins Asyl nach Lateinamerika bringen würden. Warum ist Ihnen das wichtig? Und wie finden Sie es, daß die USA Puerto Rico als Basis für ihre Spionage nutzen?

Als Puertoricaner schäme ich mich. Ich will nicht, daß die USA uns als Spionagebasis mißbrauchen. Die haben auch Präsident Nicolás Maduro von Venezuela die Überflugrechte verweigert, als er mit seiner Maschine über Puerto Rico fliegen wollte. Zuvor hatten sie ja schon den bolivianischen Präsidenten Evo Morales nicht landen lassen (…). Wenn ich die Möglichkeit hätte, Snowden zu helfen, dann würde ich das tun. Ich halte das, was er macht, für sehr wichtig. Ich bin ein normaler Typ und weiß nicht alles, aber von dem her, was ich weiß, muß ich etwas dafür tun, daß sich die Dinge ändern. Und das müssen wir in ganz Lateinamerika schaffen. (…)

Amy Goodman: René, Ihre Band »Calle 13« hat 19 Latin Grammys gewonnen und damit mehr als jede andere lateinamerikanische Musikgruppe. Auch zwei Grammy Awards wurden Ihnen verliehen. Wird Ihnen Druck gemacht, sich nicht mehr so politisch zu äußern, seit Sie in der kommerziellen Welt Erfolg haben?

Manchmal, aber ich mache einfach, was ich für richtig halte. Wenn etwas falsch läuft und ich das Gefühl habe, etwas dazu sagen zu müssen, dann sage ich es einfach. Manchmal kommen aber auch Fans auf mich zu und machen ein wenig Druck. Sie kommen dann zu mir oder schicken mir E-Mails und sagen: »Rede über dieses Thema, rede über jenes Thema.« Mir kommt das so vor, als wären das Millionen E-Mails. Aber davon fühle ich mich nicht wirklich unter Druck gesetzt, wir halten eine gute Balance. Wir arbeiten mit Tom Morello zusammen, aber eben auch mit Shakira, und so erreichen wir dann auch die Fans von Shakira. (…)

Juan Gonzales: Welche Zukunft haben Ihrer Meinung nach die Jugendlichen in Puerto Rico? Das Land hat im letzten Jahrzehnt viele Leute verloren. Die wirtschaftliche Situation ist so prekär, daß viele die Insel nach dem Collegeabschluß verlassen und in den USA oder anderen Ländern ihr Glück suchen. Wie denken Sie angesichts des ungelösten Problems mit dem Status der Insel über die Zukunft?

Es gib heute eine Menge junge Leute, die sich unserer politischen Situation immer stärker bewußt werden. Aber es gibt auch viele andere, die das leider überhaupt nicht kümmert. Die pennen einfach. Das liegt daran, daß wir seit über hundert Jahren eine Kolonie sind, und was in unseren Schulen über Geschichte vermittelt wird, ist nur die der USA. Wir lernen dort nichts über die eigene Geschichte Puerto Ricos, jedenfalls nur sehr wenig. So wird man abhängig gemacht – dependiente. Und genau da liegt das Problem. Wenn wir es schaffen, Puerto Rico mehr und mehr mit dem übrigen Lateinamerika zu verbinden, dann wird auch das junge Puerto Rico aufwachen.

[Übersetzung: Jürgen Heiser]

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 2. Januar 2014


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