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"El Grito de Lares" - "Der Aufschrei von Lares"

Puerto Rico gedenkt des Aufstandes vom 23. September 1868

Anlässlich des Gedenktages vom 23. September veröffentlichte die junge Welt einen zweiteiligen Artikel von Jürgen Heiser über die Geschichte Puerto Ricos. Wir dokumentieren im Folgenden den Beitrag.


Von Jürgen Heiser

Am vergangenen Wochenende bestieg eine Gruppe Jugendlicher ein Flugzeug auf dem New Yorker Kennedy-Airport mit Ziel San Juan, Hauptstadt der Insel Puerto Rico, knapp dreieinhalb Flugstunden von der nordamerikanischen Ostküste entfernt. Sie bestiegen einen der Flieger, die Tag für Tag neben Touristen vor allem Einwohner aus Hartford, Philadelphia, New York und anderen Städten mit großen puertoricanischen "Communities" zur Insel bringen. Bepackt mit Bergen von Geschenken, Hausrat, Lebensmitteln und allem, was teuer ist auf der Insel, weil es aus den USA importiert werden muß, nehmen sie teil am großen Strom der permanenten Familienzusammenführung. Mittlerweile leben in der sich von New York über Chicago bis Los Angeles ausdehnenden Diaspora ebenso viele Menschen puertoricanischer Abstammung wie auf der Insel selbst - jeweils etwa drei Millionen.

Und wohin fliegt die kleine Reisegruppe, die auffällt, weil sie nicht mit Paketen und Mitbringseln bepackt ist, sondern sich eher auf einem Ausflug zu befinden scheint und Buttons mit der puertoricanischen Fahne und Konterfeis des Unabhängigkeitskämpfers Pedro Albizu Campos trägt? "Wir fliegen in unsere Heimat, weil wir den ›Grito de Lares‹ feiern wollen." Was sie als ›Heimat‹ bezeichnen, kennen nicht alle aus eigener Erfahrung. Aber alle eint, daß sie im Großraum New York geboren sind und die Reise als Delegierte der Puerto Rican Nationalist Youth unternehmen, der Jugendorganisation der kleinen, aber traditionsreichen Partido Nacionalista, gegründet 1923 von dem bereits erwähnten Pedro Albizu Campos, jahrzehntelang von der US-Regierung bekämpft, verboten und wieder auferstanden. In der Kleinstadt Lares am nordwestlichen Fuße der Insel-Kordilleren will die Jugendgruppe mit Einwohnern und den Abgesandten der Unabhängigkeitsbewegung aus allen Teilen der Insel die zentrale Gedenkfeier begehen. Und dort wollen sie stolz berichten, daß sie sich jetzt dafür einsetzen, die verfallende Grabstätte des 1965 nach langer Haft und nicht behandelter Krankheit verstorbenen Campos zu erneuern und dauerhaft zu pflegen.

Machtverlust der Spanier

Am 23. September gedenkt die puertoricanische Unabhängigkeitsbewegung der Ausrufung der ersten Republik der Karibikinsel im Jahr 1868. Sie fand statt in einer Zeit, die den Niedergang der Kolonialherrschaft der spanischen Krone in Süd- und Mittelamerika und die Machtübernahme durch die Vereinigten Staaten von Amerika markiert. Schon um 1810 bröckelte das spanische Kolonialreich. Spanien wollte die Insel Puerto Rico, die seit 1508 ein sicherer Besitz zu sein schien, für militärische Operationen gegen die von Simon Bolivar angeführte Revolution in Venezuela nutzen. Doch unter den Puertorriqueńos regte sich Widerstand. Sie wollten nicht rekrutiert und in den Krieg geschickt werden. Sie wollten ihre Rechte als freie Menschen in einem freien Land. Um nicht den Funken selbst zu schlagen, der das Pulverfaß womöglich zur Explosion gebracht hätte, sah Spanien sich gezwungen, Puerto Rico als Aufmarschgebiet der Konterrevolution in Lateinamerika aus seinen Plänen zu streichen.

Vorausgegangen waren dieser Entscheidung Sklavenaufstände, vereinzelte Erhebungen der Kleinbauern und Tagelöhner sowie eine spürbar wachsende Unzufriedenheit in der kleinen kreolischen Oberschicht der Insel. Sie wollte sich nicht mehr abfinden mit der Allmacht und Selbstherrlichkeit des spanischen Kolonialsystems, das sie von allen Ämtern und von der Teilhabe an der politischen Macht grundsätzlich ausschloß, und strebte die politische Gleichstellung mit den Spaniern an.

Langsam aber sicher griff die Idee der Unabhängigkeit auf der Insel um sich, genährt durch den Befreiungsprozeß in Haiti und im übrigen Lateinamerika, der wie ein Katalysator wirkte. Es gelang schließlich dem Afro-Puertoricaner Ramón Emeterio Betances, die beiden Hauptströmungen zu einer Kraft zu bündeln: die afrikanischen Sklaven, die das jahrhundertealte Joch der Sklaverei abschütteln wollten, und die Independistas, die klare politische Ziele für ein freies Puerto Rico formulierten.

Es waren seine politischen Ideen und vor allem sein klares Eintreten für die Abschaffung der Sklaverei, die Betances zum führenden Kopf der Unabhängigkeitsbestrebungen machten. Er hatte in Frankreich Medizin studiert und war als ausgebildeter Arzt nach Puerto Rico zurückgekehrt. Bekannt wurde er schon 1855 durch seinen selbstlosen Einsatz während einer fürchterlichen Cholera-Epidemie, weil er sich als Arzt für die arme Bevölkerung in der Gegend um die Hafenstadt Mayaguez an der Westküste der Insel einsetzte. Doch weil er nicht davon abließ, Puerto Rico öffentlich eine politische Kur der Abschaffung der Sklaverei zu verordnen, wurde er vom Kolonialregime mehrfach ins Exil getrieben. So am 7.Juni 1867, nachdem eine Artillerieeinheit der spanischen Armee gemeutert hatte, weil die Soldaten in der Kolonie einen geringeren Sold erhielten als ihre Kameraden im spanischen Heimatland. Betances hatte nichts mit dieser Meuterei zu tun, aber sie bot dem spanischen Gouverneur den Vorwand, ihn mit einer Reihe von "Liberalen" und "Separatisten" von der Insel zu jagen. Betances ging zuerst nach New York, von wo aus er eine politische Pilgerfahrt begann, um in der nord- und mittelamerikanischen Region für die Unabhängigkeit Puerto Ricos zu werben. Er blieb schließlich einige Zeit in Santo Domingo, von wo aus er die Fäden zog, um die Kräfte der revolutionären Bewegung zu sammeln und den Befreiungskampf in die Wege zu leiten.

Im Januar 1868 gründeten die Independistas das "Revolutionäre Komitee von Puerto Rico", das fortan als Koordinationsstelle der zahlreichen Geheimgesellschaften fungierte, die überall auf der Insel den Aufstand vorbereiteten. Im Frühjahr 1868 verlegte Betances sein Quartier nach Saint Thomas, der Hauptinsel der Virgin Islands, und verstärkte seine Propagandakampagne, u.a. durch Veröffentlichung seiner legendären Schrift "Die zehn Gebote freier Menschen". Darin forderte er die Abschaffung der Sklaverei, das Selbstbestimmungsrecht über die Verwendung der Steuern, bürgerliche Grundrechte für das Individuum und gesellschaftliche Gruppen wie Religionsfreiheit, Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit und das Recht, Handel betreiben zu dürfen. Außerdem forderte er das Recht für alle Bürger, Waffen zu tragen, wie es weiter nördlich in der ehemaligen Kolonie der englischen Krone üblich war.

Die erste Republik

Das Revolutionäre Komitee und Betances stützten sich vor allem auf Kräfte im Westen der Insel. Zu deren geheimer Führung gehörten Menschen wie Manuel Rojas, gebürtiger Venezolaner, der nahe Lares eine Finca betrieb, Mariana Bracetti, seine Schwägerin, und Mateo Bruckman, der, geboren in den USA, seit vielen Jahren in Puerto Rico lebte und ein enger Freund von Betances war. Sie alle trieb der ignorante Despotismus des spanischen Kolonialregimes zum Handeln. Die Not der Pächter und Kleinbauern, die hochverschuldet zu Abhängigen der mächtigen spanischen Händler geworden waren, wuchs ins Unerträgliche. Die revolutionären Kräfte waren fest davon überzeugt, daß sich diese genauso wie die Sklaven und die in einer quasi Leibeigenschaft lebende Landbevölkerung ihrem Aufstand anschließen würden.

Die Finca von Rojas diente als Bereitstellungsraum für die bewaffneten Insurgenten, die nach und nach in das Gebiet eingeschleust worden waren. Der Aufstand war eigentlich für den 29. September 1868 geplant, es sickerte aber durch, daß die spanische Kolonialmacht Wind davon bekommen hatte, und so wurde der Aufstand vorverlegt.

Am 23. September 1868 war es soweit: Die Aufständischen, die ein breites Bündnis der Inselbevölkerung dieser Gegend repräsentierten, marschierten zu einigen Hunderten von der Finca aus in Richtung Lares und nahmen die Kleinstadt ein. Sie besetzten wichtige Gebäude und Straßen, konstituierten eine provisorische Regierung und riefen die "Erste Republik von Puerto Rico" aus. Als erste Amtshandlung verkündete die neue Regierung das "Gesetz zur Abschaffung der Sklaverei in Puerto Rico", das die sofortige Freilassung aller Sklavinnen und Sklaven "ohne Entschädigung für deren Eigentümer" verfügte und bis heute zu den erfreulichsten Dokumenten der puertoricanischen Geschichte gehört. Außerdem wurde auch mit sofortiger Wirkung das verhaßte libreta- Zwangsarbeitssystem abgeschafft, zu dem ein regelmäßig von Polizei und Justiz kontrolliertes Arbeitsbuch (libreta) gehörte. Wer nicht arbeitete, wurde eingesperrt.

Am nächsten Morgen machte sich eine Einheit der revolutionären Streitkräfte auf den Weg in das benachbarte San Sebastián, wo sie aber schon von der spanischen Armee erwartet wurden. Der Aufstand kam ins Stocken, und weil es nicht zu den erhofften Erhebung in allen Teilen des Landes kam, schlug das gut vorbereitete spanische Militär mit großer Brutalität zu. In nur 24 Stunden wurde der Aufstand niedergeschlagen und die Hoffnung auf Freiheit mit Militärstiefeln zertreten. Die Zahl der Getöteten unter den Aufständischen und Einwohnern von Lares ist nicht überliefert. Aber es gab Tote, und es wurden zahlreiche Gefangene gemacht, die entweder in die Festung El Morro nach San Juan verbracht oder sofort des Landes verwiesen wurden.

Autonomie von Spaniens Gnaden

Trotz dieser Niederlage ging "El Grito de Lares" als Aufschrei gegen das Kolonialregime in die puertoricanische Geschichte ein. Er gilt als das erste Fanal des Kampfes um die Unabhängigkeit der Insel und hatte Auswirkungen bis ins spanische Herrschaftszentrum des Kolonialregimes. Denn dort hatten die Rückschläge der gesamten Kolonialpolitik von Lateinamerika bis zu den Philippinen und ein auch in Europa virulentes Aufbegehren bürgerlich-revolutionärer Kreise zu einem Machtkampf im spanischen Staat geführt. Unter Führung des Kommandanten von Cádiz, Admiral Juan Topete, fand parallel zum Aufstand in Lares eine Insurrektion von Armee und Marine gegen Königin Isabella II statt, die schließlich überstürzt nach Frankreich flüchtete, ohne freilich abzudanken. Es folgten fünf Jahre der Machtkämpfe und Unruhen, die erst nach 1873 in die Proklamierung der Ersten Spanischen Republik mündeten. Allerdings kehrte das Herrscherhaus der Bourbonen schon bald zurück, und Isabellas Sohn, Alfonso XII., wurde 1875 zum neuen König von Spanien gekrönt.

Während dieser ganzen Zeit und diesen Prozeß verschärfend fand von 1868 bis 1878 der Befreiungskrieg der Kolonie Kuba statt, der mit dem "Grito de Yara" begonnen hatte und das spanische Kolonialregime bis in die pompösen heimatlichen Paläste erschütterte.

Kein Wunder, daß Spanien die Situation in Puerto Rico nach dem Aufstand von Lares nicht nur mit militärischer Unterdrückung, sondern auch mit Reformen zu beruhigen versuchte. Die Aufständischen wurden nach wenigen Monaten amnestiert und ein Verhandlungsprozeß mit kompromißbereiten Kräften eingeleitet, der eine begrenzte Autonomie der Insel gegenüber dem spanischen "Mutterland" zur Folge haben sollte.

Bentances schrieb dazu aus dem Exil: "Die spanische Regierung ist in der Lage gewesen, die meisten zu beruhigen, die mit uns waren, indem sie ihnen unbedeutende Konzessionen gemacht hat. Aber es ist gut, sich daran zu erinnern, daß alle despotischen Regierungen in der Geschichte derselben Politik gefolgt sind, wann immer sie erkannt haben, daß die Menschen bereit sind, ihre Rechte mit Waffen in den Händen einzufordern. Lassen Sie uns nicht vergessen, daß Lares etwas bedeutet im hispano-puertoricanischen Kampf um die Erringung der Freiheit; und ich, der ich Separatist war und bin und der ich als solcher sterben werde, glaube, daß wir ohne eine Revolution und ohne Unabhängigkeit nie etwas anderes sein werden als eine ewige Kolonie Spaniens."(1)

Betances hatte im wesentlichen Punkt seiner Kritik recht, aber er sollte insofern irren, als Puerto Rico keine "ewige Kolonie Spaniens" bleiben sollte. Nur wenige Monate, nachdem die aufstrebende puertoricanische Bourgeoisie ihren von Spanien abgesegneten und frisch gewählten autonom-kolonialen Premierminister Luis Muńoz Rivera in sein Amt gehievt hatte, marschierte die neue Kolonialmacht im Eilschritt ein.

1898: "Für immer" US-Kolonie

Die Erhebungen in den spanischen Kolonien wurden von den USA begrüßt. Und wo sich niemand erhob, wurde nachgeholfen. 1846 hatte die US-Armee Teile von Mexiko annektiert und machte daraus US-Bundesstaaten wie Kalifornien und Texas. Die begehrlich in die Karibik geworfenen Blicke konkretisierte dann 1890 Captain Thayer Mahan von der US-Navy: "Zur Zeit ist die Karibik von fremden Mächten besetzt. ... Wenn die öffentliche Meinung erst davon überzeugt ist, daß wir sie brauchen, dann ist ein entscheidender Schritt nach vorn getan."(2)

Die öffentliche Meinung wurde mit einem passenden "Zwischenfall" bedient: Im April 1898 sank unter mysteriösen Umständen das US-Schlachtschiff "Maine" im Hafen von Havanna nach einer Explosion an Bord. Am 25. April erklärten die USA unter Hinweis auf diesen "Anschlag" Spanien den Krieg. Nur wenige Tage später war die gesamte spanische Flotte in Manila (Philippinen) zerstört, einige Wochen darauf ergaben sich die spanischen Truppen in Kuba. "Mach keinen Frieden, ehe wir Porto Rico kriegen!" schrieb der spätere US- Präsident Theodore Roosevelt vom Kriegsschauplatz nach Hause an den einflußreichen Senator Henry Cabot Lodge. Am 25. Juli 1898 begann die Invasion Puerto Ricos unter Führung des Kommandanten Nelson A. Miles. Schon am 13. August wurde ein Waffenstillstandsabkommen geschlossen. Betances hatte aus dem Exil gewarnt: "Es ist extrem wichtig, daß, wenn die ersten Truppen der Vereinigten Staaten die Küste erreichen, sie von puertoricanischen Truppen empfangen werden, die die Fahne der Unabhängigkeit schwenken und sie begrüßen. ... Wenn Puerto Rico sich nicht schnell rührt, wird es auf ewig eine amerikanische Kolonie sein!"(3)br>
Doch die Bevölkerung schwenkte nicht "die Fahne der Unabhängigkeit". Die verschiedenen Sektoren der Unabhängigkeitsbewegung hatten keine einheitliche Position, viele erwarteten nach den Jahrhunderten der spanischen Despotie eine Wende zum Besseren. Als wäre es eine Antwort auf Betances' Mahnung, erklärte die US-Regierung gegenüber der Presse: "Wir werden Puerto Rico behalten. Das ist entschiedene Sache und war von Anfang an die Absicht. Einmal eingenommen, werden wir es nie mehr loslassen. Es ist für immer in die Hände der Vereinigten Staaten übergeben. Seine Übernahme wird die Vereinigten Staaten für die enormen Kriegskosten entschädigen. Und ist unsere Flagge dort erst einmal gehißt, wird sie auf Dauer über der Insel wehen."(4)

Tatsächlich waren es militärstrategische und ökonomische Interessen, die zur Invasion in Puerto Rico geführt hatten. Denn trotz der ungeheuren wirtschaftlichen Expansion des industriellen Nordens der USA nach dem 1865 beendeten Bürgerkrieg war der Kapitalismus nicht gegen die für ihn typischen Krankheiten gefeit. Die Überproduktionskrisen von 1885 und 1893 führten zu Massenarbeitslosigkeit und furchtbarem Elend. Neue Märkte zum Absatz der Waren und billige Rohstoffe mußten her. Das 1891 mit Spanien geschlossene Abkommen, das den USA eine Vormachtstellung im Handel mit Kuba und Puerto Rico einräumte, löste diese Krise nicht. Also wurde der Krieg erklärt, der gleichzeitig auch Herrschaftsverhältnisse "für immer" sichern sollte. Der Weg bis 2003 war noch weit, aber die Fundamente für das Imperium der Neuen Weltordnung wurden zielstrebig gelegt.

Drehscheibe weltweiter Interventionskräfte

Wir schreiben den 4. März 1954. Der Tag hat für die Abgeordneten im US-Kongreß begonnen wie viele andere. Das Haus ist vollbesetzt, es geht um die Geschäftsordnung. "Mr. Speaker, ich stelle den Antrag..." Plötzlich zerreißen Schüsse die Normalität im Saal. Das Gemurmel verstummt für einen Moment, dann bricht Panik aus, niemand weiß so recht, was passiert, aber "Deckung zuerst!" ist die Parole. Wie auf Befehl springen oder rutschen die Anwesenden, Republikaner wie Demokraten, von ihren Sitzen und suchen Schutz unter den Schreibpulten. Wieder peitschen Schüsse, fünf Abgeordnete werden in ihre aus der Deckung ragenden Hinterteile getroffen. Die hereinstürmenden Sicherheitsbeamten sehen drei Männer und eine Frau oben auf der Besuchertribüne. Unter Rufen wie "Puerto Rico ist immer noch nicht frei!" entrollen sie eine puertoricanische Fahne, und während die Männer mit ihren Waffen die Saalschutzbeamten in Schach halten, verliest Lolita Lebrón eine Erklärung, mit der die vier Independistas die sofortige Unabhängigkeit für Puerto Rico fordern. Gegenüber Pressevertretern erklären sie, es sei ihnen nicht darum gegangen, jemanden zu töten, vielmehr wollten sie die Weltöffentlichkeit aufrütteln und deutlich machen, daß nach über einem halben Jahrhundert Herrschaft der USA auf der Insel sich nichts am kolonialen Status der Insel geändert habe. Dann ergeben sie sich und werden abgeführt.

Sie hatten den Zeitpunkt für ihre Aktion bewußt gewählt: Parallel fand die Inter-American Conference in Caracas statt. Auch an sie sandten die vier ihre Botschaft, das war der Eisenhower-Regierung sofort klar. Neben der Tatsache, daß der Teil der Unabhängigkeitsbewegung, der nicht zu Kompromissen bereit war, die Bühne der Weltöffentlichkeit suchte, beunruhigte die politische Elite in Washington noch etwas anderes. Die vier waren jung, alle Mitte zwanzig, und sie hatten ihre Aktion in New York geplant. Also war die Unabhängigkeitsbewegung nicht mehr länger nur auf der Insel aktiv, sondern mitten in den Zentren waren nun junge Puertorriqueńos bereit, ihre Leben für diesen Kampf einzusetzen.

1950 hatten schon zwei andere Vertreter dieser Generation Washington aufgeschreckt und für weltweite Eilmeldungen gesorgt, als sie in das Blair House eindrangen, ein großes Backsteinhaus schräg gegenüber vom Weißen Haus, in dem Präsident Truman vorübergehend residierte. Oscar Collazo und Griselio Torresola hatten sich entschlossen, die Nachrichtensperre über die dramatische Situation in ihrer Heimat zu durchbrechen. Sie drangen in das Blair House ein und lieferten sich mit den Sicherheitsbeamten des Präsidenten ein Feuergefecht, bei dem ein Beamter und Torresola getötet wurden. Oscar Collazo wurde schwerverletzt verhaftet. Nachdem seine Verhandlungsfähigkeit leidlich wiederhergestellt war, wurde er vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Doch eine internationale Solidaritätskampagne zwang Truman, die Todesstrafe in lebenslange Haft umzuwandeln. Lolita Lebrón und ihre Compańeros Irvin Flores, Rafael Cancel Miranda und Andrés Figueroa Cordero schickte man vier Jahre später für 50 bis 75 Jahre ins Gefängnis.

Fragmente eines Kolonialstatus

Die Kolonialmacht USA hatte sich nach der Eroberung der Insel 1898 fest etabliert. In den ersten beiden Jahren durch Einsetzung eines Militärgouverneurs unter Kriegsrecht, dann nach Erlaß des Foraker Acts im April 1900 durch einen unmittelbar vom US-Präsidenten ernannten und aus den USA stammenden Gouverneur. Im US-Kongreß war Puerto Rico durch einen Resident Commissioner vertreten, der zwar Rederecht hatte, aber kein Stimmrecht.

1901 fand der US-Supreme Court die juristische Konstruktion, die es möglich machte, sich Puerto Rico einzuverleiben, ohne den Einwohnern gleiche politische Rechte wie US-Bürgerinnen und -Bürgern einzuräumen. Die Insel wurde zum "non- incorporated territory" erklärt, "das zu den Vereinigten Staaten gehört, aber kein Teil von ihnen ist". Fortan konnte die US-Regierung Puerto Rico gemäß der US-Verfassung regieren, die Inselbewohner aber von allen in der Verfassung garantierten Rechten ausschließen.

Der Foraker Act hatte die für die US-Interessen wesentlichen Grundlagen geliefert: Der Dollar wurde zur Landeswährung, es wurden das Zollsystem und die Handelsgesetzgebung der USA eingeführt und Englisch zur Landesprache, Spanisch dagegen zur Fremdsprache degradiert, da es "keinen literarischen und nur geringen Wert als intellektuelles Medium" besäße, so der von den USA eingesetzte Erziehungsbeauftragte Victor S. Clark. "Englisch ist die Hauptquelle, praktisch die einzige Quelle demokratischer Ideale für Puerto Rico."(5)

Für die puertoricanische Bevölkerung wurde die fast 400jährige Kolonialherrschaft der spanischen Krone von den neuen Herren aus Washington nur unter anderen Vorzeichen fortgesetzt. Schon mit der Invasion hatte sich über Nacht die Transformation einer halbfeudalen Ökonomie in eine kapitalistische vollzogen. US-Gesellschaften kauften überall Land auf und verwandelten die Insel in eine große Zuckerrohrplantage. Die letzten Reste von Subsistenzwirtschaft wurden zerstört, folglich mußten Lebensmittel teuer aus den USA importiert werden. 1930 lagen 78 Prozent des auf der Insel investierten Kapitals in den Händen der US-Zuckerindustrie, Arbeit gab es aber nur zur Erntesaison, die Löhne waren der reine Spott.

Das Elend verschlimmerte sich, die politische Entrechtung entsprach der sozialen Not, die mit ihr einherging. Und die Haltung der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen gegenüber den Eroberern aus dem Norden blieb ambivalent. Der schmale Sektor des Bürgertums organisierte sich in den aus den USA importierten Parteien. Von den Kräften der Unabhängigkeitsbewegung war es schließlich nur noch die 1923 gegründete Partido Nacionalista, die die bedingungslose Unabhängigkeit forderte. Sie stellte ein breites Bündnis derer dar, die zu keinen Kompromissen mehr bereit waren. Große Teile der Bevölkerung, insbesondere aus der Arbeiterbewegung, die sich in militanten Gewerkschaften organisiert hatte, machten keinen Hehl aus ihrer Nähe zur Partido Nacionalista. Die Nacionalistas erkannten die Kolonialregierung und ihre Institutionen nicht an, betrachteten die Wahlen als Farce, propagierten den Boykott und riefen zur Verweigerung des Wehrdienstes in der US-Armee auf.

1934 setzte Präsident Roosevelt gegen einen landesweiten Generalstreik wieder einen Militärgouverneur ein und ließ den Streik militärisch brechen. Damit war eine Phase brutaler Repression gegen die Unabhängigkeitsbewegung eingeleitet, deren Hauptziel die Partido Nacionalista war. Polizisten und Nationalgarde beschossen ihre Versammlungen, töteten viele Mitglieder und verhafteten 1935 ihre Führung, darunter auch Pedro Albizu Campos und Juan Antonio Corretjer, Herausgeber der Parteizeitung La Palabra (Das Wort) und Puerto Ricos großer Dichter und Schriftsteller. Angeklagt wurden sie wegen "Verschwörung zum Sturz der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika". Eine handverlesene Jury verurteile sie im Schnelldurchgang und so verbrachten sie die nächsten fünf bis zehn Jahre in US-Bundesgefängnissen. Bis 1940 war die gesamte Führung der Partido Nacionalista verhaftet und deren Strukturen systematisch zerstört.

Aufstand gegen Public Law 600

Dieser aus den Gewehrläufen kommenden politischen Macht entsprachen flankierende "Reformen", die die Armen zu einer subventionierten, von den Almosen der Kolonialmacht abhängigen, politisch ohnmächtigen Masse machten. Daran änderte auch die Tatsache nichts, daß ab 1948 der Gouverneur nicht mehr vom US-Präsidenten bestimmt wurde, sondern gewählt werden sollte. Luis Muńoz Marín war der erste Kandidat, der antrat, Puerto Rico zum "Musterland der Karibik" zu machen. Natürlich nicht ohne das US-Kapital. Das ließ den US-Kongreß am 4. Juli 1950 das bis heute gültige Public Law 600 verabschieden, das nicht nur alle in Puerto Rico ansiedelnden Unternehmen von der US-Steuer befreite und im Gegenzug ermöglichte, alle auf der Insel gefertigten Waren zoll- und steuerfrei in die USA einzuführen, sondern auch den Regelkatalog enthielt, der der Insel eine scheinbare Selbstverwaltung von US-Gnaden zuwies.

Parallel zu diesem Prozeß hatte sich die Partido Nacionalista reorganisiert. Auftrieb bekam dieser Neuanfang durch den begeisterten Empfang, der Campos und den anderen politischen Gefangenen bereitet wurde, als sie 1947 nach ihrer Entlassung auf die Insel zurückkehrten. Ein Jahr später folgten 41 Prozent der Wahlberechtigten dem Aufruf der Nacionalistas zum Wahlboykott bei den ersten Gouverneurswahlen.

Die Diskussion um Public Law 600 hatte die Stimmung auf der Insel angeheizt. Gouverneur Muńoz' Politik wurde von großen Teilen der Bevölkerung als "Ausverkauf von Puerto Rico" angegriffen. Selbst El Imperial, die wenig radikale Tageszeitung von San Juan, schrieb am 12. Mai 1950: "Wir wollen keine Zwischenlösungen. Die Verfassung ist nur eine Spielart des Kolonialismus. Das Volk will nicht nur ein bißchen Freiheit, es will die ganze Freiheit."(6)

Am 30. Oktober 1950 kam es zu neuen Aufständen und Revolten, in vielen Städten wurden bewaffnete Aktionen durchgeführt. In Jayuya wurden sogar die Polizei- und Regierungsgebäude eingenommen. Die Aufständischen riefen die "Zweite Republik Puerto Ricos" aus und konnten sich drei Tage halten; dann zwang sie die Übermacht von US-Armee und Nationalgarde zur Aufgabe. Luftangriffe aus Hubschraubern, ganze Straßenzüge durch Bomben zerstört, Panzer in Ponce und Mayaguez, viele Tote und Verletzte, 3000 Gefangene, die Partido Nacionalista erneut zerschlagen. Auch Campos landete wieder im Gefängnis, aus dem er erst 1965 kurz vor seinem Tod schwerkrank entlassen werden sollte.

Jones Act und US-Stützpunkt

Ein Moment der Rechtlosigkeit fällt mit dem Kolonialstatus besonders ins Gewicht: Die Puertoricaner hatten seit 1898 keine bürgerlichen Rechte, aber sie mußten in allen großen Kriegen der USA vom Ersten über den Zweiten Weltkrieg, von Korea bis Vietnam in vorderster Front für die USA kämpfen und sterben. Grundlage dafür war der am 2. März 1917 in Kraft getretene Jones Act, der den Puertorriqueńos kollektiv die US- Staatsbürgerschaft verordnete. Das einzige Recht, das sie damit erwarben, war die Pflicht für alle 21- bis 31jährigen, in der US-Armee zu dienen. Einen Monat nach Verkündung des Jones Act traten die USA in den Ersten Weltkrieg ein, Tausende junge Puertoricaner wurden sofort eingezogen. Im Zweiten Weltkrieg war es nicht anders, und im Juni 1950, als die Lage auf der Insel explosiv war wie seit langem nicht, entschieden die USA sich zur "Polizeiaktion" in Korea. Kurze Zeit später waren Tausende junger Männer auf dem Weg nach Asien, wo die aus Puertoricanern bestehenden Regimenter in verlustreiche Schlachten geschickt wurden.

Doch die Segnungen des Dienstes in der US-Armee waren nur ein Teil des Problems, das die US-Armee den Puertoricanern brachte. Wegen seiner strategisch günstigen Lage war für die USA seit der Einnahme der Insel klar, daß sie zu einem ihrer wichtigsten Stützpunkte werden sollte. 14 Prozent des Territoriums wurden militärisches Sperrgebiet, aufgegliedert in 109 Einrichtungen, wovon die beiden Basen Roosevelt Roads und Fort Buchan die größten sind. In Puerto Rico ist das Südkommando der US-Armee angesiedelt, zu dem die Invasionstruppen für ganz Lateinamerika gehören. Alle Truppenbewegungen in Richtung Afrika machen ihren Weg über die Insel. Auch die Elitetruppen Green Berets und Navy Seals sowie die Geheimdienste sind hier stationiert. Puerto Rico spielte eine Hauptrolle in den Interventionskriegen und Destabilisierungsstrategien, von denen Länder wie Guatemala, El Salvador, Nicaragua, Panama, Vietnam, Grenada, Kuba, Venezuela und viele andere schon betroffen waren. Heute ist Puerto Rico ein zentraler Bestandteil der weltweiten Kriegführung der USA zur Errichtung der Neuen Weltordnung.

Vieques - ˇBasta ya!

Vieques heißt die kleine Schwesterinsel von Puerto Rico. Seit sechzig Jahren ist sie nicht nur von Militär besiedelt, sondern systematisch entvölkert worden, um Platz zu schaffen für Bombenabwürfe aus der Luft und Off-Shore-Beschuß von Kriegsschiffen auf See. NATO-Mitgliedsstaaten konnten die Insel mieten, um mit eigenen Einheiten dort Manöver abzuhalten. Auch die Bundesmarine hat dort regelmäßig den Ernstfall geprobt. Doch die Fischer, die hier seit Generationen gelebt hatten und sich nicht freiwillig vertreiben lassen wollten, leisteten Widerstand und blieben nicht allein. Im Laufe der Jahre wurde Vieques zu einem Focus der Unabhängigkeitsbewegung. 1981 noch versuchten die USA, diese Bewegung mit Gewalt zu stoppen, als sie Angel Rodriguez Cristobal, einen der konsequentesten und beliebtesten Organisatoren des Kampfes um Vieques, zu sechs Monaten Haft verurteilten und ihn in der Abgeschiedenheit einer Isolationszelle im weit entfernten Florida umbrachten.

Aber das half den Generälen nicht: Es hatte mit ein paar Fischern angefangen, aber dann kamen andere dazu, die sich der Tradition von Lares erinnerten, und jene, die die Momente der Freiheit in Jayuya nicht vergessen wollten, die den unbeugsamen Willen von Campos und Corretjer schätzten und den aufrechten Gang der Independistas, als sie mutig die Ruhe im Blair House gestört und ihre Proklamation im US-Kongreß verlesen hatten.

Sie wurden mehr und mehr, Hunderttausende demonstrierten in San Juan. Von der Insel bis in die Großstädte der USA, sie stellten ihre Forderungen im Dekolonialisierungsausschuß der UNO, bei den Aktionen der globalsierungskritischen Bewegung. Auch Lolita Lebrón und Rafael Cancel Miranda, mittlerweile aus der Haft entlassen, waren an ihrer Seite, und die vielen, vielen anderen der neuen Unabhängigkeitsbewegung, die sich seit den 60ern gebildet hat im Kampf um die Freiheit von Oscar Collazo und den vier Independistas, im Kampf gegen Zwangssterilisationen, die Einberufung nach Vietnam und im Kampf für Nicaragua und Kuba und gegen den Mißbrauch ihrer Insel als Drehscheibe der Kriege für eine Neue Weltordnung.

US-Army: Heraus am 1. Mai!

Die Bush-Administration stellte den Rückzug in Aussicht, als sie sah, wie der Widerstand auf Vieques ständig wuchs und militanter wurde und daß auch viele Verhaftungen und hohe Strafen die Besetzer des Bombentestgeländes nicht schrecken konnten. Bis zum Mai 2003, so sicherte die Regierung zu, werde die Army die Bombentests auf Vieques einstellen. Aber als sich dann zu Beginn des Jahres nichts in diese Richtung bewegte, besetzten im Januar 2003 wieder Hunderte das Gelände, bauten Zelte auf und richteten sich auf Dauer ein. Wieder gab es Verhaftungen, Gefängnisstrafen wegen Land- und Hausfriedensbruch und neue Unterstützung und weltweite Aufmerksamkeit. Am 1. Mai dann konnten die Fischer von Vieques und die Unabhängigkeitsbewegung nach 63 Jahren permanenten Beschusses durch die US-Navy und nach jahrzehntelangem Kampf die offizielle Einstellung der militärischen Aktivitäten auf Vieques feiern.

Aber schon knapp zwei Monate später schlug das Imperium zurück, als im Morgengrauen des 25. Juni in Puerto Rico zunächst acht, dann bis zu zwanzig Personen vom FBI festgenommen wurden, die alle zum engeren Kreis des "Komitees zur Rettung und Entwicklung von Vieques" (CRDV) gehören. Unter ihnen auch Nilda Medina, seit zwanzig Jahren Aktivistin auf Vieques. Der Vorwurf lautet auf "Sachbeschädigung", zu der es bei der Feier am 1. Mai auf dem militärischen Gelände gekommen sein soll. Die Festgenommenen halten es für eine Ironie der Geschichte, daß ausgerechnet die, die seit Jahrzehnten für die Zerstörung der Insel verantwortlich sind, ihnen Sachbeschädigung vorwerfen. Aber die Aktion sei auf höchster Ebene angeordnet worden und das FBI habe sich auf den US Patriot Act berufen, mit dem die Befugnisse von Polizei und Gerichten ausgeweitet und der Staatsschutz zur Staatsräson erhoben worden ist.

* Info: www.prolibertadweb.tripod.com und www.freedom- now.de

Fußnoten
  1. Karin Röhrbein, Reinhard Schultz: Puerto Rico. Inselparadies der Wallstreet oder unabhängiger Staat? Geschichte, Kultur, Gegenwart. Berlin 1978, S. 56
  2. EPICA Task Force, Puerto Rico: A People Challenging Colonialism. Washington 1976, S. 10, (übersetzt vom Verfasser)
  3. Röhrbein/Schultz, a.a.O., S. 63
  4. EPICA Task Force, a.a.O., S.14
  5. Röhrbein/Schultz, a.a.O.: S. 69
  6. Ward Churchill, Jim Vander Wall: The COINTELPRO Papers. Documents from the FBI's Secret Wars against Domestic Dissent. Boston 1990, S. 346 (übersetzt vom Verfasser)

Aus: junge Welt, 23. und 24. September 2003


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