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Millionen Portugiesen protestierten

Gewerkschaften vermeldeten größten Generalstreik in der Geschichte des Landes

Von Martin Lejeune, Lissabon *

Portugal erlebte am Mittwoch (24. Nov.) nach Gewerkschaftsangaben den größten Generalstreik seiner Geschichte. 2,5 Millionen der 4 Millionen abhängig Beschäftigten des Landes hielten die Produktion an, um gegen Lohn- und Sozialeinschnitte der sozialistischen Minderheitsregierung und gegen die auf elf Prozent gestiegene Arbeitslosigkeit zu protestieren.

João Proença, Generalsekretär des Gewerkschaftsverbands UGT-P, sagte im Gespräch mit ND: »Dieser Streik ist größer als der bisher größte vor 22 Jahren. Dies alles wegen des neuen Haushaltsplans der Regierung, der ein Schlag in das Gesicht der Bevölkerung ist. Wir lassen uns von der Regierung nicht bestechen, diese sozialen Grausamkeiten mitzutragen. Deshalb streiken wir.«

Den ganzen Tag über lag praktisch der gesamte öffentliche Sektor des Landes lahm, dessen Bedienstete durch Lohnkürzungen zwischen fünf und zehn Prozent am stärksten von dem neuesten Sparpaket betroffen sind. Straßenbahn- und Metrolinien in Lissabon und Porto lagen still, auch Schiffe, Züge und Flugzeuge verkehrten nicht. Schulen, Bürgerämter und Gerichte blieben geschlossen. Alle Häfen des Landes wurden blockiert, die Kräne an den Containerterminals bewegten sich nicht. Die Transportgewerkschaft in Porto berichtete von 80-prozentiger Streikbeteiligung. Jorge Costa von der Busfahrergewerkschaft SNM vermeldete im Rundfunk gar eine Beteiligung von 100 Prozent.

Der Großteil der elf Millionen Portugiesen sympathisierte mit den streikenden Arbeitern. Ebenso wie diese sich mit den 30 000 Studenten solidarisierten, die gegen schlechte Studienbedingungen und die Perspektivlosigkeit nach dem Abschluss demonstrierten.

Im ganzen Land wurde am Mittwoch (24. Nov.) keine Post zugestellt. Ein Sprecher der Postgewerkschaft SNTCT bestätigte gegenüber ND, dass 85 Prozent der Beschäftigten streikten. Marcel, ein Briefträger, beschwerte sich: »Die kürzen uns den Lohn um zehn Prozent. Weihnachtsgeld gibt's dieses Jahr auch nicht mehr. Das alles von heute auf morgen. Was soll ich meiner Frau und den Kindern sagen, wenn ich mit so viel weniger Lohn nach Hause komme und wir uns den Urlaub nicht mehr leisten können?«

Auch in den 400 000 Betrieben des privaten Sektors war die Streikbeteiligung unerwartet hoch. Viele Einzelhandelsgeschäfte blieben zwar geöffnet, aber mit viel weniger Personal als an normalen Tagen. In den Volkswagen-Werken

»Autoeuropa« in Palmela im Süden des Landes wurde die Produktion komplett lahm gelegt. Über 3000 Beschäftige verweigerten die Arbeit. Carvalho da Silva, Generalsekretär des linken Gewerkschaftsverbands CGTP-Intersindical, sagte dem Fernsehsender SIC während einer Liveschaltung aus Palmela: »Dieser Streik ist ein voller Erfolg. Was hier lautstark zu hören ist an aufgebrachten Stimmen, wird der Regierung noch lange im Ohr klingen. Wir lassen uns das Recht zum Streik nicht nehmen. Wir lassen uns überhaupt keine Rechte nehmen. Wir verlangen, dass der Mindestlohn erhöht wird und die Renten nicht eingefroren werden.«

Paula Bernardo, stellvertretende Generalsekretärin der UGT-P, freute sich: »Heute sind die beiden großen Gewerkschaftsverbände des Landes keine Konkurrenten. Uns verbinden die gleiche Sorge um das Wohl der Werktätigen und das gemeinsame Ziel, dieses Sparpaket noch in letzter Sekunde zu stoppen.«

Viele unabhängige Gewerkschaften, Linksalternative und soziale Bewegungen schlossen sich dem Protest mit eigenen Aktionen an. Darunter die »Precários Inflexíveis« (unbeugsame Schwierige), eine Gruppe von prekär Beschäftigten, die mit griffigen Parolen auf Plakaten überall in der Stadt schon vor dem Streiktag von sich reden gemacht hatten. Am Mittwoch versammelten sich einige Hunderte »Precários« auf dem Platz vor einer Drogeriefiliale und informierten Passanten über prekäre Arbeitsbedingungen: In Portugal gibt es eine Million Menschen, die keine festen Arbeitszeiten haben und für weniger als vier Euro die Stunde tätig sind.

Am Abend sollte auf dem Praça da Figueira in Lissabon ein Konzert mit einigen der bekanntesten portugiesischen Sänger stattfinden. Gemeinsam war den Aktionen, dass sie – von kurzen Handgemengen abgesehen – friedlich blieben. »Zu den Waffen, zu den Waffen!«, wie es in Portugals Nationalhymne heißt, war nirgends zu hören.

* Aus: Neues Deutschland, 25. November 2010


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