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Eine Piratin in der Lissaboner Festung

Bundeskanzlerin Merkel suchte das Krisenland Portugal heim

Von Dominic Heilig, Lissabon *

Am gestrigen Montag war Bundeskanzlerin Angela Merkel zu einer Stippvisite nach Lissabon gereist. Nach ihrem Besuch in Griechenland war es ihr zweiter Auftritt in einem von der Krise am härtesten getroffenen Länder der EU. Sie hielt es gerade einmal fünf Stunden in Lissabon aus.

Eigentlich, so erklärte der ehemalige Vorsitzende des portugiesischen Linksblocks, (Bloco de Esquerda), Francisco Louça, sei die Festung »Forte São Julião da Barra« an der Mündung des Tejo vor den Toren Lissabons 1553 zum Schutz vor Piraten errichtet worden. »Nun aber geben wir die Festung freiwillig auf und laden eine Piratin, die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, freiwillig zum Essen dahin ein.« Vor ihr residierte in dem zum Verteidigungsministerium gehörenden Komplex auch schon der inzwischen tote Diktator Muammar al-Gaddafi in einem Zelt im Innenhof des Forts. Damals, beim EU-Afrika-Gipfel 2007, waren die Campingwünsche des exzentrischen Machthabers aus Libyen ein großes organisatorisches Problem.

Das Zelten blieb Merkel gestern erspart. Sie weilte nur kurz zum Mittagessen mit Ministerpräsident Pedro Passos Coelho und Außenminister Paulo Portas in der Festung. Zuvor war sie von Staatspräsident Anibal Cavaco Silva in dessen Residenz empfangen worden, bevor sie mit der mitgereisten Delegation deutscher Wirtschaftsvertreter mit portugiesischen Unternehmern sprechen sollte.

Doch auch die deutsche Politikerin bereitete den Sicherheitskräften Kopfschmerzen. Eine Vielzahl von angekündigten Gegendemonstrationen und Kundgebungen ließ die Sicherheitskräfte entscheiden, vorsorglich beinahe den gesamten Stadtteil Oeiras abzuriegeln und Patrouillenboote der Marine vor der Küste einzusetzen.

Die Sorge schien nicht unbegründet, denn Merkel führt zurzeit die Liste der unbeliebtesten Politiker mit Abstand an. Sie wird von vielen mit den Spardiktaten der sogenannten Troika persönlich assoziiert. Damit haben die Kürzungsmaßnahmen ein Gesicht bekommen, an dem sich Gewerkschaften, soziale Bewegungen und Medien abarbeiten. Da half es auch wenig, dass die Kanzlerin kurz vor ihrer Abreise die Sparanstrengungen der Portugiesen lobte und auf ihre Art Verständnis für die enttäuschten Menschen im portugiesischen Fernsehen äußerte. Merkel sei sich darüber im Klaren, dass von den Portugiesen große Opfer verlangt würden. Das Ergebnis der »schmerzhaften« Veränderungen werde eines Tages positiv sein.

Die Menschen in Portugal sind jedoch mehr als nur enttäuscht. Sie haben schon einmal, nach der Nelkenrevolution 1974, in kürzester Zeit eine Vielzahl von Anstrengungen unternommen, um das Land zu modernisieren und umzustrukturieren. Und das ohne Marshallplan.

Lange Zeit galt Portugal als Musterschüler in der EU. Die Zeiten sind vorbei. Portugal ist in den Augen der internationalen Gläubiger ein Problemkind geworden. Mit der Unterzeichnung des ersten Memorandums 2011 und der Auszahlung von 78 Milliarden Euro hat sich das Land den Sparauflagen aus Kerneuropa unterworfen. Renten und Arbeitslosenhilfe wurden massiv gekürzt, Feier- und Urlaubstage gestrichen, Löhne gesenkt und Steuern erhöht. Folgen sind eine Arbeitslosigkeit, die Ende des Jahres wohl 20 Prozent erreicht haben wird, und ein galoppierendes Staatsdefizit. Für 2012 wird ein Schuldenstand von 119 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwartet.

Die konservative Regierung Portugals hat nun hohe Erwartungen an die deutsche Führung. »Wir setzen auf ein Signal der Hoffnung«, hatte der portugiesische Botschafter in Deutschland, Luís de Almeida Sampaio, vor dem Besuch Merkels gesagt. Sie müsse deutlich machen, dass Portugal Teil der europäischen Familie sei. Sein Land hoffe auf mehr deutsche Direktinvestitionen und mehr portugiesische Exporte nach Deutschland - nicht nur von Textilien, sondern auch von Technologie. Außenminister Paulo Portas forderte aber auch Reformen innerhalb der EU. Es sei nicht sinnvoll, »eine einzige Währung und verschiedene Wirtschaftspolitiken ohne Koordinierung zu haben«. Der Vizepräsident des Industrieverbandes CIP, João Gomes Esteves, klagte, der bilaterale Austausch habe zuletzt »an Vitalität verloren«.

Die Bevölkerung hingegen ist wütend, verzweifelt und geht deshalb erstmals seit den Revolutionstagen wieder vermehrt auf die Straße. Am 15. September strömten eine Million Menschen, immerhin zehn Prozent der Bevölkerung, auf die Straßen. Aufgerufen hatte die Facebook-Gruppe »Que se lixe a troika« (Zum Teufel mit der Troika). Diese hatte auch gestern, gemeinsam mit dem Gewerkschaftsdachverband CGTP und linken Parteien, u.a. der Kommunistischen Partei PCP (»Merkels Besuch ist ein Affront«) und dem Linksblock, zu vielfältigen und bunten Demonstrationen (»Nem Merkel - Nem Troika«, Weder Merkel noch Troika) in Lissabon mobilisiert. Am Nachmittag zogen ein paar Tausend Menschen durch die Stadt nach Belem, wo Merkel bei den Unternehmern auftrat.

In Schulen, Büros und Fabriken trugen viele Menschen aus Protest gegen die Sparpolitik und die zunehmende Armut in Portugal schwarze Kleidung. Auch in Braga, Porto und Lagos gab es Proteste - Orte, die Merkel vermutlich nur vom Namen her kennt. Genauso wenig wie die Menschen, ihre Geschichten und Nöte.

Etwas Positives konnte man dem Merkel-Besuch dann doch noch abgewinnen: Er hat mit Sicherheit dazu beigetragen, dass sich noch mehr Angestellte und Arbeiter am morgigen Generalstreik anlässlich des europaweiten Aktionstages beteiligen werden.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 13. November 2012


Lob von der Chefin

Deutsche Bundeskanzlerin verteilt Streicheleinheiten an Portugals Regierende und bleibt bei Sparauflagen hart. Proteste begleiten Kurzbesuch Angela Merkels in Lissabon

Von Peter Steiniger **


Unter besonders scharfen Sicherheitsvorkehrungen traf Bundeskanzlerin Angela Merkel am Montag zu einer – Zeit ist Geld – fünfstündigen Kurzvisite in der portugiesischen Hauptstadt ein. Ihre Botschaft war klar: Die Portugiesen sollen die Zähne zusammenbeißen und auf eine bessere Zukunft vertrauen. Nach Auffassung der deutschen Regierungschefin sind die »schmerzhaften Veränderungen«, welche das iberische Land mit seinem radikalen Sparprogramm durchmacht, alternativlos. »Es handelt sich um einen langen und harten Prozeß, und ich weiß, daß er viele Opfer fordert«, sagte Merkel in einem Interview mit dem portugiesischen Staatsfernsehen RTP. Der Sender ist selbst von Kürzungen und Privatisierungsplänen betroffen. Dort machte Merkel zur Einstimmung auf ihren Besuch am Montag in Lissabon auch klar, daß eine Neuverhandlung der Auflagen der sogenannten Troika aus EU, EZB und IWF aus ihrer Sicht nicht in Betracht kommt.

In dem Abkommen hat sich Portugal im Gegenzug für eine Finanzspritze von 78 Milliarden Euro auf einen harten Sparkurs zur Eindämmung des Haushaltsdefizits verpflichtet. Steuern und Preise wurden erhöht, Löhne, Pensionen und Sozialleistungen drastisch beschnitten. Merkel lobte den »Mut«, mit dem die Mitte-rechts-Regierung von Pedro Passos Coelho den Vorgaben der Troika folgt. Zwar sähen die Menschen noch keine positiven Ergebnisse dieser Politik, doch »mit mehr Zeit« würden sich diese gewiß einstellen. Gleichzeitig äußerte die Kanzlerin Verständnis für Unzufriedenheit und Protest. Unter Verweis auf die DDR-Zeit hob sie die Bedeutung des Rechts auf friedliche Versammlungen in einer demokratischen Gesellschaft hervor.

In Portugal kam es in den letzten Monaten immer wieder zu Streiks und Massenprotesten, die sich gegen die Teuerung des Lebens und die Unterordnung des Landes unter die Troika richteten. Für die portugiesische Öffentlichkeit personifiziert besonders Merkel die Fremdbestimmung von Politik und Wirtschaft. In einem offenen Brief von hundert Intellektuellen, der Tausende Unterstützer fand, wurde die Bundeskanzlerin als »nicht willkommen« in Portugal und »Hauptförderin der neoliberalen Doktrin, die Europa ruiniert«, bezeichnet.

Im von dichten Polizeiketten abgeriegelten Amtssitz traf Merkel zunächst mit Präsident Anibal Cavaco Silva und anschließend zu Gesprächen mit dem Ministerpräsidenten, Pedro Passos Coelho, zusammen. Im Schlepptau von Merkel reist eine Wirtschaftsdelegation, um an einem deutsch-portugiesischen Unternehmertreffen teilzunehmen, auf dem die Kanzlerin am Montag nachmittag eine Rede hielt.

Der Aufenthalt der von vielen Portugiesen unerwünschten Besucherin war von Protesten begleitet. Vor dem Präsidentenpalast skandierten Demonstranten »Merkel raus!«, eine Demonstration zur Verteidigung der nationalen Souveränität führte durch die Lissaboner Innenstadt. Als Zeichen gegen die unsoziale Sparpolitik hatten Aktivisten dort zahlreiche Denkmäler mit schwarzen Bändern verhüllt. Die oppositionellen Kommunisten (PCP) präsentierten am Montag einen Gegenentwurf zum Haushalt für das Jahr 2013 auf den Feldern soziale Sicherheit und öffentliche Verwaltung. Insbesondere fordern sie eine Zulage auf die Mindestrenten, um der um sich greifenden Verarmung von Menschen zu begegnen.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 13. November 2012


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