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Ukrainisches Fieber an der Weichsel

Die einen schüren antirussische Emotionen, andere mahnen zur Zurückhaltung

Von Julian Bartosz, Wroclaw *

Polens Politiker hatten in den vergangenen Jahren die Rolle von Paten einer ukrainischen Annäherung an die EU übernommen. Welche Schlüsse ziehen sie aus der Zuspitzung der Lage beim Nachbarn?

Genau zum 15. Jahrestag der NATO-Zugehörigkeit Polens sollen am Mittwoch zwölf Kampfjets aus den USA die mit 48 Maschinen des Typs F-16 ausgestattete polnische Luftwaffe verstärken. Überdies wird eine vom Militärbündnis entsandte AWACS-Maschine im polnischen Luftraum patrouillieren.

Können sich Polens Bürger also in Sicherheit wähnen? Sind solche Nachrichten imstande, die seit vielen Wochen in der hiesigen Luft hängende Mischung von Euphorie und Hysterie aufzulösen, die sowohl die offizielle Politik als auch die bürgerlichen Medien beherrscht?

Danach sieht es derzeit nicht aus. Die Maidan-Reporter aller Fernsehstationen sehen sich nämlich, jetzt etwas weiter südöstlich, als Berichterstatter an der Krimfront. Und im bevorstehenden Referendum auf der Halbinsel droht eine Mehrheit zugunsten des Beitritts zu Russland.

Da mutet manches, was in der polnischen Politik derzeit geschieht, etwas bizarr an. Beispielsweise schlug ein Sprecher der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) vor, seinen Parteichef Jaroslaw Kaczynski zum Chef einer Regierung der »Nationalen Einheit« zu berufen. Das erinnert an die Lage im Jahr 1920, als die »Horden« des sowjetischen Heerführers Michail Tuchatschewski vor den Toren Warschaus standen und unter einer »Einheitsregierung« abgewehrt wurden, an deren Spitze der Bauernführer Wincenty Witos stand.

Besagter Jarosław Kaczynski hielt die Lage für so ernst, dass er erstmals eine Einladung zum »nationalen Gespräch« mit Staatspräsident Bronislaw Komorowski und Premier Donald Tusk annahm. Das Staatsoberhaupt selbst und der Regierungschef wirkten indes beruhigend: Eine Gefahr für Polen drohe nicht, wohl aber sei die Stabilität der europäischen Ordnung durch Wladimir Putins Aggressionsgelüste gefährdet.

Boulevardblätter wie »Fakt« stellten dennoch die besorgte Frage, ob Polen womöglich Putins nächstes Ziel sein könnte. Darüber machte sich das satirische Wochenblatt »NIE« lustig: Die Redaktion habe sich bereits darauf vorbereitet und einen großen Topf, Graupen, einen Spaten und sogar Gasmasken erstanden. Immerhin schrieb auch der sonst besonnene Chefredakteur der seriösen »Polityka«, Jerzy Baczynski, in einem Kommentar unter dem Titel »Wir alle sind Ukrainer« über den »Beginn eines gemeinsamen Weges«.

Der ehemalige Staatspräsident Aleksander Kwasniewski, der sich vorher so intensiv für die Freilassung der kranken Julia Timoschenko eingesetzt hatte, sagte am Montag in einer Talkshow bei TVP, Putin gehe es gar nicht um die Krim, sondern um die ganze Ukraine. Indem er das Nachbarland von der EU fernhalten wolle, strebe er dessen »fiktive Neutralität« an. Dazu hieß es in der Wochenschrift »Przeglad«, das ukrainische Fieber bezeuge den westlichen Kurs, die antirussischen Emotionen des Maidan zu schüren. Man müsse sich aber auch in die Lage der russischen Krimbewohner versetzen. Im Übrigen werde den US-Amerikanern weltweit alles gestattet, was sie wollen.

Jan Widacki, Kolumnist des gleichen linken Wochenmagazins, stellte seinen Text unter die Frage »Sterben für Sewastopol?« und schrieb: »Das Ringen Polens mit Russland um die Ukraine endete in den letzten 300 Jahren immer gleich – für uns mit einer Tragödie, für die Ukraine mit einer Teilung. Wollen wir jetzt die Europäische Union an die Stelle Polens setzen? Das Finale wird genau dasselbe sein. Geht es uns darum?«

Eine vernünftige Stimme war selbst aus dem rechtskatholischen »Nasz Dziennik« zu vernehmen: »Die Welt wird nicht gegen Russland in den Krieg ziehen.«

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 12. März 2014

"Europe and the problem of force"

Wojciech Przybylski, Chefredakteur des polnischen Magazins Res Publica Nowa, hält es fuer einen Fehler, dass die EU die Anwendung von Gewalt zur Lösung der Krise auf der Krim ausgeschlossen habe. Przybylski meint, dass Europa zu einem Spielball anderer Mächte werden koennte, sollte es weiterhin darauf verzichten, seine Werte und Interessen auch mit Hilfe von Gewalt durchzusetzen. In seinem Artikel bezieht sich Prsybylski vor allem auf Robert Kagan und Robert Cooper.
Auszüge aus dem Artikel:
It is a bitter pill to swallow, to think that even as a continent we are small fry in political terms. That said, there is in modern political thought no resolute answer as to how violence should be placed at the heart of power and as to how it may be harnessed. This is why the leaders on our continent compensate for the sense of their own weakness by developing diplomatic instruments that they characterize as European 'soft power'. (...)

If we are not convinced that strength – including physical force – creates political power (and the countries of Europe do after all aspire to the possession of that power) then we will become a museum piece that is moved from corner to corner by rising powers who will not necessarily look favourably on our model of civilization.(...)

The fate of democracy and the European model of society are dependent on whether we will be able to rise up and take advantage of force to create order in the name of liberal values. Violence and dictatorship are written into every level of state institutions anyway, no matter how democratic they are. We do not have to use them. If, however, we rule out the use of force then we are clearing the way for others who will not hesitate in the use of uncontrolled, unlimited force."

(Eurozine vom 10.03.2014; http://www.eurozine.com/articles/2014-03-10-przybylski-en.html)




Leitzentrale in der Luft

NATO verstärkt militärische Aktivitäten in der Region

Von Olaf Standke **


Nach Kriegsschiffen und Kampfjets aus den USA schickt die NATO nun auch Aufklärungsflugzeuge an die Grenzen der Ukraine.

Airborne Early Warning and Control System, kurz AWACS – das ist eine fliegende Radarstation zur Luftraumaufklärung und -überwachung, die aus einer Höhe von gut 10 000 Metern einen Umkreis von bis zu 400 Kilometern erfassen und im Unterschied zu Tornado-Aufklärungsflugzeugen auch digitale Bilder in Echtzeit übertragen kann. 17 Einsatzflugzeuge des Typs Boeing E-3 mit der charakteristischen pilzförmigen Radarhaube auf dem Rumpf hat die NATO, stationiert auf dem Flugplatz Geilenkirchen bei Aachen. Die Soldaten kommen aus 16 Mitgliedstaaten der Allianz; ein Drittel der Besatzungsmitglieder sind Angehörige der Bundeswehr. Nun sollen sie über Polen und Rumänien kreisen, um »die Krise in der Ukraine zu beobachten« und die Bewertung ihrer Folgen für die Sicherheit der Allianz zu intensivieren, wie es in Brüssel heißt. Allerdings können die Flugzeuge auch als Einsatzleitzentrale dienen, um eigene Verbände direkt zu dirigieren und zu koordinieren.

Wie US-Generalstabschef Martin Dempsey erklärte, werde das Pentagon die NATO im Falle einer weiteren Eskalation der Ukraine-Krise unterstützen, was den Schutz der Verbündeten einschließe. Zusätzliche F-15- bzw. F-16-Kampfjets wurden bereits nach Litauen und Polen entsandt. Für die erweiterten Patrouillenflüge über dem Baltikum soll zudem ein KC-135-Tankflugzeug hinzustoßen. Zugleich begannen die USA, Rumänien und Bulgarien am Dienstag mit einem – länger geplanten – Manöver im Schwarzen Meer. Die US-Marine hat dafür ihren Zerstörer »USS Truxtun« vom griechischen Stützpunkt Souda Bay in die Region beordert. Die »Truxtun« ist mit modernsten Marschflugkörpern ausgestattet und hat eine 300 Mann starke Besatzung. Nach der Konvention von Montreux von 1936 dürfen sich Kriegsschiffe von Nicht-Anrainerstaaten aber nur 21 Tage im Schwarzen Meer aufhalten. Auch ein ukrainisches sowie zwei Kriegsschiffe der russischen Schwarzmeerflotte haben zuletzt den Bosporus durchfahren.

Die USA sind in der Region u.a. mit ihrer im Mittelmeer stationierten Sechsten Flotte vertreten. Ihr Hauptquartier befindet sich auf der »USS Mount Whitney« (Heimathafen Gaeta, Italien), einem amphibischen Kommandoschiff der Blue-Ridge-Klasse, das Landungsoperationen nicht nur vorbereitet und führt, sondern auch selbst durchführen kann. Ingesamt besteht die Flotte aus etwa 40 Kriegsschiffen, 175 Flugzeugen und 21 000 Mann in Kampf- und Unterstützungseinheiten. Sie ist Teil des United States European Command (EUCOM), eines von sechs Oberkommandos der US-amerikanischen Streitkräfte mit Sitz in Stuttgart-Vaihingen, dem über 60 000 Soldaten unterstehen.

US-Basen befinden sich seit 2005/2006 auch in den früheren Warschauer-Vertragsstaaten Bulgarien und Rumänien. Die NATO unterhält im südtürkischen Incirlik zudem einen Stützpunkt, der vor allem von der US Air Force als Drehkreuz genutzt wird. Hier sollen im Rahmen der Nuklearen Teilhabe der Allianz auch bis zu 90 Atombomben vom Typ B61 lagern.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 12. März 2014


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