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Vetternwirtschaft in Polens Koalition

Wieder eine Abhöraffäre aufgeflogen

Von Julian Bartosz, Wroclaw *

In Polen fragt man sich inzwischen, ob die regierende Koalition aus Bürgerplattform (PO) und Bauernpartei (PSL) ihre zweite Legislaturperiode übersteht.

Die Frage wurde aktuell, als vorige Woche mit der Veröffentlichung eines Textes in »Puls biznesu« wieder eine Abhöraffäre aufgeflogen war. Offenbart wurde eine ausgedehnte Vetternwirtschaft bei den »Bauern«. Ein in Bild und Ton heimlich aufgenommenes Gespräch zwischen zwei im landwirtschaftlichen Bereich aktiven Bossen zeigte, wie es in diesem Milieu zugeht.

Landwirtschaftsminister Marek Sawicki war daraufhin bereit, den Hut zu nehmen, womit Regierungschef Donald Tusk einverstanden war. Sawickis Vorgänger Andrzej Smietanko, zuletzt Chef einer Getreidehandelsfirma, die zu 100 Prozent der staatlichen Agentur ARR gehört, musste auf seinen Posten und fast eine Million Zloty (240 000 Euro) Jahreseinkommen verzichten. Jan Bury, Vizeminister im Schatzministerium, gab ebenfalls sein Amt auf. Den Vorschlag des PSL-Vorsitzenden und Vizepremiers Waldemar Pawlak, für das Landwirtschaftsressort einen neuen Kollegen aus seiner Partei zu benennen, ließ Tusk unbeachtet. Er will die Geschäfte dieses Ministeriums nun persönlich beaufsichtigen.

Es sei nur die Spitze des Eisbergs, hieß es in »Rzeczpospolita« und oppositionellen Boulevardblättern, die weitere Beispiele für den PSL-Parteiklüngel aufführten. »Rzeczpospolita« nahm aber auch die PO unter die Lupe. In allen 19 staatlichen Gesellschaften, die eine Schlüsselrolle für Polens Wirtschaft spielen, werden die hoch dotierten Posten in Vorständen und Aufsichtsräten meistens von Vertretern der Regierungspartei besetzt. Das aufregendste Beispiel: Der Schatzminister im ersten Tusk-Kabinett übernahm kürzlich den Vorsitz im staatlichen Energiekonzern PGE mit einem Monatsgehalt von 110 000 Zloty (26 000 Euro). So werde der Staat gemolken, und zwar von Familienmitgliedern, Freunden, Bekannten …

Das Zentrale Antikorruptionsbüro (CBA) und die Oberste Kontrollkammer (NIK) klagen schon lange über »unethische« Praktiken in verschiedenen Ressorts. Die Berichte lagen dem Premier vor. Jetzt sagte Tusk, er könne doch nicht alles lesen. Aber damit wird sich weder die Opposition noch die Öffentlichkeit abfinden lassen. Der rechtsnationalistische Oppositionschef Jaroslaw Kaczynski kritisierte, in Polen herrsche eine Oligarchie. Dennoch wird er wohl diese Woche mit einem Misstrauensvotum gegen die Regierung im Sejm nicht durchkommen. Vizepremier Pawlak will die für ihn peinliche Lage aussitzen, Tusk hat ein Grundinteresse, die Koalition nicht platzen zu lassen.

Die »Gazeta Wyborcza« erinnerte an vergangene Abhöraffären und schrieb, solches Tun beschädige das öffentliche Leben. Allerdings müsse man wissen, dass neun verschiedene »Dienste« es tausendfach legal betreiben - und illegal noch häufiger.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 24. Juli 2012


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